Neuer Tag, neues Glück

Der Italiener und die Flexibilität

Nichts geht über einen guten Plan. Ob wir ihn nun Tagesablauf, Programm oder neudeutsch To-do-Liste nennen, wir Deutschen kommen ohne gewisse Ordnungspunkte schwer über die Runden. Ich habe da wohl einen Gutteil von meinem Vater geerbt. Er war berühmt für seine dicht beschriebenen Notizzettel, genauestens kalkulierten Weckpläne, ein halbes Jahr vor Reisebeginn erarbeiteten Urlaubspacklisten und mehrfarbigen Kalendereinträge.

Mit den Jahren, die ich nun schon in Italien lebe, habe ich mich in Sachen Flexibilität ein wenig angepasst und es gelingt mir zuweilen sogar, mich zu entspannen. Wenn wir Sonntagmittag kurz vor zwölf immer noch die verschiedenen Möglichkeiten durchgehen, wohin unser Sonntagsauflug führen könnte, halb eins beim Restaurant am endlich vereinbarten Zielort anrufen und hören, dass leider kein Tisch mehr frei ist … dann wird es einer preußischen Oberplanungsverantwortlichen allerdings ungemütlich. Und doch nimmt meine Lernkurve langsam Form an, denn bisher haben wir immer noch etwas zustande bekommen. Manchmal sind wir einfach losgefahren. Warum muss man tagelang organisieren, wenn es auch spontan Nettes zu erleben gibt? Oft macht einem ohnehin das Wetter einen Strich durch die lang zuvor ausgeklügelte Rechnung.

Wie es ist, den Tag einfach mal auf sich zukommen zu lassen, verschiedene Optionen zu haben und zu schauen, was sich so ergibt, lernte ich auf meiner ersten Kurzreise nach Italien. Sie ging im März 1998 nach Bologna. Hier könnt ihr Teil 1 und Teil 2 noch einmal nachlesen, bevor ich euch jetzt vom dritten Tag, dem Sonntag, berichte. Da stand ich überraschend vor der Qual der Wahl und im entscheidenden Moment hatte auch die Telekom Italia ihre Hand im Spiel.

Wenn am Sonntag um sechs in der Früh der Wecker klingelt

… dann bin ich in Bologna und zeitig aufzustehen ist meine einzige Chance, vom Messehotel in die Innenstadt zu kommen. Duschen, ein kleines Frühstück und ab in den Bus. Der Messe-Shuttle geht um halb acht. Außer mir sitzen bereits drei Geschäftsmänner darin, unausgeschlafen aber mit wichtiger Miene. Wir fahren noch andere Hotels an, der Bus füllt sich. Wie schön, eine kostenlose Hotelrundfahrt durch Bologna. Ich bin wach, gut gelaunt und kann es kaum erwarten, wieder durch romantische Gassen und über zauberhafte Plätze zu laufen. Auf dem Stadtplan in meiner Hand eine Telefonnummer. Gestern … Hatte ich wirklich einen fremden Mann geküsst, einfach so, weil wir uns mochten? Die stark geschminkte Frau, die mir seit dem letzten Halt gegenübersitzt, mustert mich. Vielleicht, weil ich vor mich hin gegrinst hatte? Ich schaue sie an, sehe ihr direkt ins Gesicht. Jetzt lächelt sie auch. Na bitte, geht doch! Ich drehe mich wieder zum Fenster und schließe die Augen, sauge die Morgensonne in mich auf. Wie dumm es wäre, jetzt im verregneten Leipzig zu sitzen. Ich freue mich auf einen weiteren Tag in Bologna, für den ich schon Pläne geschmiedet habe. Vielleicht würde ich auch von der Telefonnummer Gebrauch machen, aber bis dahin wollte ich möglichst viele sehenswerte Sehenswürdigkeiten sehen. Zu denen ich die Messe allerdings nicht zählte. Genau da ist erst einmal Endhaltestelle. Ich irre über das Messegelände und finde irgendwann einen Bus, der mich in die Stadt bringt. Irgendwo steige ich aus und bin stolz, wie nah ich das Zentrum erwischt habe. Eine Stippvisite in der Basilika San Francesco, dann blicke ich schon wieder auf die imposante Fontana del Nettuno. Aus dem Caffè gegenüber duftet es nach Kaffee und süßem Gebäck. Schade, dass ich schon im Hotel gefrühstückt habe. Ein paar Schritte weiter und ich stehe schon wieder mitten auf der Piazza Maggiore. Wie schön das klingt. Aber es war auch kein Platz. Es war eine Piazza. Man lief nicht darüber hinweg, man war hier. Oder setzte sich auf die Stufen vor der Basilika San Petronio und blinzelte in die Sonne. Genau das tue ich. Bis ich angesprochen werde.

