Denk mal anders

Oder: Wenn das Leben dir Limonen schenkt

… dann bist du vielleicht in Cannero Riviera am Lago Maggiore. Und ich wette, es ist ein fantastisches, zuckersüßes Erlebnis. Mir hat es am vergangenen Sonntag fast die Sinne vernebelt, als wir bei einem spontanen Ausflug in dem uns bisher unbekannten Ort im Piemont landeten. Eine zauberhafte Lokalität mit dem südlichen Flair der Amalfiküste, nur kleiner und intimer. Beinah hätte ich das Schiff zurück nach Luino verpasst. Mit Absicht. Von mir aus hätte aus dem Sonntagsausflug eine ganze Urlaubswoche werden können.

So stelle ich mir das viel gerühmte Dolce Vita vor: ein traumhaftes See-Panorama mit den Burgruinen der Castelli di Cannero, Berge am Horizont, der blaue Himmel über allem, die originellen Sitzgelegenheiten direkt in der Mauer an der Seepromenade, teils herrschaftliche Villen, eine frische Brise trotz sommerlicher Höchsttemperaturen. Dazu der berauschende Duft farbenprächtiger Blüten. (Jetzt im Juli sind es vor allem Hortensien und Jasmin, im Frühjahr ist der Ort für seine Kamelien und Zitrusfrüchte berühmt). Bei einem eisgekühlten Spritz im Schatten habe ich eine Vision: Auf dem Balkon des Hotels direkt an der Uferpromenade sehe ich eine weißhaarige Dame, die am Tischchen sitzt und eifrig den Kugelschreiber über einen Bogen Papier führt. Mein Mann muss natürlich frotzeln, sie würde die ordnungsgemäße Einnahme der Medikamente für regelmäßigen Stuhlgang protokollieren. Ich sehe etwas anderes in ihr. Mich. Also nein, ich sehe eine Schriftstellerin in ihr. Und ihr Bild weckt den Wunsch, mich hier für ein paar Tage zurückzuziehen, von Büro und Familie, um mich in diesem wunderbaren Versteck mit Blick auf den See und die schaukelnden Boote ganz dem süßen Nichtstun und meinen Leidenschaften hinzugeben. Zu lesen, zu träumen, und wenn der Funke zündet, zu schreiben. Das wird nicht gehen? Ihr habt recht. Zunächst einmal nicht, aber ich behalte die Idee im Hinterkopf. Unsere Tochter hat eine andere Vorstellung, praktisch und konkret, nach sofortiger Umsetzung schreiend. So tickt die Jugend.

„Mama, fährst du uns am nächsten Sonntag hierher, damit wir einen Tag am Strand und auf der Liegewiese verbringen können?“

„Euch?“

„Na, mich und meine Freundinnen.“

Ich lächele angestrengt. Leider bin ich selbst keine von denen, die gerne den ganzen Tag in der Sonne abhängen. Aber ich könnte sie fahren und mir ein Plätzchen im Schatten suchen. Dumm nur, dass sich die direkte Autoanfahrt zwei Stunden in die Länge zieht, da wir erst auf die andere Seite des Sees gelangen müssen, von der Lombardei ins Piemont. Ich werde die Überfahrt mit dem Schiff noch einmal prüfen, die Anfahrt, das Parken, das Timing. Puh. Spontane Entdeckungen sind immer noch die besten. Rein in die Schifffahrtsanlegestelle, fragen, wo es als nächstes hingeht, zahlen, zack. Sich einfach überraschen lassen. Ich argwöhne, beim nächsten, akribisch durchgeplanten Ausflug wird das Schiff klein und der Strand überfüllt sein und das Wetter nach einer Stunde umschlagen.

Rückfahrt von Cannero Riviera (Piemont) nach Luino (Lombardei)

Dieses Mal haben wir das Boot auf der Rückfahrt fast für uns allein. Wir genießen es, lassen uns auf dem Oberdeck den Wind in die Haare wehen und fühlen uns ein bisschen schön und reich. Da soll Mr. Alan Howard derweil am Comer See in der Villa Olmo, die er für schlappe 1,3 Millionen Euro einen ganzen Monat lang gemietet hat, die opulenteste Hochzeit des Jahres feiern, schöner kann er es da auch nicht haben. Nur teurer.   

