Schöner spielen: Forza, Azzurri!

Meine Fan-Karriere zwischen Mannschaft und Squadra Azzurra

Bei Fußballspielen schaltete ich in den vergangenen Jahren immer erst dann zu, wenn der Ball auf dem Rasen einer Weltmeisterschaft rollte. Diesmal ‒ da bin ich nicht allein ‒ zieht mich sogar die Europameisterschaft in ihren Bann. Nach der langen Abstinenz von Freude und Begeisterung lechzen wir danach, irgendwo mitzufiebern. Und während es bei den bevorstehenden Olympischen Spielen aufgrund der Zeitverschiebung schwierig werden wird, die Wettkämpfe live zu verfolgen, ist die ebenfalls ein Jahr später stattfindende Fußball-Europameisterschaft mit ihren zuschauerfreundlichen Spielzeiten perfekt. Ich gebe zu ‒ und hoffe, meine deutschen Leser nehmen es mir nicht übel ‒ dass ich bei dieser EM erstmals direkt von Anfang an den Italienern mein Herz geschenkt habe. Ich sah auch die deutschen Spiele, und ich wünschte meinen Landsmännern Erfolg, aber sie überzeugten mich nicht. Das war in der Vergangenheit anders! Alle vier Jahre, zur Fußball-WM, fühlte ich mich deutscher denn je. Ich brüllte bei jedem Tor der Mannschaft, dass es meinem Gatten peinlich war, den vermeintlich mithörenden Nachbarn gegenüber. Der heikelste Moment unserer deutsch-italienischen Beziehung war zweifelsohne das WM-Halbfinale 2006. Die folgenschwere Begegnung der beiden Teams stellte unsere gerade zwei Wochen junge Ehe auf eine ballharte Bewährungsprobe. Schiedsrichterentscheidungen, Foul, Elf-Meter, Abseits, jedes nur mögliche anzuzweifelnde Detail, führten zu fieberhafter Diskussion. Glaubt mir: Wer wie ich in Italien für Deutschland brüllt, und dazu mangels Regel-Kenntnissen argumentationstechnisch benachteiligt ist, hat keine guten Karten. Aber unsere Liebe war ein starker Torhüter für die Nerven und am Ende sagte ich mir: Egal, wer gewinnt, es bleibt in der Familie. Meine sportliche Einstellung half mir über die deutsche Niederlage hinweg, während meine Landsleute vor den Scherben ihres Sommermärchens hockten. (Viele kamen jahrelang nicht über die Schmach hinweg, wie Jan Göbel gerade im Spiegel erzählte.)

Womöglich bin ich mittlerweile zur Italienerin mutiert, was den sportlichen Nationalstolz betrifft. Nach mittlerweile zwanzig Jahren in meiner neuen Heimat ist das eine nur allzu natürliche Konsequenz. Dabei begann mein Interesse an den Azzurri bereits im letzten Jahr der DDR. Meine allererste Erinnerung an die italienische Fußballnationalmannschaft geht auf den Sommer 1990 zurück. Richtig, es war die WM in Italien. Obwohl ich mich, Asche auf mein greises Haupt, an den Austragungsort und alles weitere Drum und Dran persönlich nicht erinnere. Von jener WM blieben mir als jugendlicher Fußball-Laiin nur zwei Ereignisse in Erinnerung: das Spiel um den dritten Platz am Samstag, dem 7. Juli, welches ich gemeinsam mit Freunden im Fernsehen verfolgte, und der Sieg Deutschlands im Finale am Sonntag, oder vielmehr die jubelnden Fans auf dem Heimweg danach. Ich selbst war in jener Zeit vollkommen indifferent. In der DDR hatte ich mit Fußball nichts am Hut gehabt, zumal unsere Ost-Elf bei wichtigen internationalen Turnieren nicht mehr mitgespielt hatte. 1974 war ich gerade zwei Jahre alt gewesen, und selbst wenn ich fröhlich juchzend „Ballaballa“ gerufen haben sollte, als Sparwasser sein berühmtes Tor schoss, kann ich mich daran beim besten Willen nicht mehr erinnern. Aber zurück zum Spiel um den dritten Platz Italien – England 1990. Irgendwer in unserer Truppe, vermutlich einer der Jungs, hatte entschieden, dass wir den wertvollen Samstagabend auf der Couch mit Fußballgucken vergammeln sollten. Wir Mädels trösteten uns mit Rotkäppchen-Sekt oder Grüne Wiese (was man damals so trank im Osten), und guckten uns weniger das Spiel, als vielmehr die Spieler an. Nun macht es selbst als Fußball-Muffel keinen Spaß, ein vermeintlich wichtiges Spiel zu verfolgen, ohne dabei eine der beiden Mannschaften anzufeuern. Also wählte ich … die schöneren Spieler. Ganz besonders einer hatte es mir bei den Italienern angetan, und ich merkte mir seinen Namen und seine Trikotnummer. Piero Baldo*, dunkelhaarig und für einen Südländer hochgewachsen, passte perfekt in mein Beuteschema. Ich schwärmte meinen Freundinnen flüsternd ins Ohr, aber laut genug, dass es auch mein Freund hören konnte. Der zuckte kaum mit der Wimper, ließ sich nicht ablenken und fieberte weiter für England. Vielleicht gerade deshalb klammerte ich mich gedanklich umso stärker an meinen Lieblingsspieler, um bei jeder weiteren (seltenen) Gelegenheit, bei der ich in den darauffolgenden Monaten die italienische Nationalelf auf dem Bildschirm sah, nach ihm Ausschau zu halten. Nun war im Sommer 1990 die Mauer gerade erst ein halbes Jahr zuvor gefallen, und auch wenn uns theoretisch plötzlich die Welt offenstand, hatte ich es zu jenem Zeitpunkt nicht weiter als bis nach Westberlin geschafft. Ich dachte nicht im Traum daran, irgendwann einmal nach Italien zu reisen. Geschweige denn, dort zu leben. Geschweige denn, diesen Halbgott in Kniestrümpfen eines Tages beinahe persönlich kennenzulernen.

