SOS aus Wagen Eins

Intercity 745 Ventimiglia – Milano, in Alassio steigen wir zu. An diesem 11. August scheint die Sonne um die Mittagszeit unbarmherzig, wie sie das nun schon seit Monaten tut. Wir haben uns daran gewöhnt. Weniger gewohnt fühlt sich mittlerweile das Tragen einer FFP2-Maske an. Im Zug, Seite an Seite mit fremden Reisenden sitzend, muss es sein. Zum Glück ist der Aufenthalt im wohltemperierten Wagen Eins, 1. Klasse, komfortabel. Wie die Hinfahrt vor einer Woche war, so würde die Rückfahrt werden: angenehm und ohne Zwischenfälle. Davon gehen wir aus. Und dann kommt es doch anders. Aufregender. Aber lest selbst:

Warum geht es nicht weiter? Unser Zug steht im Bahnhof von Genua, der Stazione Genova Piazza Principe. Ich beschließe, mir die Laune nicht verderben zu lassen und stecke meine maskierte Nase zurück ins Buch. Die Klimaanlage dröhnt. Plötzlich hört sie auf zu dröhnen. Und damit, uns frische Luft zu spenden. Puh, bei der Hitze, denke ich und tröste mich mit dem Gedanken, dass dies sicherlich mit dem Halt zusammenhängt und sobald sich der Zug wieder in Bewegung setzt, würde die Lüftung ebenfalls wieder anspringen. Das tut sie nicht. Nach einigen Minuten Fahrt ohne beruhigendes Geräusch, dafür bei merklich steigender Temperatur, mache ich die Probe: Nein, es tritt keine kühle Luft mehr aus den Schlitzen unter dem Fenster, an dem ich sitze. Oh je, noch zwei Stunden bis Mailand. Bei 35 Grad Außentemperatur in einem vollbesetzten Wagen. Aber da ist noch etwas, das nicht stimmt. Oben an der Decke funzeln nur kleine Notlampen, das Licht ist ausgefallen. Das bemerke ich hellwach, als ich in jedem Tunnel – und wir fahren gerade nur durch Tunnel – genervt den Kopf von meinem Buch hebe. Verdammt. So würde ich mich nicht einmal ablenken können. Langsam wird es stickig unter der Maske. Meine Tochter scheint noch nichts bemerkt zu haben. Besser so. Viel besser so. Für alle. Ich lächle ihr tapfer zu, facendo finta di niente (als ob nichts wäre). Doch auch ihr kommt die Information schließlich zu Gehör. Unser Sitznachbar hatte zum Cellulare (Handy) gegriffen, um einen Hilferuf abzusetzen. Seinem Gespräch (mit der Bahnpolizei, wenn ich das richtig verstanden habe) entnehme ich, dass die Situation noch viel bedrohlicher ist, als ich bisher angenommen beziehungsweise am eigenen Leib erfahren habe. Unser Wagen Eins war abgeschnitten vom Rest des Zuges. Die Verbindungstür zum Wagen Zwei war blockiert.

„Siamo bloccati, senza ventilazione e senza luce, e non si può accedere al distributore delle bevande perché è nell’altro vagone.” (Wir sitzen fest, ohne Belüftung und Licht, und wir kommen nicht an den Getränkeautomaten im anderen Wagen heran.)

Als klar wird, dass unser Mitreisender im Namen von allen spricht und die Sache in die Hand genommen hat, uns aus der misslichen Situation zu retten, hören wir ihm aufmerksam zu. Er teilt zum wiederholten Mal die Zugnummer mit und welchen Ort wir gerade passiert haben. Vielleicht könnte man uns an der nächsten Haltestelle helfen? Das Problem beheben oder uns evakuieren. Es seien auch alte Menschen an Bord, die bräuchten dringend Trinkwasser.

„No, il controllore non passerà più, non riesce ad entrare nel nostro vagone.” (Nein, der Schaffner kommt nicht mehr durch, er kommt nicht mehr rein in unseren Wagen.) Unser selbst ernannter Retter schüttelt den Kopf und brummelt etwas wie: „Die kapieren es nicht!“

Eigentlich, denke ich bei mir, möchte ich gar nicht alle Details der Lage erfahren. Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß. Stickig ist es ohnehin. Aber es gibt kein Recht auf Nichtwissen. Richtig ungemütlich wird es bei der Nachricht, die als nächstes die Runde macht. Auch die Toiletten funktionieren nicht. Innerlich hoffe und bete ich zum heiligen Beschützer der Reisenden: Mach, dass Töchterlein nicht auf Toilette gehen will. Dann hätte ich, hätten alle hier, die Brille drauf.

