Das Ende des Sommers 2001

Es war irgendwann zu dieser Zeit, zwischen Ende August und Anfang September, als ich vor zwanzig Jahren nach Italien kam, um zu bleiben. Das wusste ich freilich noch nicht, oder vielmehr hatte ich mir ein Hintertürchen offengelassen. Ich kam als Touristin, machte Urlaub bei der Familie meines Freundes und hatte einen etwas größeren Koffer mitgebracht, denn vom Süden aus ging es hoch in die lombardische Provinz. Dort hatte ich eine Stelle als deutsche Texterin bei einer amerikanischen Kosmetikfirma bekommen. Einen Praktikumsplatz zunächst, immerhin für ein minimales monatliches Gehalt. Ich weiß jetzt, dass es in Italien nicht Standard ist, auf einer Praktikantenstelle bezahlt zu werden. Obendrein hatte ich das Glück, bei Verwandten meines Freundes unterzukommen, die im Nachbarort wohnten. Meine Zelte in Deutschland hatte ich noch nicht abgerissen, es war ein Auswandern auf Probe. Diese allerersten waren aufregende Tage, im neuen Alltag im fremden Land, aber sie fühlten sich auch ein bisschen wie ein verlängerter Sommerurlaub an. Ich lebte weiterhin aus dem Koffer, in einem kleinen Zimmer zur Untermiete. Am Nachmittag nach der Arbeit ging es mit Kollegen auf einen Aperitivo oder eine Pizza. Wir waren Stammgäste in einer kleinen Bar im Ort, manchmal fuhren wir nach Como an den See. Die neue Tätigkeit entpuppte sich als etwas, das meinen Vorstellungen überraschend nahekam. Ich durfte schreiben. Der Schönheit dienende Produkte in schöne Worte packen, die Kundinnen verführen würden. Ich lernte alles auf einmal: das Texten dank einer professionellen Mentorin ‒ Werbetexterin aus Hamburg, die im Team gerade als Freelancerin aushalf, die neue Sprache dank der italienischen Kollegen, die heimischen Gepflogenheiten der Italiener dank meiner Gastfamilie. Es war eine fantastische, durch und durch positive und unbeschwerte Zeit. Bis zu jenem Tag …

Wenn man mich viele Jahre später fragte, wie lange ich schon in Italien lebe, zögerte ich manchmal mit der Antwort, schwankte zwischen 2000 und 2001, war einen Augenblick lang unsicher. Bis ich eine Eselsbrücke fand, indem ich mich an das Ereignis erinnerte, zu dem sich Menschen weltweit fragen:

Wo warst du damals, als …?

Zwei oder drei Wochen nach meinem Arbeitsbeginn in Italien saßen wir nachmittags im Büro, als eine Kollegin fassungslos den Telefonhörer auflegte. Sie hatte mit ihrer Freundin in Amerika gesprochen. Es war der 11. September 2001. Eine halbe Stunde später wurden wir aufgefordert, nach Hause zu gehen. AVON, als amerikanischer Konzern, ergriff diese Sicherheitsmaßnahme aus Furcht vor weltweiten Angriffen auf amerikanische Ziele. Wir verließen die Firma, aber kaum einer ging nach Hause. Wir waren viel zu irritiert, und eine Gruppe von Kollegen beschloss, nach Como zu fahren. Dort setzten wir uns in eine Hotellobby und sahen CNN. Die Bilder, die wir erst später oder wahrscheinlich nie wirklich begriffen. Ich weiß nicht mehr, ob unsere Büros gleich am nächsten oder erst am übernächsten Tag wieder öffneten, aber eine Zeit lang gab es Taschenkontrollen am Eingang und eine bis dahin nicht gekannte Verunsicherung schwebte in den Gängen.

2001, das Jahr der Veränderungen. Für mich persönlich waren es positive, mit einem gelungenen Neubeginn in einem fantastischen Land, mit netten Kollegen und einer Tätigkeit, die sich endlich richtig anfühlte. Für die Welt hingegen war es der Auftakt zu neuen politischen Krisen. Mich betreffend, habe ich beschlossen, jetzt einfach immer zu sagen, dass ich schon seit zwanzig Jahren in Italien lebe. So vermeide ich die Erinnerung an die Jahreszahl. Leider gibt es keine ähnlich einfache Lösung, damit die Welt endlich die Kurve kriegt und einen Weg findet, raus aus der allgegenwärtigen Angst vor Terrorismus, die damals gesät wurde. Auch der Sommer 2021 fand mitten im August ein abruptes Ende mit grauenhaften Bildern, die uns fassungslos vor den Bildschirmen sitzen ließen und der Hoffnung auf Entspannung einen neuerlichen Tritt in die Magengrube verpassten. Wie gerne hätte ich an dieser Stelle ein anderes, ein positives Resümee gezogen.

