11.11.1982. Faschingsauftakt? Abgeblasen!

Ich könnte wetten, morgen passiert es wieder. Jedes Jahr am 11. November fällt mein Blick elf Minuten nach elf auf die Uhr. Keine Ahnung, wie ich das hinkriege. Leider tönt im Büro keine Glocke zur großen Pause. Ich brabbele dann unbemerkt vor mich hin und tröste mich mit trockenen Crackern in Ermangelung von Fettgebäck. In Italien versteht niemand, was der 11. November mit Karneval zu tun hat, der ist schließlich Ende Februar. Während ich mich an meine Kindheit erinnere und daran, dass es in der Schule immer eine extralange Pause gab, wir Schüler grölend in den Speisesaal zogen, wo Pfannkuchen, Konfetti und lustige Reden auf uns warteten, frage ich mich schon, warum dieser Anlass ausgerechnet in der DDR so offiziell begangen wurde. Ein dekadentes Treiben, das bei uns übrigens Fasching hieß, nicht Karneval. Um das Volk bei Laune zu halten? Brot und Spiele? Provokante Reden gegen die Regierung, so wie heute am politischen Aschermittwoch, gab es jedenfalls nicht. Ich habe keinen blassen Schimmer mehr, was geredet wurde, und ob das lustig war. Für uns Schulkinder war die Hauptsache, dass am 11.11. um 11:11 Uhr der Unterricht unterbrochen wurde und die große Pause länger ausfiel als sonst.

Am 11.11.1982 allerdings machte uns kein Geringerer als Leonid Iljitsch Breschnew einen Strich durch die Rechnung. Der hatte sich erlaubt, am Tag zuvor das Zeitliche zu segnen. Das entsprechende Alter hatte er, krank war er auch. Aber zwei, drei Tage hätte er es schon noch aushalten können, um uns nicht den Spaß zu verderben. Es scheint mir gestern, so genau erinnere ich mich an den Moment, in dem mir flau im Magen wurde. Etwa zwanzig Minuten vor der heiß ersehnten Pause kam unerwartet der stellvertretende Direktor in unser Klassenzimmer. Ohne buntes Papphütchen, mit bitterernstem Gesicht. Er überbrachte die Nachricht, die unsere kleine Welt auf den Kopf stellte. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Erst war da ein „Was für ein Spielverderber, ausgerechnet heute!“. Keine zwei Sekunden, dann wurde der trotzige Feierwille brutal verdrängt von: „Breschnew ist tot. Und jetzt? Jetzt kommt Krieg. Ohne ihn werden uns die imperialistischen Kriegstreiber angreifen.“ Dass ich nicht die Einzige war, die beunruhigende Gedanken dieser Art hatte, erfuhr ich Jahrzehnte später bei einem Klassentreffen. 1982 waren wir zehn Jahre alt.

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Unbeschwertheit und Angst lagen so dicht beieinander, für uns Kinder, die wir doch gut behütet inmitten des Kalten Krieges im Warmen aufwachsen durften. Seltsam närrische Zeiten.

Titelbild: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

47 Kommentare zu „11.11.1982. Faschingsauftakt? Abgeblasen!

      1. Also an 1973 kann ich mich dann doch nicht persönlich erinnern. Mir ist aber auch bekannt, dass es Ulbricht ging wie vielen anderen: aus dem Leben aus dem Sinn, neue Besen kehrten ja besser. Muss mal meine Schwester fragen, die spielte wohl mit ihrem Fanfarenzug zu diesen Weltfestspielen auf.

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  1. Ein paar Spaghetti um die Ohren und im Büro kommt Faschings- Karnevals oder Fassenachtstimmung auf. Nur mit „Helau!‘ wird’s vielleicht schwierig.. Nicht verzagen, der Leo ist längst (wie schnell die Zeit vergeht) begraben. Salute (Chianti statt Kölsch ist vielleicht sogar die bessere Wahl)! 🍷🍷

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    1. Gute Idee, aber die Schweizer Franken sind noch farbenprächtiger. Ich werde in der Kaffeepause unter einem Vorwand sammeln, und die Scheine dann um 11:11 Uhr als Konfettiregen in die Büros pusten. Alle werden großen Spaß haben! 😉🎉