Ciao, hello!

Ein schlanker junger Mann im anthrazitfarbenen Laufdress steht vor mir und strahlt mich an. Mein Schattenspender ist ausgesprochen attraktiv, stelle ich fest, während er mir mitteilt, ich hätte wunderschöne Augen, eine Farbe, die man selten zu sehen bekäme. Aha. War also doch eine Masche der Italiener, wie es im Reiseführer gestanden hatte. Ich muss lachen. Lange allein blieb man hier nicht. Auch das hatte ich vorher gelesen. Meine „fantastischen“ Augen wurden gestern bereits angehimmelt. Offensichtlich war Blaugrau ‒ in Deutschland hatte mir nie jemand ein Kompliment gemacht ‒ für Italiener eben nicht alltäglich. Mein heutiger Verehrer spricht perfektes Englisch. Er arbeite als internationaler Vertreter für Kontaktlinsen, erklärt er mir. Augen seien sein Spezialgebiet, sein Kompliment das eines Fachmanns. Soso. Praktisch veranlagt, wie ich nun mal bin, lenke ich ab und nutze die Gelegenheit, den sportlichen Vertreter nach dem Weg zu dieser Kirche oben auf dem Berg zu fragen, die ich heute unbedingt besichtigen möchte.

Rauf bis San Luca?

Ich versuche, sein schelmisches Grinsen zu interpretieren. Ist das zu weit zu Fuß, frage ich. Nein, aber er könne mich ein Stück begleiten, er hätte denselben Weg. So ein Zufall! Am Arco Bonaccorsi, wo der Arkadengang und der Aufstieg zur Kirche beginnt, trennen sich unsere Wege. Zum Abschied gibt es drei Küsse auf die Wangen. Links, rechts, links. (Oder andersrum, das habe ich bis heute nicht kapiert.) Ich verspreche, ihn später anzurufen. Wir könnten irgendwohin fahren, mit dem Auto. Das klingt verheißungsvoll. Ich lächle und versuche, ihn mir in Jeans und schickem Hemd vorzustellen.

Ciao, thank you for the company.

Gut gelaunt und voller Energie beginne ich den Aufstieg. Doch unter den Portici gibt es wenig Schatten. Bald stöhne ich leise vor mich hin. Die Sonne sticht jetzt unbarmherzig und macht den Pilgerweg zu einer wahren Strapaze. Das konnten sich mittags um halb zwölf auch nur Touristen antun!

Nach Besichtigung der Wallfahrtskirche San Luca ist es kurz nach dreizehn Uhr.

Noch habe ich die Wahl.

Und nun? Worauf hätte ich heute Nachmittag Lust? Oder besser gefragt, auf wen? Zwei Telefonnummern buhlten darum, von mir gewählt zu werden. Die erste versprach süße Küsse, Lachen und Flirten, vielleicht die filmreife Vollendung einer Liebesromanze. Wenn nicht gestern alles nur ein Pilotfilm gewesen war, für den es leider keine Fortsetzungen geben würde. Die zweite Telefonnummer stellte mir eine vielversprechende Spritztour mit dem Auto in Aussicht und zum Essen in einem feinen Restaurant würde ich womöglich auch eingeladen werden. Wollte ich diesen Nachmittag und meinen letzten Abend in Bologna mit einem Geologiestudenten oder einem Kontaktlinsenvertreter verbringen? Mehr zu sehen von der Stadt bekäme ich im zweiten Fall …

Meine Entscheidung ist gefallen.

Ich rufe an. Bei dir.