Einige Fahrgäste stehen mittlerweile im Gang und analysieren gestikulierend die Lage. Sie kommen bald einvernehmlich zum Schluss: Si deve essere interrotto il circuito elettrico. (Der Stromkreis muss unterbrochen sein.)

Das Einzige, das weiterhin funktioniert, ist die Durchsage vom Band. (Läuft der Lautsprecher eigentlich nicht mit Strom?) In schöner Regelmäßigkeit teilt man auch uns Eingeschlossenen mit, dass das Tragen einer FFP2-Maske während der gesamten Fahrt verpflichtend sei. Anderenfalls würde man mit Hilfe polizeilicher Gewalt an der nächsten geeigneten Haltestelle beim Aussteigen behilflich sein. Womöglich geht es dem ein oder anderen durch den Kopf, genau das zu riskieren, statt hier drinnen weiter zu darben, in Hitze und mit Durst und vielleicht mit voller Blase obendrein. Solche Überlegungen zielen zwangsläufig ins Leere, würde uns doch keiner helfen, geschweige denn kontrollieren. Was mich betrifft, so fürchte ich bei aller Pein eine Evakuation unseres Wagens am nächsten Bahnhof am allermeisten. Wo würde man uns dann hin verfrachten? In den anderen Wagen wäre sicher kein Platz. Würden wir auf den nächsten Zug warten müssen? In jedem Fall hätten wir keine Sitzplätze mehr. Vielleicht wäre der Stromausfall das geringere Übel.

Plötzlich meldet sich die allein reisende Dame mittleren Alters neben mir zu Wort. Sie denkt bereits weiter. Man müsse, so erklärt sie uns, im Falle, dass wir aus diesem Zug lebend herauskämen, eine angemessene Reisekostenrückerstattung verlangen.

„Così non si può viaggiare in prima classe.” (So kann man nicht reisen in der ersten Klasse.) Nach einer kurzen Pause korrigiert sie sich und fügt hinzu: „In nessuna classe si può viaggiare così.” (In keiner Klasse kann man so reisen.)

Sie überlegt weiter und teilt schließlich ihrem Gegenüber ‒ dem Mann, der das Problem für uns fernmündlich zu lösen versucht ‒ mit, dass sie Wasser dabeihätte, sie könne ihm etwas abgeben. Auch wir haben Wasser dabei. Wir hielten uns bisher lediglich mit dem Trinken zurück, um die Zugtoilette nicht benutzen zu müssen, zumal sie gar nicht zu benutzen wäre. Ich hätte auch Wasser, um es Durstenden zur Verfügung zu stellen. Aber unser Sitznachbar lehnt dankend ab. Er hatte auch explizit von alten Menschen gesprochen, die keine Getränke holen könnten. Meiner Schätzung nach um die Sechzig, zählt er sich offensichtlich nicht zur Risikogruppe.

Nach dem ersten Telefonat führt unser Sprecher noch weitere zwei, offensichtlich mit anderen Notrufstellen. Die Lage wird immer dramatischer, das heißt, die Luft dicker. Auch andere Fahrgäste telefonieren, ob nun mit offiziellen Stellen, um Hilfe anzufordern, oder mit Verwandten, um ihr Leid zu teilen. Ich teile erstmal gar nichts und vertraue auf die Zeit, die in unserem Fall für uns läuft. In einer Stunde wären wir am Ziel. Bitte evakuiert uns nicht, murmele ich innerlich wie ein Mantra vor mich hin. Endlich führt unsere Fahrt nicht mehr durch Tunnel. Ich kann lesen. Dabei bemerke ich zunächst gar nicht, dass auch die Beleuchtung wieder funktioniert. Irgendwann spüre ich einen zarten Windzug über meinem Arm auf der Fensterseite. Tatsächlich! Jetzt rufen es sich auch die anderen erleichtert zu: „Funziona, è tornato tutto a posto!“ (Es funktioniert, alles ist wieder in Ordnung!) Töchterleins Augen grinsen mich an, weniger erleichtert als vielmehr amüsiert über das große Tamtam, das unsere Mitreisenden veranstaltet hatten. Der Mitreisende, dem wir unsere Rettung vielleicht zu verdanken haben, erhebt sich und kommt kurz darauf mit stolz geschwellter Brust und einer gut gekühlten Flasche aus dem Getränkeautomaten an seinen Platz zurück. Ich greife zu meinem lauwarmen Wasser in der Handtasche. Mir graut es vor den Toiletten am Mailänder Hauptbahnhof. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich euch … nicht erzählen werde.

