Torri del Benaco, Gardasee

„Das Berauschende an der Liebe rührt aus dem, was man weiß; die späteren Wunden aus dem, was man sieht.“

Bodo Kirchhoff

Die Liebe in groben Zügen*, Roman, dtv, 5. Auflage 2016. Seite 232.

Es war im Sommer 2020. Mein Mann und ich arbeiteten im Homeoffice, unsere Töchter waren nach einem halben Schuljahr Distanzunterricht nun in den sogenannten Schulferien daheim. Für Ferienspiele gab es in diesem ersten, so tragisch verlaufenem Corona-Jahr in Italien kaum Angebote. Was also tun, um der Enge der eigenen vier Wände vorübergehend zu entfliehen und dabei den Wünschen aller Beteiligten gerecht zu werden? Wir fuhren, als das Reisen innerhalb Italiens wieder möglich war, für ein Wochenende in einen Agriturismo zwischen Gardasee und Verona. „Wir nehmen unsere Laptops mit, vielleicht bleiben wir einfach eine ganze Woche!“, verlangte mein Mann, und ich stimmte ungläubig zu. Wie sollte man arbeiten, wo andere Leute Urlaub machen? Es funktionierte fantastisch, wir hatten Glück und waren fast die einzigen Gäste, fanden beide ein ungestörtes Plätzchen zum Arbeiten, während die Mädchen mit den Töchtern der Gastgeberin spielten. Eine nahezu perfekte, wunderbare Erfahrung und ein Durchatmen nach dem langen Lockdown im Frühjahr 2020.   

Diesen Ausnahmezustand hatte ich zuvor genutzt, mich endlich Büchern zu widmen, die schon viel zu lange fordernd im Regal gestanden hatten. Keine Zeit war plötzlich kein Argument mehr gewesen. Bodo Kirchhoffs „Die Liebe in groben Zügen“ hatte ich bereits einmal zuvor in den Urlaub mitgenommen, aber da waren die Mädchen noch kleiner und forderten den lieben langen Tag unsere Aufmerksamkeit. Spielen statt Lesen, hieß damals das Programm. Am Abend fehlte mir dann die Muße, in anspruchsvolle Literatur einzutauchen. Ich hatte wohl die ersten drei Seiten angelesen, war aber steckengeblieben. Kirchhoffs Beziehungsroman ist keine leichte Sommerlektüre für nebenbei. Ich will nun nicht sagen, dass erst die Pandemie ausbrechen musste, damit ich mich an anspruchsvolle Literatur heranwage. Aber eine besondere Situation wie diese, zwangsweise losgelöst vom gewohnten Alltagstrott, lud dazu ein. Auf Kirchhoff war ich zuerst durch seine Novelle „Widerfahrnis“* gestoßen, die 2016 den Deutschen Buchpreis gewonnen hatte. Ihr genialer Titel, der Schauplatz (Italien), und natürlich die Auszeichnung, hatten mein Interesse geweckt. Und zu Recht: Lesegenuss auf höchstem Niveau. Sätze, so durchdacht formuliert, dass man sie sich auf der Zunge zergehen lässt, nach ihrer Bedeutung forscht, um am Ende einen Haken zu setzen, oder ein Fragezeichen, oder ein Vielleicht … spannend! Mit diesem Vorgeschmack hatte ich entsprechend hohe Erwartungen an den Roman mit dem vielversprechenden Titel, der 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gestanden hatte.   

Liebe auf den zweiten Anlauf

Sechshundertsiebzig Seiten. Ein Wälzer, würde man sagen. Einer, der voller Inspirationen steckt, zum Reflektieren einlädt, anregt, über das Leben in allen seinen Facetten nachzudenken. Und natürlich über die Liebe. Über das, was wir dafür halten und das, was wir daraus machen.

Ich gebe zu, ich bin kein Freund von sogenannten „Spannungsromanen“, allem, was allein von der Handlung getrieben ist, in einem Zug durchzulesen, weil man wissen will, wie es ausgeht. Ich mag nachdenkliche, anregende, Fragen aufwerfende Texte, die auch am Ende noch nicht zu Ende sind. Die nachwirken. So geschehen bei „Die Liebe in groben Zügen“. In meinem Fall eine Liebe auf den zweiten Anlauf, die ich in der Ruhe des Daheimseins nicht hastig verschlungen, sondern intensiv genossen habe. Und darin so schöne Sätze gefunden habe, wie den eingangs zitierten.

Im unten verlinkten Interview erklärt der Schriftsteller sinngemäß zu seinem Werk: Es geht um das große Drama unserer Zeit, angesichts der allgemein dominierenden Banalität Beständigkeit zu leben, die Suche nach Halt und Sinn, wenn um uns herum alles zu zerfallen scheint.

Die Liebe ist ein ewiges Thema, das nie zu Ende gedacht werden wird. Für mich waren vor allem die Anregungen wertvoll, die den Mut und die Mühe beschreiben, an der Liebe festzuhalten, über viele Jahre, verbunden mit unweigerlichen Phasen des sich Annäherns und des Auseinanderdriftens. Wer hat keine eigenen Erfahrungen dieser Art gemacht, mit mehr oder weniger Erfolg?

