Weihnachten 1989

In dieser Vorweihnachtszeit 2020, die sich auch anders als gewohnt anfühlt, möchte ich euch einen Auszug aus meinem Roman „Mensch, Manu!“ vorstellen. Ein Kapitel in Erinnerung an das verrückte Jahr 1989 und das erste und einzige Weihnachten, das wir Ostdeutschen in einem merkwürdigen Zwischenstadium erlebten: mit offener Grenze, mit ersten Westgeschenken auf dem Gabentisch, aber vor allem mit diesem unsicheren Gefühl, was denn nun aus uns, aus unserem Land werden würde, wenn der Rausch des Mauerfalls vorbei wäre. Um den Ausgang der Romangeschichte nicht vorwegzunehmen ‒ es könnte ja sein, ihr bekommt Lust auf das ganze Buch ‒ habe ich spoiler-verdächtige Passagen herausgekürzt.

Auszug aus: „Mensch, Manu! So war das nicht geplant“:

Nun war es ja nicht so, dass Vati sich überhaupt nicht für die andere Seite interessierte. Nachdem es in den ersten Tagen nach der Grenzöffnung so aussah, als ob das freie Reisen Militärangehörigen nicht erlaubt wäre, war das Reiseverbot kurz danach auch für seine Abteilung aufgehoben worden. Dass wir trotzdem zunächst allein fuhren, lag an den organisatorischen Möglichkeiten. Vati konnte sich vieles erlauben, aber nicht, seinen Dienst schon nach dem Mittagessen zu quittieren, nur um mal kurz nach Westberlin zu fahren. Mutti war nach unserer ersten Stippvisite mutig geworden und drängte darauf, noch vor Weihnachten den Ku’damm zu besichtigen. Das klang nach was. Westberlin? Pah! Aber Ku’damm … das war ein Symbol. Das gehörte zur kulturellen Bildung. So musste es sich auch Vati zurechtargumentiert haben, als er einwilligte, uns am Freitag, dem 22. Dezember, abends nach Dienstschluss zu begleiten. Während die anderen sich am Brandenburger Tor drängten, das an diesem Tag als Grenzübergang geöffnet worden war (für die Presse ganz groß inszeniert), spazierten wir an der Oberbaumbrücke gemütlich auf die andere Seite und fuhren ab der Haltestelle Schlesisches Tor mit der U1 durch Kreuzberg. Auch wenn es Untergrundbahn hieß, fuhr man lange Strecken über der Erde, was für unsere Stadtbesichtigungsabsichten von Vorteil war. Als Vati die ersten beschmierten Häuserwände sah, sagte er, laut hörbar für die anderen Fahrgäste:

„Den goldenen Westen habe ich mir aber anders vorgestellt.“

Mutti stieß ihn in die Seite.

„Nun sei bitte still, die Leute gucken schon“, zischelte sie dazu.

„Sollen sie ruhig, man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen“, antwortete Vati, nicht mehr ganz so laut.

Ich war bei meinem zweiten Westberlinbesuch schon um einiges entspannter. Die Leute guckten? Na und! Ich guckte einfach zurück. Als wir schließlich den Ku’damm entlangliefen, blieb uns dreien der Mund offenstehen. So viele Lichter, das war schön. So viel Lärm und Menschen, das war beängstigend. Wir liefen mit der Menge mit, ich hielt Vatis Hand. Mutti hielt ihre Handtasche fest unter den Arm geklemmt.

„Schaut mal, da bei der Kirche ist Weihnachtsmarkt, wollen wir einen Glühwein trinken?“, schlug ich vor.

„Den kriegste auch bei uns, mal sehen, ob es was anderes gibt!“, stimmte Vati sofort zu.

Mit konkreten Plänen konnte man ihn überzeugen, sich treiben lassen war nicht sein Ding. Jetzt hatte er eine Aufgabe: uns ein möglichst exotisches Westgetränk zu besorgen. Mutti wagte sich vor und provozierte ihn ein bisschen:

„Willst du jetzt endlich mit uns anstoßen, auf das alles hier?“

„Anstoßen? Das ist nur mit Alkohol zu ertragen“, frotzelte Vati und ich versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Hatte er sich abgefunden? Fand er es jetzt auch spannend? Oder meinte er immer noch, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen zwischen Sozialismus und Kapitalismus? Wenn es nach dem Warenangebot ging und dem Prunk, dann war klar, wer das Rennen gewann. Und wenn es darauf am Ende ankam, dann war auch klar, wem die Zukunft gehörte.