Mein Herz klopft bis zum Hals. Telekom Italia. Eine Frauenstimme wie ein Maschinengewehr. Hatte ich mich verwählt? Noch ein Versuch. Diesmal gar nichts, tote Leitung. Hattest du mir eine falsche Nummer gegeben, dich beim Schreiben vor Aufregung vertan? Ein letzter Versuch. Sonst rufe ich den Anderen an. Als hättest du meine treulosen Gedanken empfangen, nimmst du endlich ab. Du freust dich, aber am Telefon ist es unerwartet schwierig mit unserem Englisch. Ich beschreibe dir, wo ich bin. Du scheinst es nicht zu verstehen. Ich dachte, du kämst mit dem Motorino. Hattest gestern davon erzählt.

Da hoch? Was?

Aber warum denn nicht! Ich verstehe etwas wie „kein Sprit“. Ach so. Na, dann eben zu Fuß, ich war doch schließlich auch hochgelaufen. Zu Fuß? Du lachst nur. Ich verstehe nicht. Was war denn so komisch an meiner Idee. Piazza Maggiore. Wie? Da willst du mich treffen. Ja, natürlich weiß ich, wo das ist. Selbstverständlich würde ich wieder hinfinden. In einer halben Stunde? Ein Blick auf die Uhr. Nein. Jetzt war ich aber dran, Bedingungen zu stellen. Wenn du es nicht schaffst, hier hochzukommen, dann warte gefälligst, bis ich Lust habe, wieder unten am Platz zu sein. Mein Magen knurrt. Die Erfahrung von gestern hat mich gelehrt, erstmal etwas essen zu gehen. In anderthalb Stunden, so meine Ansage.

I cannot wait to see you.

Und ob du warten kannst. Das wäre ja noch schöner! In einer engen, etwas heruntergekommenen Bar setze ich mich nah ans Fenster und esse doch wieder nur ein Panino. Wie gestern mit Prosciutto Cotto und Formaggio. Aber das im Park war leckerer, aufregender. Mein Magen lässt sich auch von der langweiligen Variante belegtes Brötchen beruhigen. Ein kurzer Stopp in der Toilette, ein etwas längerer vor dem Spiegel und ich bin bereit für unser Wiedersehen.

Und wenn es heute nicht mehr funkt?

Als wir am Palazzo Comunale für einen Moment wortlos voreinander stehen, genügt ein Lächeln von dir, und unsere Telekommunikationsprobleme schmelzen wie Gelato in der Sonne. Ich hatte auf die richtige Nummer gesetzt. Vorhang auf, Film ab! Die Fortsetzung der deutsch-italienischen Frühlingsromanze läuft ohne weitere Stolperstellen an. Wir streifen durch die Gassen, du zeigst mir die Lieblingsorte deiner Stadt. Wir nehmen einen Caffè, später einen Aperitivo. Ungestört sind wir diesmal nicht. Also weiter. Da, eine Bank, wie für uns reserviert. Ein bisschen Reden, viel Lachen, noch mehr Küsse. Dann lerne ich den ersten Satz auf Italienisch:

Voglio fare l’amore con te.

Kann mir schon denken, was das heißt, aber ich lasse es mir trotzdem übersetzen. Warum denn nicht? Fragst du. Ich weiß nicht. Antworte ich. Es war alles so perfekt, bis jetzt. Aber ich hatte auch dieses wunderschöne Doppelzimmer im Messehotel, eine Schande, ganz allein darin zu übernachten. Wir stehen schon in einer Telefonzelle. Ich halte den Hörer in der Hand. Sag, dass ich dein Bruder bin, schlägst du vor. Wir haben uns zufällig getroffen, könnte doch sein. Quatsch, so einen Blödsinn glaubt uns keiner. Du, mein Bruder. Ich halte mir den Bauch, der vor Lachen schmerzt. Ach nein, komm, das geht nicht. Ich stoße die Tür der Zelle wieder auf. Und jetzt? Da ist der Bus, komm schnell. Du nimmst mich an der Hand. Welcher Bus? Schon sitzen wir drin. Wir fahren zu dir nach Hause. Dein Mitbewohner wäre auch da. Wir könnten gemeinsam Vino trinken, quatschen. Das klingt gut. Ich will ohnehin noch nicht zurück ins Hotel.

