Die Schule des Lebens

Mamma, sono molto felice. Mi sento davvero grande e responsabile.“ (Mama, ich bin so glücklich. Ich fühle mich groß und voller Verantwortung.)

Unsere Tochter grinst wie ein Honigkuchenpferd und umarmt mich glückselig, was in dieser Phase ihres jungen Lebens selten vorkommt.

Nur einen Tag später ist das Hochgefühl einem Katzenjammer gewichen: „Mamma, non voglio più andare a questa scuola.“ (Mama, ich will nicht mehr zu dieser Schule fahren.)

Tränen kullern übers Gesicht, ich reiche Taschentücher und streiche ihr mitfühlend über die nasse Wange.

Aber der Reihe nach. Montag, der 13. September, war nach kurzen Sommerferien von nur drei Monaten der erste Schultag für vier Millionen italienische Kinder und Jugendliche. Für unsere Älteste war es viel mehr und alles auf einmal. Neue Schule, neue Klassenkameraden, neue Lehrer, aber vor allem: Schluss mit kurzen Wegen zu Fuß, Mama-Taxi und Schulbus. Mit Beginn der Superiore (Oberschule von der 9. bis zur 13. Klasse) heißt es für sie wie alle Vierzehnjährigen, unabhängig zu werden. Und dazu gehört der mutige Sprung ins kalte Wasser, sprich, den öffentlichen Nahverkehr. In ihrem Fall bedeutet das: mit dem Bus zum Bahnhof, mit dem Zug nach Varese und dort nochmal ein ganzes Stück zu Fuß. Im August konnte sie es kaum erwarten und ging mit ihren Freundinnen auf die Teststrecke. Den ersten verwegenen Versuch, einen Bus an unserer Haltestelle zu nehmen, brachen sie nach einer Stunde vergeblichen Wartens ab. Zwei Busse sollten in diesem Zeitraum fahren, keiner kam wirklich. Bei mir flackerten sofort Erinnerungen an meine Zeit ohne Auto auf, als tapfere Fußgängerin in der italienischen Provinz. Im August verkehrten schon damals nur die allerwenigstens Busse tatsächlich.

„Hast du denn die Fußnoten studiert?“, fragte ich ahnungsvoll.

„Was willst du? Der Plan gilt von Juni bis Anfang September!“, beharrte sie trotzig.

„Die Fußnoten, mein Kind, winzig kleingedruckt am unteren Rand“, erklärte ich und fand den Beweis für meine Vermutung auf der Internetseite des Busunternehmens.

Anfang September gelangen die ersten Testfahrten, wir fanden heraus, wie die Abonnements funktionieren, und zwei Tage vor dem ersten Schultag erschien sogar der neue Fahrplan online. Unsere Tochter war immer noch nervös, fühlte sich der Herausforderung aber gewachsen. Wie aufregend die erste Woche mit den Mezzi Pubblici, den öffentlichen Verkehrsmitteln, werden würde, ahnten wir freilich nicht. Die Leute reden viel Schlechtes, aber wie man weiß, wird gern übertrieben. Nichts liegt mir ferner. Und doch: Die Kombination der Ereignisse der ersten Woche bot schon fast alles, was man sich nicht gewünscht hatte. Die Fahrt mit den Öffentlichen wurde eine Achterbahnfahrt der Gefühle in sechs Episoden.

Tag eins: Glückliche Generalprobe

Der Montag, siehe oben, verlief wie am Schnürchen. Es war allerdings auch noch kein richtiger Tag, sondern ein Schulstart light: früh eine halbe Stunde später, eine Stunde eher Schluss. Da es jede Schule anders hielt, verteilten sich die jungen Fahrgäste über den ganzen Vormittag. Bus und Bahn? Ein Kinderspiel!