Wir begnügten uns doch mit einem einfachen Glühwein, der war süß und dünn. Aber er kostete am wenigsten, und schließlich war Weihnachten. Ich brachte unsere leeren Tassen zum Stand zurück, um das Pfandgeld abzuholen. Als der Typ hinter dem Tresen mich angrinste und fragte: „War das alles?“, versagte mir die Stimme. Sven! Für eine Millisekunde hatte ich Sven in ihm gesehen. Ich starrte den Nichtsahnenden an wie die Kuh den Zug, wenn es donnert. Ich musste schlucken. Statt zu antworten, schüttelte ich nur mit dem Kopf. Svens Doppelgänger schüttelte ebenfalls mit dem Kopf, wahrscheinlich dachte er, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank, aber für die war er selbst zuständig. Er schob mir das Pfandgeld hin und widmete sich den Wartenden, die schon drängelten und mit den Fingern schnipsten.

„Mäuschen, du guckst ja so komisch“, stellte Mutti besorgt fest, als ich zu ihnen zurückkam.

„Ach nichts, nur eine Einbildung“, antwortete ich.

Als wir spät in der Nacht wieder in unserer S-Bahn nach Strausberg Nord saßen, starrte ich eine knappe Stunde lang auf die erste Seite des Buches, das ich lesen wollte. War das alles? Die Frage des Glühweinverkäufers hämmerte mir im Kopf herum und ließ keinen Platz für neue Gedanken. Auch nicht, wenn ich sie fix und fertig aufgeschrieben und zum Lesen serviert bekam.

Über die Feiertage kamen Beate, Gerd und die Kinder zu uns nach Strausberg. Eigentlich wären sie dran gewesen, das Fest bei sich in Zwickau auszurichten, aber von uns aus fuhr es sich so schön nach Westberlin. Mutti begründete den Planungswechsel aber lieber damit, dass Beate weniger Arbeit hätte, wenn Mutti kochte und alles. Schließlich hatte Beates Bauchumfang schon beachtliche Ausmaβe angenommen. Ungeachtet dessen waren sie Anfang Dezember im Trabi bis nach Bayern gefahren, weil es da noch fünfzig Mark mehr gab pro DDR-Bürger. Wer sich schon woanders seine einhundert Mark geholt hatte, bekam die fünfzig Mark in Bayern noch obendrauf. Von dem vielen Geld konnten sie sich auch Weihnachtsgeschenke leisten, und meine Schwester hatte sogar an mich gedacht: Ich durfte einen super schicken weißen Walkman auspacken. So ein Mini-Kassettengerät für die Tasche. Da war ich baff, dass sie sogar ihr Westgeld für mich ausgab. Ich hatte für sie gar nichts, dafür aber für das Baby in ihrem Bauch. Als es bei uns im Kindergeschäft Anfang Oktober hübsche Strampler gab, hatte ich mich nicht beherrschen können. Und mit Hellgrün war ich auf Nummer sicher gegangen, ob es nun ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Die Verkäuferin hatte mich skeptisch gemustert und ich sie gerne im Unklaren gelassen. Beate jedenfalls freute sich riesig. Und sie erzählte mir gleich noch eine besondere Geschichte, Geschenke betreffend. Die Sache mit den Bayern und dass es da mehr Begrüβungsgeld gab, hatte Beate von einer Studienfreundin erfahren, die jetzt in Dresden wohnte. Diese Freundin hatte bei ihrer ersten Reise in den Westen eine Schallplatte vom Kreuzchor mitgenommen und sie der Schalterdame in der Begrüβungsgeldstelle geschenkt. Selbige hatte nicht schlecht gestaunt und, so wurde berichtet, sich wirklich gefreut. Es gab auch Geschenke von Ost nach West. Als Trost dafür, dass wir DDR-Bürger den Westlern vor Weihnachten die Läden leergekauft hatten, wie sie immer wieder im Fernsehen zeigten. Die Armen. Wir hofften jedenfalls, auch drüben würden sie zum Fest an einem reich gedeckten Gabentisch sitzen, und tranken den dritten Glühwein. Beate heißen Apfeltee.