Titelbild: Symbolbild von Pexels, Photo 1008155.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

15 Kommentare zu „Das Ende des Sommers 2001

  1. Immer wieder kann ich nur sagen, Hut ab vor deiner Entscheidung, einen „verlängerten Sommerurlaub“ in Italien zu verbringen und mutig etwas ganz neues zu beginnen, liebe Anke.
    Am 11. September 2001 kam ich gerade mit einem unserer Kinder vom Arzt. Mein Mann hütete vor dem Fernseher unsere anderen beiden und sagte fassungslos zu mir, ich müsse mich unbedingt zu ihm setzen. Es wäre nicht zu glauben, was in den USA gerade schreckliches passierte.
    Unsere Kinder waren Gott sei Dank noch zu klein um mitzubekommen, was auf dem Bildschirm zu sehen war.

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    1. Ich staune auch über meinen Mut, aber es war der richtige Moment, einen neuen Beruf suchend und noch ohne Verpflichtungen anderen gegenüber. Erinnern sich denn deine Kinder jetzt an die Bilder, sie dachten sicher etwas wie: Seit wann schauen unsere Eltern solche schrecklichen abstrusen Horrorfilme, am hellichten Tag.

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      1. Ich glaube nicht. Sie waren zu klein. Unser Jüngster war gerade zwei. Aber inzwischen haben sie die schrecklichen Bilder mit vollem Bewusstsein immer wieder im Fernsehen gesehen. Da verschwimmt auch einiges in der Erinnerung.

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  2. Aber ich denke auch, man muss schlimme Ereignisse auch nicht zu nah an sich ranlassen. Immerhin haben wir alle nur ein Leben und sollten es genießen und jeder für seinen kleinen Kosmos möglicherweise dafür sorgen, dass zumindest wir nicht zu Umweltkrisen oder Terror beitragen.
    Wenn sich ALLE daran halten, ist die Welt ein noch besserer Ort zum Leben…
    LG Nicole

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    1. Natürlich, es bleibt einem gar nichts anderes übrig, sonst wäre man nur noch am Verzweifeln. Ein schöner Gedanke, dass nur ALLE achtgeben müssten, so zu leben und zu handeln, dass sie selbst nicht beitragen zu Unrecht und Krisen aller Art. Das wäre schon mal ein Anfang. Liebe Grüße zu dir!

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  3. So eng liegen alle Facetten des Lebens beisammen.
    Ich weiß noch, dass mich, meinen Mann und meine Kollegin die Nachricht in der Buchhandlung erreichte, und dass kurz darauf sämtliche Internetverbindungen zusammenbrachen. Unsere großen Töchter waren in der Grundschule, aber abends saßen wir als gesamte Familie vor den Nachrichten.
    Und noch Jahre später konnte niemand „Only time“ von Enya hören ohne die Bilder im Kopf zu bekommen.
    Es ist tatsächlich Wahnsinn, was in der Welt passiert und dass wir als Gesamtkonstrukt „Menschheit“ offenbar nur sehr wenig lernfähig sind.
    Umso schöner, dass du von positiven Erfahrungen berichten kannst, die sich zu derselben Zeit für dich persönlich ereigneten.
    LG Anja

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    1. Liebe Anja, vielen Dank für deine Zeilen und das Teilen deiner Erinnerung.
      Das „Gesamtkonstrukt“ ist ein treffender Begriff für die Unzulänglichkeiten und ewig neu entfachenden Konflikte der Menschheit, in ihm steckt schon das Komplizierte, das Mühsame. Uns bleibt nur, unser Steinchen zu diesem Konstrukt möglichst guten Gewissens zu formen, auch wenn es nur ein Sandkorn darin ist. Liebe Grüße, Anke

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  4. Wir leben in schizophrenen Zeiten. Es ist durchaus möglich, dass dein privater Laden läuft, dass du hin und wieder glückliche Tage erlebst, aber die Welt insgesamt muss draußen bleiben. Sonst kannst du dein kleines Glück nicht mehr genießen.

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