Tag zwei: Vermasselte Premiere

Das war der Tag, an dem der erste Eimer kaltes Wasser ausgeschüttet wurde. Am Dienstag begann der wahre Schulalltag. Jetzt fuhren alle, wirklich ALLE, mit demselben Zug. Eingeschüchtert stand unsere kleine große Tochter inmitten der Menschenmassen auf dem Bahnsteig, aber sie schaffte es, sich in den Zug zu drängen. Leider wurde sie an der ersten Haltestelle gleich wieder hinausgeschoben und entschied, nicht zu versuchen, wieder einzusteigen, obwohl sie eigentlich eine Station weiterfahren wollte. Nach der Schule verpasste sie ihren Zug knapp und musste wieder zum anderen Bahnhof zurücklaufen. Wie es ihr nach diesem Tag ging, habe ich euch eingangs beschrieben.

Tag drei: Ungeplanter Zwischenfall

Diesmal war unsere mutige Tochter fest entschlossen, nicht die anderen entscheiden zu lassen, wo sie aussteigen würde. Zielstrebig erklomm sie als eine der ersten den Zug und flitzte in die obere Etage. Als die meisten wieder an der ersten Haltestelle hinausströmten, blieb sie sitzen, um wie geplant weiterzufahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Zug bereits zehn Minuten Verspätung, und nun dauerte es ewig, bis er … Nein, er fuhr gar nicht weiter. Eine Durchsage klärte schließlich auf, dass der Zug wegen eines Defekts die Fahrt nicht fortsetzen würde. Also doch aussteigen. Schade nur, dass jetzt die Zeit knapp war und sie den nun längeren Weg rennen musste.

Tag vier: Fast schon Routine

Gut gewappnet und vermeintlich auf alles vorbereitet, verlief die Reise ohne besondere Vorkommnisse. Stolz erzählte unsere Oberschülerin am Nachmittag, es sei unterwegs sogar recht unterhaltsam: Im Bus, am Bahnhof, auf dem Weg träfe sie immer wieder ehemalige oder neue Klassenkameraden. Die Freude über den erfolgreich absolvierten Schulweg währte eine knappe Stunde, dann tobte sie schimpfend durch die Wohnung. Für den folgenden Tag gab es die unheilvolle Ankündigung:

Sciopero!!! (Streik)

Dass es früher oder später einige davon geben würde, war uns klar. Aber so früh, am Freitag der allerersten Schulwoche? Nun ja, streiken ist erst dann schön, wenn man die Fahrgäste so richtig ärgern kann. Nach Recherche im Internet und Ansagen im Radio stellte sich heraus, dass die Verbindungen am Morgen noch gesichert seien, für den Rückweg müsse man sich arrangieren.

Tag fünf: Wenn die Züge stillstehen

Der Papa übernahm am Tag des „Sciopero nazionale del trasporto pubblico locale“ (Nationaler Streik im öffentlichen Personennahverkehr) die Retterrolle und unterbrach die Arbeit, um seine Tochter mit dem Auto sicher nach Hause zu bringen. Nicht ohne sie bei dieser Gelegenheit auf eine Pizza auszuführen. Wie ließe sich einem Freitag, dem 17., ein köstlicheres Schnippchen schlagen?

Tag sechs: Alle Schleusen auf

Ja, ihr lest richtig. Auch samstags ist jetzt Schule. Der Wecker unserer Tochter klingelt wie in der Woche gnadenlos um 5.30 Uhr. Gleich am ersten Samstag wurde es ernst mit kaltem Wasser, nämlich in Form von Niederschlag. Nun ist es in diesen Zeiten leider oft so, dass es nicht einfach regnet, sondern schüttet. In Deutschland Starkregen genannt, sind es hier theatralische „Bombe d’Acqua“, die für Chaos sorgen. Bus oder Bahn kamen zum Glück (diesmal) nicht in Schwierigkeiten, aber der Fußweg wurde zum Fußbad und Schuhe und Socken trockneten kein bisschen während der vier Stunden Unterricht. (Unglaublich, dass es in der Schule keine Fußbodenheizung gibt!)

