Ein Rohrkrepierer

Dass mit diesem neuen Jahr etwas nicht stimmen konnte, ahnte ich bereits in seiner allerersten Stunde. Wir waren mit Freunden in Bologna. Wer hier schon länger mitliest, der weiß, dass die Hauptstadt der Region Emilia-Romagna für mich eine der faszinierendsten Städte Italiens ist, mit ihrer einzigartigen Symbiose von jugendlicher Lebenslust und historischem Flair. Auch in Bologna wurde der Jahreswechsel 2019/20 wie üblich mit großem Tamtam auf dem zentralen Platz, der so treffend schön Piazza Maggiore heißt, gefeiert. Aber ohne uns. Wir hockten in einem Kellerlokal ohne Musik und ohne Dekoration, um in den spektakulären Stunden zwischen einundzwanzig Uhr des alten Jahres und ein Uhr des neuen Jahres an einem mit blassgelbem Tischtuch bedeckten Tisch zu sitzen und ein klassisches italienisches Mehrgänge-Menü einzunehmen. Das große Abendessen, il cenone. Mit Betonung auf dem extra langgezogenen „o“. Während wir nicht einmal einen Knaller hörten, geschweige denn ein Feuerwerk sahen, während die Welt draußen feierte, im guten Glauben, dass dieses Jahr 2020 ein grandioses werden würde, kämpfte ich gegen die Enttäuschung und mit dem vielen Essen. Das obligatorische Anstoßen um Mitternacht konnte nicht stattfinden, da man mit dem endlosen Speisen Servieren noch nicht fertig war und es deshalb nicht geschafft hatte, uns eine Flasche Spumante zu bringen. Den letzten Funken Sinn verlor diese nicht gefeierte Silvesterparty, als ich kurz vor Mitternacht sah, in welch grausigem Zustand sich die einzige Toilette des Lokals befand. Hatte sich ein Gast übergeben, plötzlich Diarrhö bekommen, oder beides? So genau hatte ich mir das nicht ansehen wollen, sondern fluchtartig den Ort des Grauens verlassen. Ich selbst konnte mir den Toilettengang sicher noch eine Stunde lang verkneifen, aber die Kinder hatten so viel Limonata getrunken … Bloß weg hier, war mein Gedanke, so schnell wie möglich zurück ins Hotel. Und geschissen auf Silvester, das ohnehin gelaufen war.

Natürlich gehen meine Selbstzweifel nun nicht so weit, dass ich mir die Schuld gebe an all dem, was in den darauffolgenden Monaten geschah. Aber ich habe diesen verpatzten Auftakt oft reflektiert, gern würde ich die Zeit zurückdrehen. Nicht, weil ich denke, es käme alles anders, wenn unsere Feier anders verlaufen wäre. Nein. Es ist das Bewusstsein, dass mir meine eigene Einstellung so oft dabei im Weg steht, gute Momente mit Freunden und Familie zu verleben. Wobei es doch gerade nur auf diese ankommt, und jede Situation, die man aus Trotz sich selbst und den anderen vermiest, nichts bringt als einen schlechten Nachgeschmack.

Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Man kann nur den Moment leben, so gut es geht.

Was 2021 sein wird, auf der Welt, in der eigenen Familie, wer weiß. Was ich weiß, ist, dass wir heute gesund sind, es uns verdammt gut geht im Vergleich zu vielen anderen, dass wir etwas tun können, um zu helfen (mit verantwortungsvollem Verhalten, und wenn es uns möglich ist, mit Spenden), und dass wir unser Zusammensein, ob nun vor Ort oder in Gedanken, genießen dürfen. Dass es ein Geschenk ist, hier zu sein, gute und weniger gute und auch solche verdammt beschissenen Jahre miteinander erleben zu dürfen. Mit den neuen Erkenntnissen, was wichtig und was verzichtbar ist im Leben, kann 2021 nur ein grandioses Jahr werden.

Und das mit dem richtig Feiern, auf einer Piazza, im Gedränge, holen wir nach! Egal wann, irgendwann. Seid ihr dabei?

Foto: Bologna, Piazza Maggiore, 31.12.2019 vor Beginn der Feier zum „Capodanno“

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

17 Kommentare zu „Ein Rohrkrepierer

  1. Liebe Anke! Eine schöne und wahre Erkenntnis, die Du da am Ende zusammenfasst. Das Gedränge brauche ich nicht, an Silvester muss es auch nicht sein, aber Bologna würde ich gerne einmal besuchen. Ich wünsche Dir einen schönen, entspannten Jahreswechsel und vor allem ein gesundes, gutes und glückliches neues Jahr 2021! Herzliche Grüße nach Italien!