PS: Zugfahren ist auch in Italien, von Zwischenfällen der hier berichteten Art einmal abgesehen, mittlerweile eine sehr günstige und komfortable Alternative zur Urlaubsreise mit dem Auto geworden. Von Mailand aus ans Meer in Ligurien, wo es ohnehin kaum Parkplätze gibt und die wenigen schweineteuer sind, auf jeden Fall zu empfehlen. Immer wieder gerne.

Titelbild: Credits Giorgio Stagni stagniweb.it

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

21 Kommentare zu „SOS aus Wagen Eins

  1. „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen…“ M. Claudius, also dieser Spruch hat sich wieder einmal bewahrheitet, liebe Anke. Man fühlt sich gleich mit erleichtert, wenn man vom wieder einsetzenden zarten Windzug liest. Puh, überstanden.
    LG Bettina

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    1. Genau, und meistens passiert gerade dann etwas, das man hinterher erzählen kann, wenn man gar nicht damit rechnet und super unbeschwert loszieht. Ich war hingegen so besorgt im Hinblick auf unsere Flüge nach Deutschland, man hörte ja nur das Allerschrecklichste, und dann lief alles wie am Schnürchen.
      Aber dieser kleine Zwischenfall war nicht schlimm, eher interessant, die Reaktionen, eigene und die der anderen, zu beobachten. LG Anke

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  2. Liebe Anke,
    Vielen Dank, dass du uns mitgenommen hast auf der abenteuerlichen Heimfahrt. Besonders einen Satz werde ich mir merken: „Es gibt leider kein Recht auf Nichtwissen.“ Leider, ja. Viele Grüße aus Frankfurt, Eva

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  3. Ich weiß, dass man auf solche abenteuerlichen Zwischenfälle gern verzichten kann. Dennoch musste ich an einigen Stellen echt lachen.
    Hat ja scheinbar geholfen, dass du mantramäßig wiederholt hast, nicht evakuiert werden zu wollen. 🙂

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  4. Dein sehr lebendig geschriebenes Erlebnis erinnert mich sehr an unsere letzte Heimfahrt „nur“ von Hamburg nach Köln (im Anschluss an die Schiffsreise). Klimaanlage bei über 30 Grad ausgefallen, ebenso die Toiletten, der Zug voll besetzt, und als wir im Kölner Hauptbahnhof ankamen, um den Zug zu unserer kleinen Stadt zu nehmen, war gerade Christopher Street Day – das wussten wir allerdings zu dem Zeitpunkt nicht -. Gefühlte Tausende von Menschen, Lärm, Dreck, bunt gekleidete Personen – das hat mir allerdings gefallen -, und als Ergebnis bekamen wir nach einigen Tagen das positve Corona-Test-Ergebnis. Die Schiffsreise war sehr schön, aber die Rückreise war Horror.
    Wenn einer eine Reise tut…..

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    1. Da kam ja wirklich alles zusammen bei dir! Corona ist natürlich ein Souvenir, auf das man gern verzichtet. Ich hoffe, es hat dir keine großen Beschwerden bereitet und du kannst mittlerweile mit einem Grinsen von dieser abenteuerlichen Reise berichten. Danke für deinen Kommentar und liebe Grüße zu dir! Anke

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      1. Liebe Anke, Du schreibst wirklich immer so erfrischend, das gefällt mir gut.
        Die Erinnerung an diese Zugfahrt mit dem Ergebnis „Corona“ verblasst, die Erinnerungen an die eigentliche Reise davor waren dagegen sehr schön. Während der Quarantäne hatte ich keine großen Beschwerden, nur das Gefühl, „eingesperrt zu sein“ fand ich furchtbar, das erinnerte mich an ein Erlebnis aus der Kindheit.
        Mach weiter so, liebe Grüße, Marie

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      2. Ich geb mir Mühe. 😉 Vielen Dank, liebe Marie.
        Gut zu hören, dass du keine argen Beschwerden hattest. Und ja, das hat unsere Psyche gut eingerichtet, dass wir uns auf lange Zeit am besten an das Schöne und Positive erinnern.
        Alles Gute! Anke

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