Es ist nun unsere dringende Mission, wasserfestes Schuhwerk zu besorgen. Dann dürfte unsere Große auf alles vorbereitet sein. Bis zu den ersten Schneeflocken. Da bricht erfahrungsgemäß jeglicher Verkehr zusammen, und viele Italiener bleiben einfach zuhause. Auch die Schüler? Wir werden sehen. Eins steht fest: In Italien ist die tägliche Fahrt mit Bus und Bahn eine wahre Schule des Lebens. Die fürs Praktische. Mit vierzehn ist es auch allerhöchste Zeit dafür, meint ihr nicht?

Unser Bahnhof. So schön leer war er nur zu Zeiten des Lockdowns, ich fotografierte ihn, als ich im März für meinen deutschen Reisepass nach Milano fuhr. Die Geschichte zu diesem spannenden Abenteuer könnt ihr hier nachlesen: Rosso Relativo oder mein verbotener Bummel durch Mailand.

Titelbild: Einen Schalterservice gibt es an unserem Bahnhof seit einigen Monaten nicht mehr. Self Service ist angesagt, verbunden mit der Hoffnung, dass der Fahrkartenautomat funktioniert und die Leute vor einem daran nicht den Verkehr aufhalten. Besser, man hat ein Abo und kann durchlaufen.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

19 Kommentare zu „Die Schule des Lebens

  1. Als unsere Kinder nach der sechsten Klasse von unser beschaulichen Schule in Lebus (10km von Frankfurt entfernt) zur Schule nach Frankfurt wechseln mussten, blutete uns als Eltern das Herz. Ein unübersichtlicher Schulkoloss. Zu meiner Zeit kannte jeder Lehrer jeden Schüler und umgekehrt. Die Zeiten sind leider lange vorbei. Hinzu kam die Busverbindung. Aus Kostengründen fuhr nur noch jede Stunde ein Bus, der dann entsprechend voll war mit Schülern aus Lebus und den umliegenden Dörfern, die alle keine Wahl hatten und Richtung Frankfurt pendeln mussten. Oft blieben Kinder an der Haltestelle stehen, weil nicht alle zusteigen konnten. Eine schreckliche Zeit, in der wir dann oft selbst gefahren sind. Ich fühle mit euch und eurer Tochter, wobei ich immer dachte, Deutschland sei im Hinblick auf schlechte Erreichbarkeit der Schulen, für mich Einsparung an der völlig falschen Stelle, Vorreiter. 🚎
    Bettina

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    1. Tatsächlich? In Deutschland kannte ich diese Probleme nicht, aber ich lebte zuletzt in Leipzig, wo es regelmäßig Busse und Bahnen gab. Wenn man wie ihr weiter draußen wohnt, sieht das anders aus. An Streiks kann ich mich eigentlich nicht erinnern, hier stehen die ständig auf dem Programm. Ich hatte gedacht, im Hinblick auf die pandemische Situation würde man mehr Verkehrsmittel einsetzen, oder die Schulen würden zeitversetzt beginnen … wahrscheinlich dachte das der Verkehrsplaner und der Schulplaner vom jeweils anderen, und alles blieb, wie es war. Hoffen wir mal, dass wir auch in dieser Hinsicht gut durch den Winter kommen. 🤞

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  2. Danke für diesen lebendig geschriebenen Beitrag. Ich könnte mir vorstellen, dass die italienisch sprechenden Töchter den Schreibstil ihrer „des Deutschen mächtigen“ Mutter einmal bewundern werden (?) (Und wenn nicht, so wird unsere deutsche Sprache vom italienischen Sprachduktus(?) durchflossen.