Hier erfahrt ihr mehr zum Roman: „Mensch, Manu! So war das nicht geplant

In der Galerie drei Zeitungsausschnitte aus dem Dezember 1989, die ich zufällig aufbewahrt habe und die authentisch widerspiegeln, welchen Umbruch wir damals erlebten:

PS: Der Soundtrack zum Weihnachtsfest 1989 war für mich übrigens „Another Day in Paradise!“ von Phil Collins. Ein großartiger und zeitloser Song, den wir auch jetzt und immer wieder hören sollten, wenn wir grad meinen, es würde uns verdammt schlecht gehen.

Foto: Berliner Mauer, Brandenburger Tor, 22. Dezember 1989. Imago Images/ Sven Simon

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

23 Kommentare zu „Weihnachten 1989

      1. Genau. Und ich gehörte zu denen, von denen man sagte, sie hätten das große Ereignis verpennt. Ich war nämlich am 9. November nicht auf der Straße, um auf Trabi-Dächer zu klopfen, sondern saß vor dem Fernseher und war besorgt. Am Samstag darauf habe ich dann mit anderen Leute aus unser Gemeinde kostenlosen Tee und Kaffee (für die Kinder Kakao) an diejenigen ausgeschenkt, die vor der Sparkassen-Filiale in der Lichtenrader Bahnhofstraße für ihr Begrüßungsgeld anstanden. Und als ich abgelöst wurde (es war schweinekalt), bin ich zu Woolworth, weil ich irgend etwas kaufen musste. Das Kaufhaus war rappelvoll. Und nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen hatten Augen wie Kinder unter dem Weihnachtsbaum. Das hat mich sehr berührt. Aber es war eben nicht einfach Rührung. Es war auch dieses Gefühl: „Euch werden die Augen noch wirklich aufgehen.“ – Eine sehr bewegte und sehr bewegende Zeit.

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      2. Das ist ja spannend! Ich finde, es gibt noch viele Geschichten und Eindrücke von damals zu erzählen, aus so verschiedenen Perspektiven. Ich habe diese Nacht vom 9. November tatsächlich ahnungslos gepennt, und danach lange abgewartet. Wir sind uns also nicht begegnet an diesem Samstag im Kaufhaus. Ich glaube es war Anfang/Mitte Dezember, als ich das erste Mal in Westberlin war. Zum Glück sind nicht alle sofort los, das hättet ihr nicht überlebt 😉
        Die Geschichte des Romans ist autobiografisch inspiriert, aber schon Fiktion. Was ich versucht habe, authentisch zu vermitteln, ist das Gefühl, unsere Sichtweise von damals, ohne Bewertung aus heutiger Perspektive. Das war auch für mich ein sehr spannender Prozess, mich zum Schreiben nochmal zurückzuversetzen. Bin sehr gespannt, wie es für dich rüberkommt.

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      3. Update: „Wir haben Ihre Bestellung aber im Blick und sorgen dafür, dass Ihr Buchpaket so schnell wie möglich bei Ihnen ankommt“, schrieb mir gestern (2. Weihnachtsfeiertag!) der BoD-Kundenservice. Dies nur, damit Du weißt, dass auch ich es nicht vergessen habe. 😉

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      4. Ich wette, die arbeiten im Homeoffice. Nur on demand gedruckt werden muss natürlich vor Ort, und da hängt es vielleicht ein bisschen. – Ich fasse mich in Geduld und freue mich drauf.

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      5. Liebe Anke, heute ist das Buch endlich angekommen. Ich bin sehr gespannt, und, es beseht nun die Aussicht, dass ich mich demnächst dazu äußere. – Dies nur, um Dich wissen zu lassen, dass es nicht schon seit zwei Wochen ungelesen bei mir herumliegt. Liebe Grüße.

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      6. Ach so, ich dachte schon, du wärst vielleicht nur immer schon nach einer Seite eingeschlafen 😉
        Danke, liebe Christa, für den Zwischenstand. Vielleicht drucken sie derzeit im Homeoffice 🤔😉

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      7. Liebe Anke, das mit dem Einschlafen ist derzeit wirklich ein Problem, aber das liegt nicht an der Lektüre, sondern am Wetter und den auch sonst nicht eben anregenden Umständen. Ich gebe zu, dass die Gefühlswelt einer noch nicht Siebzehnjährigen nicht mehr so ganz mein Thema ist, aber der Blick über die schon lange nicht mehr vorhandene Mauer ist für mich auch da interessant, wo eigentlich – auch zum Leidwesen Deiner Protagonistin – fast nichts passiert. 😉

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    1. The truth has many faces, each of us has experienced their own story. It is worth telling us these stories so that the puzzle fills in. It will never be complete …
      Buon anno a te!

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