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    1. Oh ja, das musst du! Aber aufgepasst, samstagabends ist es unter den Portici auf den Hauptstraßen immer recht voll.😊 Vielen Dank für deine Wünsche, liebe Barbara, und auch für dich alles Gute, viel Glück und Gesundheit fürs neue Jahr! Auguri! 🎉

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  2. Schon seit vielen Jahren verbringe ich den Silvesterabend allein zu Hause, denn für eine Silvesterparty ist meine Wohnung zu klein, und die Böllerei, die ja „normalerweise“ mit Einbruch der Dunkelheit kräftig zulegt, um sich um Mitternacht und bis lange danach zum Inferno, zu steigern verleidet mir das Ausgehen komplett. Nun wird in diesem Jahr endlich mal deutlich weniger geknallt werden, aber die Konzerte, in die ich zum Jahresende gerne gehen würde, finden nicht statt. Shit happens! – Ich werde trotzdem das Beste draus machen. Das Klo wird jedenfalls okay sein. 😄

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    1. Das ist doch schon mal ein sicherer Pluspunkt! 😉
      Im Konzert war ich zu Silvester noch nie, aber einen unvergesslichen Jahreswechsel hatte ich 1999/2000, mit Faust im Schauspiel Leipzig. Erster Teil vor Mitternacht, Pause auf dem Platz im Gedränge, zweiter Teil und Schlussszene auf dem Friedhof. Etwas in der Art würde ich auch gerne irgendwann nochmal buchen. Wir halten die Daumen gedrückt und vor allem den Kulturschaffenden, dass sie bald wieder arbeiten können. Und am Neujahrstag schalten wir die Wiener Philharmoniker ein. Komm gut ins neue Jahr und alles Gute für dich, liebe Christa!

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      1. Liebe Anke, komm Du auch gut ins Neue Jahr. Hier in Berlin geben sonst die Philharmoniker ein Silvesterkonzert, Letztes Jahr habe ich mich tatsächlich weit genug aus meinem Bau getraut, um mir die Live-Übertragung in einem Kino anzuschauen und dann schnell wieder in meine Hütte). Empfehlenswert! – Na, das wird schon wieder. Ich halte Dir und uns die Daumen. 🍀

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  3. Incredibile :), dass es dir wie mir ergangen ist! Auch ich war bei einem Abendessen mit nervenden Verspätungen und schlechter Organisation und habe dann das Feuerwerk in Wien nicht gesehen, sondern bin ratlos drin herumgestanden und eigenartigerweise nicht auf die Straße gegangen!! Auch bei mir hat es komisch und eher frustrierend angefangen.

    Deshalb um so mehr: GUTEN RUTSCH! Prosit 2021 und bei der Piazza in Italien bin bald auch dabei! Alles Liebe.

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    1. Danke, liebe Barbara! Dir auch einen guten Rutsch (diesmal ohne innere Zerrissenheit, weil wir drin hocken und nicht raus gehen, ist eh so für alle). Einen guten Batzen Glück und Gesundheit für 2021!
      Wien ist auch zu schön, um nicht auf dem Platz dabei zu sein. Ich war einmal da, im Jahr als es hieß „Wien begrüßt den Euro“. War das 1998/99? Damals haben wir mit Unbekannten auf dem Stephansplatz den Sekt zum Anstoßen geteilt, das waren noch unbeschwerte Zeiten. Aber die kommen wieder! Ich glaube dran!

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      1. Vielen Dank, ja diesmal ohne Zweifel. wir dürfen hier ein bisschen herumspazieren! 🙂
        Oh, wirklich schön, stimmt, das waren unbeschwerte Zeiten, vielleicht war ich ja auch dort! Damals bin ich schon alleine fortgegangen.

        Schönes neues Jahr!! Ich glaube auch fest daran!

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  4. Wer hätte gedacht, dass dein Neujahr die Vorschau für das komplette, neue Jahr darstellt? Drinnen, während das Leben sich draußen abspielt. Man verpasst die besten Momente, die Toilette ist kein Wohlfühlort, sondern das Gegenteil, weil man vielleicht kein Klopapier mehr im Drogeriemarkt bekommen hat,…
    Ich bin nicht abergläubisch, aber bitte feiere die nächsten Jahre in Rio de Janeiro am Strand, Sydney am Opera House, auf den Malediven,…irgendwo, wo Lebensfreude, Liebe und schöne Momente herrschen. 😄
    Kommt gut ins neue Jahr und passt auf euch auf! 🥳💛

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    1. Oh ja, wenn es wieder möglich ist, hoffen wir schon 2021/22, werde ich mir Mühe geben, deine Vorschläge zu beherzigen! 😎 Dieses Jahr freue ich mich über mein eigenes, fein geputztes Klo. Ist auch was wert. 😉
      Kommt ihr bitte auch gut und gesund rein! Auguriiiii 🎉

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      1. Notfalls bin ich mir sicher, dass eine Familienbuchung nach Rio günstiger ist als Milliarden von Euro Corona Hilfe. 😄 Die Regierung wird sich mit dem Argument sicher an den Kosten beteiligen. 😄
        Absolut! Geniess(t) die Zeit! Auguriii! Und bleibt gesund. 😃

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