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    1. Gerne! Mal schauen, wie das mit der deutschen Sprache bei meinen Töchtern noch weitergeht. Die Basis ist erstmal da, und zu gegebener Zeit im entsprechenden Umfeld kann die Saat dann richtig aufgehen 😊

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      1. Durch solche Verbindungen zwischen 2 an sich sehr unterschiedlich empfindenden Völkern lernen wir wohl sehr viel von der anderen Seite. Inwieweit das dann auch umgekehrt ist, muß man/frau sehen…

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  3. Puh… Da wird deine große kleine einen langen Atem brauchen. Das klingt viel schlimmer als das S-Bahn Chaos hier bei mir in München. Nach einem Jahr, wird sie aber sicher weder Streik noch Regen noch übervolle Züge noch aus der Ruhe bringen. Liebe Grüße

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    1. Oh ja, das hoffen wir. Wenn alles schon mal passiert ist, ist sie besser gewappnet. Dabei hatte sie auch keine Chance, die Öffentlichen in Begleitung kennenzulernen, da ihre Eltern so gut wie immer und zwangsläufig mit dem Auto unterwegs sind, auf Strecken, wo gar keine Busse oder Bahnen verkehren. Wenn wir in einer Stadt wie München leben würden, wäre das anders. Wer fährt da freiwillig Auto inklusive Parkplatzsuche? Liebe Grüße an dich!

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  4. Das ist taff! Die deutschen Schulkinder, mag ich behaupten, sind, was öffentliche Verkehrsmittel anbelangt, verwöhnt. 5 Minuten später gleicht hierzulande einer Katastrophe. Erzähl das mal jemanden in Italien! 😄 Ich erinnere mich an die Verkehrssituation in Rom als ich rechtzeitig (!) mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Flughafen Fiumicino musste. Oft war mir zum Heulen zumute. Dabei war ich 10(!) Jahre älter als deine Tochter jetzt.
    Ich hoffe, sie beißt sich durch und nimmt es gelassen. Denn der Nahverkehr ist eine feine Schule dafür, scheint mir.

    P.S. Eine witzige Anekdote fällt mir dazu ein. Als der Römer frisch mit mit mir in Frankfurt wohnte, fragten seine römischen Freunde natürlich wie es ist, in diesem Frankfurt. „Beh, niente di che… però qui e‘ tutto funzionale. Sopratutto i mezzi pubblicci.“ Seine Freunde staunten, dass Züge, Trams und Busse tatsächlich pünktlich waren. Und das meist auf die Minute.

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    1. Das hoffen wir auch, sie kämpft sich durch. 💪
      Sehr lustig und womöglich auch treffend, das Frankfurtbild deines Römers. 😃 Das mit dem Funktionieren ist ja nicht immer ein Kompliment aus italienischem Mund, so nach dem Motto: Die Deutschen leben nicht, sie funktionieren. Stimmt alles, und ein bisschen Improvisation ist schön und aufregend, aber was den Schulweg meiner Kinder betrifft, fände ich es schon klasse, wenn die Verkehrsmittel einigermaßen funktionieren würden. Vielleicht war die erste Woche nur eine Art Boot Camp, organisiert, damit die neuen Fahrgäste gut abgehärtet sind. 😂

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  5. Oh je oh je … eigentlich soll/will sie nur etwas lernen, oder? Ein Armutszeugnis überall auf der Welt. Mit Corona konnten die Kids zu Hause lernen, warum geht das nicht (zumindest teilweise) auch nach Corona?

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    1. Am Samstag wäre ich unbedingt dafür, von zu Hause zu lernen! Aber grundsätzlich gönne ich den Jugendlichen schon das echte Leben jetzt. In den ersten Tagen „lernten“ sie sich erstmal durch ihre Stories auf IG „kennen“, ich war entsetzt als ich das hörte. Mittlerweile hatten sie Gelegenheit, auf dem Schulweg oder dank eines gemeinsamen Mittagessens nach der Schule in der Stadt, erste echte Kontakte zu knüpfen.

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