Ein paar Jahre später ‒ wie das Leben spielt und der Ball rollt ‒ zog ich nach Italien. In den ersten Monaten wohnte ich bei Verwandten meines Freundes im kleinen Ort Villa Guardia in der Provinz Como. Zio Giuseppe*, war Interista (Fan des Clubs Inter Mailand). Seine Mannschaft trainierte nur wenige Kilometer entfernt, in Appiano Gentile. Er war oft beim Training zuschauen gewesen. Stolz zeigte er mir Fan-Artikel und ein Foto: Zio Giuseppe*grinst darauf mit stolzgeschwellter Brust in die Kamera, neben ihm sein Idol … bingo, Piero Baldo*. Mir blieb der Mund offenstehen. Zu diesem Zeitpunkt, 2001, spielte mein Schwarm nicht mehr bei Inter. Wäre ich nur drei Jahre eher in die Gegend gekommen und einmal mitgegangen zum Training, wer weiß. Aber, wie beim Fußball, so in der Liebe: Knapp daneben ist auch vorbei und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich glaube, ich behielt bei dieser zweiten „Begegnung“ meine Gedanken für mich, denn mit Süditalienern wie meinem damaligen Freund, der ‒ Zufall oder nicht ‒ auch Piero* hieß, ist in Sachen Eifersucht wirklich nicht zu spaßen. Obendrein war er Milanista (Fan des Clubs AC Mailand). Das hätte doppelt Ärger gegeben. Elf Jahre früher, 1990 in Ostberlin, konnte ich lauthals schwärmen. Einerseits waren Italien und die Italiener unserer Vorstellung nach unerreichbar, andererseits war mein Freund ein abgeklärter, in jeder Hinsicht entspannter Deutscher.

Heute freue ich mich wie eine Italienerin, dass unsere Azzurri am Sonntag im Finale stehen. Dass es ausgerechnet eine Begegnung mit England ist, nehme ich als gutes Omen, schließlich gewann mein Favorit mit seiner Squadra 1990 das Spiel. Diesmal ist kein italienischer Spieler dabei, der es mir besonders angetan hätte. Gut so, denn die meisten von ihnen könnten dem Alter nach meine Söhne sein. Unsere Tochter ging übrigens als Siebenjährige während der WM 2014 stolz mit einem Trikot der deutschen Nationalmannschaft in den Campo Estivo (Ferienspiele) und schwärmte vom blonden Martin Maier*. Es sind wohl immer die Gewinner, die uns Frauen magisch anziehen.

*Namen von der Redaktion geändert.

Titelbild: Roberto Baggio (Italien, rechts) und Des Walker (England), 7. Juli 1990. Fußball-WM in Italien Spiel um Platz Drei Italien – England in Bari, Italien. Credit: IMAGO/ AFLOSPORT

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

30 Kommentare zu „Schöner spielen: Forza, Azzurri!

  1. Liebe Anke, danke für den kleinen Einblick in dein Leben, ich habe das sehr gerne gelesen. 🤗
    Und natürlich verstehe ich, dass du mit den Italienern mit fieberst. Ich wünsche dir, dass sie gewinnen.
    👍🏻👍🏻👍🏻
    Meine Favoriten sind ja eh raus, so dass es mir wurscht ist, wer gewinnt.
    Viele Grüße Bea

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    1. Nein, in Italien kamst du nicht daran vorbei. 😎 Nach dem Halbfinale war bei uns in der Provinz um Mitternacht ein Halligalli auf der Straße, das mich an 2006 erinnerte. Danke und liebe Grüße zurück nach München!