Titelbild: Kein Denkmal, sondern die Skulptur Piramide di Limoni in Cannero Riviera am Lago Maggiore, Region Piemont.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

19 Kommentare zu „Denk mal anders

  1. Am Anfang deiner Geschichte, liebe Anke, schoß mir sofort „Limoncello“ in den Kopf, den ich gekühlt an einem wunderbaren See im Schatten sitzend bei sommerlichen Temperaturen genieße. Herrlich!
    Mein Mann und ich haben gerade erst wieder festgestellt, wie schön und leicht ein Urlaub zu zweit ist, wenn die Kinder erwachsen sind und keine Lust mehr haben mit Papi und Mutti zu verreisen. Allerdings habe ich die Strandurlaube mit unseren Kindern auch gern gehabt, trotz aller Anstrengung. Ich habe leidenschaftlich Sandburgen gebaut, am besten noch mit einem Tunnel hindurch. Unsere Kinder erinnern sich gerne daran.
    Liebe Grüße Bettina

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    1. Danke für den Tipp. Ich hatte hier seit Monaten ein Minifläschchen Limoncello rumstehen, der kam kurz ins Eisfach und jetzt ist er weg. 😂
      Schön und leicht, ja, so sollte ein Urlaub sein. Als die Kinder kleiner waren, war es anstrengend. Jetzt scheint es gerade unmöglich, auf einen Nenner zu kommen. Das mit der Sandburg nehme ich mir mal für dieses Jahr vor, falls die gar nicht mehr so Kleine noch Gefallen dran findet. Danke für deine Anregungen und liebe Grüße an dich!

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      1. Prost, im Nachhinein 😉. Das finde ich nett!
        Unsere Tochter war eigentlich, was Urlaube betrifft, immer recht unkompliziert. Unser Sohn, obwohl jünger, war der erste, der nicht mehr mit uns verreisen wollte. Beim letzten Urlaub zusammen hat er das Hotelzimmer nur zum Frühstück verlassen und auch das war schwierig, weil zu zeitig 🙈.
        Hoffentlich findest du geeigneten Sand zum Bauen und ein bisschen Spaß daran 😉. Liebe Grüße

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      2. Hm, na wenn es ihm gefiel. Wenigstens konnten die anderen Mitreisenden außerhalb des Hotelzimmers unternehmen, was sie wollten. 😂 Danke, ich gebe mir Mühe! Man muss es mal versuchen, das Burgenbauen. 😀

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  2. Du hast so recht! Die spontanen Aktionen sind oft die besten und wenn man sie wiederholt, um ein schönes Gefühl wiederzubekommen, dann wird man oft enttäuscht. Ich muss an Hermann Hesse und sein Gedicht „Stufen“ denken: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne… “ Da geht es zwar um die Phasen oder Stufen, die man in seinem Leben durchläuft, aber ich finde, diese Worte passen zu deinem Text, den heute Abend nach einem sehr anstrengenden Tag gelesen habe. Jetzt fühle ich mich besser, ein bisschen so, als hätte ich einen kurzen Ausflug gemacht. Liebe Grüße Ro

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    1. Das freut mich sehr, liebe Roswitha, dass mein Text für dich zum richtigen Moment die passende Wirkung hatte. Mal sehen, ob und wann wir dort wieder mal hinfahren und wie es dann wird. Auf jeden Fall bestätigt es meine Theorie, öfter mal etwas spontan zu unternehmen, auch ohne vorher lange im Internet zu recherchieren. Es gibt noch so viel zu entdecken, in naher Umgebung. Genau wie in Berlin, du schriebst so schön von der Entdeckung des anderen Friedenaus auf der anderen Seite der S-Bahn-Unterführung. Saluti und ein erholsames Wochenende! Anke

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  3. Der Kommentar deines Mannes zur alten Dame ließ mich sehr lachen. 😄 Ich hoffe dennoch, dass du in naher Zukunft und noch deutlich jünger als die Dame, auf dem Balkon sitzt und dort schreibst – und zwar nicht deine erfolgreiche Einnahme von Medikamenten, sondern richtige Bestseller. 😉

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    1. Danke dir, liebe Eva. Hauptsache, man hat Visionen, sage ich immer. Während ich mit dem Kopf in den Wolken schwebe, sind die meines Mannes eher etwas bodenständig. 😂

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  4. Das hört sich dekadent, entspannt und ganz und gar zauberhaft an. Natürlich schreibt die alte Damen ihre Memoiren oder einen Roman! Fahr einfach nochmal hin und denk einfach nicht 😉 !!!

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  5. Cannero ist wirklich ein toller Ort. Nicht nur zum Abhängen, sondern auch als Ausgangspunkt für Wanderungen auf halber Höhe über dem See. Teils aussichtsreich, teils angenehm schattig in den Wäldern der Esskastanie.
    Liebe Grüße
    Horst

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