Doch zurück zu dem Tag, an dem das Titelfoto entstand. Auf der Rückfahrt vom Agriturismo bestand ich darauf, in Torri del Benaco am Gardasee Station zu machen. Ich begründete meinen Wunsch damit, dass wir mit dem Ort Erinnerungen an unsere Hochzeitsreise verbinden. Unsere Große war als kleine Bohne in Mamas Bauch schon mit dabei gewesen. „Wir zeigen euch, wo wir damals die schönen Bilder am Hafen fotografiert haben!“ Dass gleich am Hafen auch das Hotel und Restaurant Gardesana liegen musste, in welchem einige Szenen des Romans spielen, war mein heimlicher Hintergedanke. Ihr wisst ja, dass mich literarisch verankerte Orte, zumal die in Italien, magisch anziehen. Der Eckbalkon direkt über dem Restaurant gehört zu dem Zimmer, in welchem Bühl, einer der Protagonisten aus „Die Liebe in groben Zügen“, absteigt, um an einem Roman über Franz von Assisi zu schreiben. Und um in der Nähe von Vila zu sein, die mit ihrem Mann Renz ein paar Meter weiter ein Haus am See hat, in welchem sie die Sommermonate verbringen. So wie Kirchhoff selbst. Der Roman spielt zum großen Teil in Torri del Benaco, wo der deutsche Schriftsteller aus Frankfurt am Main im Sommer gemeinsam mit seiner Frau lebt und schreibt. Wenn man die Gegend kennt, hat es einen besonderen Reiz, den Romanhelden zu folgen, neben ihnen her durch die Gassen Torris zu schlendern, am Tag, wenn Markt ist. Mit ihnen am Hafen zu sitzen, mit Blick auf den Gardasee, der manchmal ein Meer ist.

Natürlich hielt ich bei unserem kurzen Besuch in Torri insgeheim nach Kirchhoff Ausschau, war mir aber angesichts der leeren Stühle schnell sicher, dass der Schriftsteller nicht gerade bei einem Cappuccino unter dem berühmten Balkon im Gardesana saß. Womöglich liebt er diesen Ort auch eher zum Abendessen, wie Vila und Renz in seinem Roman.

Mehr zum Thema:

„Ich schreibe über Dinge, die ich weiß.“ Wer mehr über Bodo Kirchhoff und sein Schreiben erfahren möchte, dem empfehle ich dieses Interview, das anlässlich des Erfolgs seines Romans „Die Liebe in groben Zügen“ bei Deutsche Welle ausgestrahlt wurde.

Kirchhoffs Werke beim Deutschen Buchpreis hier auf einen Blick.

*Werbung, wie immer unbezahlt.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

22 Kommentare zu „Torri del Benaco, Gardasee

  1. Über die Liebe habe ich gerade ein Gedicht geschrieben, das ich in den nächsten Tagen veröffentlichen möchte. Außerdem mag ich auch Orte, die man mit Gelesenem, Filmen oder Schriftstellern/ Künstlern, die ich verehre, in Verbindung bringen kann. Ein ganz besonderes Gefühl, finde ich, das vervollkommnet.

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  2. Eine sehr schöne und persönliche Besprechung. Danke. Und natürlich eine sehr schöne Erinnerung an den Lago di Garda. Sollte es mich wieder mal dorthin verschlagen, weiß ich jetzt, welches Buch ich einpacke. 🙂 Dir einen wunderschönen Abend und herzliche Grüße! Barbara

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    1. Sehr gern! An den Lago di Garda komme am besten, wenn es dir möglich ist, in der Vor- oder Nachsaison (es sei denn, du magst touristischen Trubel 😉). Die späten, allerletzten Tage des Sommers am See und deren spezieller Reiz werden übrigens auch im Roman sehr detailliert beschrieben. Buona serata anche a te!

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      1. Man soll nie nie sagen … und auch wenn du jetzt im Norden an einem schönen See wohnst, zieht es dich ja vielleicht mal wieder in südlichere Gefilde.😃

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    1. Einen Kaffee, tatsächlich? What else, Tom! 😉
      Da fällt mir ein, damals auf der Hochzeitsreise hat sich mein Mann beim Frühstück im Hotel mit dem Kellner angelegt. Er hatte einen Caffè bestellt, und bekam statt eines Espressos eine Tasse (deutschen) Kaffee. „Unsere Gäste wünschen den hier so!“. „Ma io sono italiano, mi scusi.” Er schwor damals, nie wieder an den Gardasee zu fahren.😂

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  3. „Man spricht deutsch“ – um 1958 zu lesen auf einer Tafel eines Ristorante auf dem Markusplatz. Dazu Haxe und Kraut. Bei über 30 Graf Hitze.. So „fürsorglich“ war man damals schon..😃

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  4. Schön dort! Wir waren auch für ein paar Tage Arbeit im Urlaub. Rheinsberger Seen …. kennste ja 😉
    Ich fand die Mischung großartig, konzentriert arbeiten, früher Schluss machen und dann an aufs Wasser

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    1. Es wäre schön, wenn die Arbeitgeber solche Gelegenheiten auch „nach Corona“ hin und wieder, vielleicht einmal im Jahr für jeden, ermöglichen würden, aber ich fürchte, das bleibt in vielen Fällen Wunschdenken.😔

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