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  2. Da kann ich manches nachvollziehen. 1990 verfolgte ich die Endspiele in einem kleinen Dorf in Südtirol.. Vino Rosso beruhigte aber stets die Gemüter. Und diesmal sei es den Azzurris gegönnt, alleine aufgrund der fairen Umarmungen der Torleute vor dem Elfer Schiessen beim letzten Spiel.👍

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    1. 1990 – Ich erinnere mich an Toto Schillaci und wie die italienischen Reporter völlig überwältigt seinen Namen ins Micro zelebrierten. Er spricht sich aber auch zu schön. Seit einigen Jahren bedauere ich, nicht mehr die Begeisterung und Idenifikation für die deutsche Mannschaft zu haben, wie zu Zeiten von Rudi Völler, Lothar Matthäus, Pierre Littbarski u.a.
      Am Sonntag werde ich mir entspannt das Finale der EM anschauen, wobei meine Sympathie Italien gilt. Aus diversen Gründen 😄😉 auch Deinetwegen, liebe Anke. Viel Glück!!! Und Forza, Italia 💪🏼

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      1. Grazie, liebe Bettina! Das wird spannend und hoffentlich eine Grande Festa für die Azzurri und die Italiener.
        Was die Identifikation angeht … da spielt oft auch das persönliche Umfeld eine entscheidende Rolle. Geteilte Begeisterung ist doppelte Begeisterung. Vielleicht kommen mit einem neuen deutschen Team auch für dich als Fan irgendwann wieder „bessere“ Zeiten. Liebe Grüße nach Frankfurt!

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    2. Ja, das war eine witzige und nette Szene. Wie man in diesem Moment der höchsten Nervosität, fertig von 120 Minuten Kampf, mit einem Scherz die Situation entkrampft. Das war Sportsgeist, wie man ihn sich wünscht.

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      1. Genau, beide wussten, dass nur einer gewinnen kann.. Das war Sportgeist pur und Achtung des Gegners. Wenn es nur überall (noch) so wäre.

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  3. Ich erinnere mich an den WM-Sieg 2006. In der Nacht war ich als Taxifahrer unterwegs. Die italienischen Wirte waren sehr freigiebig. Auf Wunsch bekam man statt einem Schnaps auch einen Espresso. Was mich gestört hat war, dass sie sich dauernd auf die linke Brustseite geschlagen haben und dabei riefen: „Haben eine Sterne mehr als Germania!“. Gut, dass ich am Sonntag nicht fahre…

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    1. Ja, das ist eine unschöne Sache bei dieser EM. Ich hätte es auch begrüßt, wenn die Verantwortlichen verantwortungsbewusster entschieden und den Zutritt limitiert hätten. Bei den Olympischen Spielen geht es ja auch.

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  4. Ist immer wieder interessant, solche Zugänge zum Fußball zu lesen wie Deinen. Du bist also eher die klassische EM- und WM- Guckerin?
    Bei Sparwasser fiel mit gerade Pommerenke ein, den ich mal Ende der Neunziger im Interview hatte. Wie die Zeit vergeht…

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    1. Für dich als Vollprofi muss es witzig anmuten. 😉
      Klar, nur große Spiele auf nationaler Ebene. Einmal auch Champions League. Das Finale 2005. Mein damals noch zukünftiger Ehemann feierte nach der ersten Halbzeit, und wollte mich dann für den tragischen weiteren Verlauf des Spiels verantwortlich machen. Seitdem ist Milan tatsächlich auch nie mehr so weit gekommen.🙈
      Pommerenke sagt mir auch noch was, ganz dunkel im Hinterstübchen. Ja, man schreibt als wäre alles gestern passiert, leider, leider ist dem nicht ganz so.

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      1. Na heute ist erstmal Rausch auskurieren angesagt. 😆 Aber künftig sollte der 11. Juli ein Feiertag in Italien sein. Werde ich mal vorschlagen. 😉👍

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      2. Überall war Silvesterstimmung, sogar bei uns in den kleinen Orten. Das habe ich zuletzt 2006 erlebt, damals war ich selbst mit auf der Piazza in Varese. Gestern haben wir … altersgerecht und Pandemie bedenkend, allein auf dem Balkon gefiebert.

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  5. Hallo Anke, ich habe gerade gelesen, dass die Azzuri gewonnen haben. Das freut mich ungemein.Das war wirklich verdient und Italien ist zu Recht im Ausnahmezustand.
    Kurz zuvor habe ich von meiner Freundin aus Buenos Aires gehört, dass Argentinien den Copa América gewonnen hat, zwei so erfreuliche Nachrichten an einem Tag bzw. Nacht. Auch Argentinien gehört zu meinen Lieblingsländern, da ich dort ein wunderschönes Jahr verbracht habe. LG Marie

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