      Närrische Zeiten … no comment. 😭

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      1. Dein Einfallsreichtum ist wieder grandios, Tom! Danke dir für diese wertvollen Tipps, wie ich auf der Beliebtheitsskala in der Firma unerreichte Höhen erklimmen kann. 😉💪

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    1. Klar, dass ich nicht selbst drauf gekommen bin. Nächstes Jahr besorge ich „confetti“ in allen Farben. Dann denken die Kollegen zwar, bei mir gab es eine Hochzeit, Geburt, Taufe oder Laurea (Hochschuldiplom), aber egal. Ich werde sie aufklären. 👍😂
      Wo ist denn dein „bei uns“?

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  2. Vermutlich hat die frühe Schule dazu beigetragen, dass du immer noch um 11:11 Uhr am 11.11. auf die Uhr schaust und auf bomboloni und lustige Reden (Meetings?) hoffst. Vielleicht solltest du eine neue Tradition einführen und mir Tröten und Trompeten in die Kantine ziehen? 😉

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    1. Bomboloni .. so sagt man im Süden, stimmts? Hier heißen die Pfannkuchen lustigerweise „Krapfen“. Ich habe zu spät dran gedacht, nächstes Jahr werde ich welche holen und die ultimative Büro-Party schmeißen.👍😂

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  3. An die Nachricht vom Tod Leonid Breschnews erinnere ich mich noch sehr gut. In der großen Pause haben wir dann darüber gesprochen und ich ließ mich dazu hinreißen zu sagen, dass es Erich nun wahrscheinlich auch bald erwischen wird, weil sein bester Kumpel das Zeitliche gesegnet hat. Von der großen Schwester einer Klassenkameradin erhielt ich in der nächsten großen Pause den „Hinweis“, solche Bemerkungen zu unterlassen. Sie würde es sonst dem Direktor melden und das würde nicht lustig. 😒 An den 11.11. kann ich mich in diesem Zusammenhang nicht erinnern 🤷‍♀️. Na ja, irgendwie stand ich auch unter Schock 😉 B.

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    1. Der Personenkult war schon Mist. Und Witze durfte man nicht reißen. Deshalb schreibe ich ja auch, dass ich keinen blassen Schimmer mehr habe, welche Reden damals zum Fasching geschwungen wurden. Die mussten bestimmt vorher genehmigt und freigegeben werden.
      Hab einen schönen Tag, mit oder ohne Fasching! 😀

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      1. Ja, den Beitrag hatte ich gelesen. Da ich die heutige politische Satire in Deutschland nicht kenne, über die er ja auch schreibt, konnte ich mich dazu nicht äußern.
        PS: Dir kann ich es ja verraten: Ich bin auch ein Faschingsmuffel.😂

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      2. Man muss sich ja auch nicht zu allem äußern oder dazu veranlasst fühlen. In den nächsten Tagen werde ich ein Gedicht veröffentlichen. Eine persönliche Abrechnung sozusagen, die ich unbedingt von der Seele haben möchte. Dabei wird es sicher schwer werden, etwas dazu zu sagen, aber es muss auch nicht. Manche Dinge müssen einfach so stehen bleiben.
        LG Bettina

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    1. Danke fürs Lesen!
      Zum Glück keine Angst vor Krieg. Eher allgemein vor der Zukunft, der Klimakrise. Heute trennt der Graben nicht mehr Gesellschaftssysteme, sondern geht mitten durch die Gesellschaft. Arm und reich, Ausländer und Einheimische usw. Unsere Gesellschaft muss offener und vor allem solidarischer werden. Gerade die Kinder machen es uns vor, sie spielen zusammen, machen keine Unterschiede, bevor sie ihnen nicht von den Erwachsenen vorgelebt werden.

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    1. Das freut mich!
      Brandenburg, wo ich her bin, ist sicher auch keine Faschingshochburg wie zum Beispiel Sachsen oder Thüringen. Deshalb finde ich es umso erstaunlicher, dass allgemein in der DDR in den Schulen so ganz offiziell gefeiert wurde. 🤔

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