Also auf ein Glas Wein zu dir!

Viel sehe ich nicht von deiner Bleibe. Klamotten in der einen, leere Bierflaschen in der anderen Ecke. Studentenbude, Männer-WG, was hatte ich erwartet? Dein Amico war doch nicht gekommen. Du freust dich. Ich bin enttäuscht. Vollkommen nüchtern plötzlich. Und zeige es. Was wollte ich hier? Warum war ich nicht vorhin abgesprungen, als es noch so schön war? Ich will mich nicht setzen, auf das ungemachte Bett. Welches war eigentlich deins? Egal. Ich stelle irgendwelche Fragen und höre gar nicht zu, was du antwortest. Ruf mir ein Taxi, bitte, ich bin müde. Du bist enttäuscht. Ich bin es auch. So hatte es nicht enden sollen. Kein Kuss zum Abschied. Alles geht so schnell auf einmal, der Taxifahrer schlägt die Tür hinter mir zu. Ciao!

Das wars dann wohl.

Was meint ihr, gab es am Montag doch noch ein Happy End? Was mich betraf, wurde die Zeit knapp, denn mein Flug ging am frühen Nachmittag. Der Student musste zur Vorlesung in die Uni. Back to reality oder It ain’t over till it’s over?

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

28 Kommentare zu „Neuer Tag, neues Glück

    1. Schon geplant 😂😉 Es gibt sie bereits als Draft, oder wie der Italiener sagt „Bozza“, in einer älteren Fassung. Muss sie natürlich auffrischen, das mach ich bald!
      Buona serata, liebe Barbara!

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  1. Einige der erzählenswertesten Erfahrungen meines Lebens verdanke ich Menschen, die ich als Chaoten bezeichnen könnte, ohne ihnen bitter unrecht zu tun. Leider (und ich meine wirklich leider) bin auch ich so eine Teutonin, die sich ohne einen Plan verloren fühlt. Dabei kann verlorengehen so toll sein.

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  2. Nummer 2 it is. Wer den Kontaktlinsenvertreter in Bologna findet, darf ihn behalten. Vielleicht war er nur eine Tageslinse, hastig rausgepult am Ende eines langen Tages? Vielleicht war er aber auch eine Monatslinse, die bereits nach 2-3 Wochen, trotz guter Pflege, unangenehm im Auge wurde? Oder war es doch die kompromisslose, harte Linse, die zwar am Anfang höllisch schmerzt, von Tag zu Tag aber besser wird und sich am Ende in eine Beziehung für’s Leben verwandelt? 😃
    Nur du kannst es uns beantworten! 😄

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    1. Du kennst dich aus mit Kontaktlinsen, richtig? Fantastisches Gleichnis! 👍😂
      Allerdings, was Vertretertypen betrifft … hm, ich glaube, da hatte mein Unterbewusstsein damals dafür gesorgt, mir nicht die rosarote Brille aufsetzen zu lassen. Auch wenn er noch so schnuckelig knackig dahergelaufen kam, war mein Herz schon dem Studenten zugeflogen 😍😎 Aber klar, wer weiß, was es am Montag noch für Überraschungen gab …

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      1. Bravo! Anche per noi, Erlkönig e Osterspaziergang (Faust) erano i classici pezzi di Goethe da imparare a memoria. E non ti preoccupare, anche io mi ricordo solo qualche pezzo. 😉

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      2. Avevo un’amica, nata nel 1972, che era nata a Jena e mi diceva che da piccola studiava anche russo ma non le piaceva. Dovevo andare a trovarla ma poi la storia è finita, leider. Per me storia tedesca e Ost Europa è meravigliosa, yaww potrei stare qua a parlare e chiedere per giorni sulla DDR e la BRD e tutto il resto.
        Ein wundervolles Land und wundervolle Menschen! Tschüß 🙂

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    1. In dem Roman von George Orwell geht es darum, dass die Menschen von den Behörden überwacht werden. Da habe ich im wahren Leben keine Bedenken. Es ist der Kommerz, der uns manipulieren will. Jedoch will ich hier nicht die Werbung an sich verteufeln, da mische ich als Texter schließlich selbst mit. 😉

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