Im Oratorio oder Ferienspiele mit Wegweiser

Endlich Ferien, sollte man denken. Aber wenn es sich um die drei Monate Schulferien der Kinder handelt und man selbst noch auf seine drei Wochen im August warten muss, sieht die Sache Anfang Juni anders aus. Wir Eltern sind nicht erleichtert und auch nicht wirklich froh. Ich drehe nervlich ein bisschen frei und leide unter meinem Mental Load, wie denn nun alles laufen soll. Da beginnen wieder die nächtlichen Taxifahrten zur Diskothek und die Sorge um die heile Heimkehr der Großen, während die Kleine zum ersten Mal ins Oratorio* im Nachbarort geht. Die Ferienspiele der Kirchengemeinde haben wir all die Jahre nicht in Erwägung gezogen. Allein schon, weil wir selbst nicht dazugehören, zur Kirche. Aber auch, weil deren Angebot nur ganze vier Wochen abdeckt, und dann muss man weitersehen. Zehn Jahre lang waren wir mit unseren beiden Mädels, die Große ab der ersten Klasse, später kam die Kleine dazu, treue „Kunden“ bei der Ferienbetreuung einer Kooperative namens Baobab, die auch die Nachmittage zu Schulzeiten bestreitet und die Kinder schon kennt. Es hieß, im Oratorio koste es weniger, und nach den ersten vier Wochen kam immer ein ganzer Schwung Kinder mehr zu Baobab, nämlich die, die nach dem Oratorio keine familiäre Lösung hatten. Leider fühlte sich die Kleine im vergangenen Sommer nicht mehr wohl am gewohnten Ort, da kaum mehr Kinder ihrer Altersgruppe dabei waren. „Alle anderen gehen ins Oratorio“, maulte sie und bestand darauf, dass wir uns informierten. Wenn ihre Klassenkameradinnen dort wären, warum nicht? Vier Wochen sind erstmal besser als gar nichts. Ich brachte noch den Einwand, dass man uns als Ortsfremde (und nicht der Kirchengemeinde Angehörende) womöglich keinen Platz geben würde, wenn die Nachfrage zu groß sei. Aber mit dem Besuch der Elternversammlung im Frühjahr und umgehender Anmeldung ergatterte ich einen der 170 Plätze. Ja, einhundertsiebzig Teilnehmer soll es geben, von der ersten bis zur achten Klasse. Für mehr reichen die Räumlichkeiten nicht, die Nachfrage wäre noch höher gewesen. Zu den einhundertsiebzig Kindern kommen dutzende Betreuer, Volontäre und jugendliche Animateure dazu. Ein Gewimmel und Getümmel, sage ich euch. Ich war skeptisch, mich da zurechtzufinden, wurde aber sofort in jeglicher Angelegenheit und Frage herzlich betreut. Der Laden funktioniert, mein Eindruck nach den ersten Tagen könnte nicht besser sein. Alle tragen verschiedenfarbige T-Shirts, bedruckt mit dem Motto: „Via Vai“. Auf geht’s, dann mal losmarschieren, könnte man es übersetzen. Untertitel: Mi indicherai il sentiero della vita. (Du wirst mir den Weg des Lebens weisen.) Zweimal am Tag ist Zeit zum Beten. Wer nun denkt, es ginge kirchlich streng zu, der irrt. Da wird ein großartiges Unterhaltungsprogramm geboten. (Ganz ohne Smartphones, die sich als Wegweiser gerade im sehr jungen Alter nachweislich als nicht vorteilhaft erwiesen haben.) Die Betreuer tönen mit Mikrofonen ihre schwungvollen Reden über den Platz und animieren zum Mitmachen. Als ich meine Tochter am ersten Abend abholen komme, ist der gemeinsame Tagesabschlusstanz auf dem Hof in vollem Gange. Balli di Gruppo im großen Stil. Auch meine Tochter macht mit, ich erkenne sie von weitem, in ihrem giftgrünen T-Shirt. Die Grünen sind übrigens auch die, die bei den Wettspielen am ersten Tag gegen die Gelben, Blauen und Roten gewonnen haben. Als ich die vielen Kinder singen und gruppentanzen sehe, zu der fröhlichen Musik, kommen mir die Tränen vor Rührung. Ich vergesse in solchen Momenten immer, was für kleine Lausegören das sind, wenn sie alle so schön zusammen Spaß haben. Das nimmt mich emotional mit. Ich drehe mich ein wenig von den anderen Wartenden ab, um nicht in Erklärungsnot für meine Tränen zu kommen. Da hilft mir der Text des Liedes, mich wieder einzukriegen. Darin ist nämlich von Gesu die Rede. Ich tupfe mir das Wasser aus den Augen, atme einmal tief durch und kann mich wieder den anderen zuwenden, die zumindest äußerlich keine ähnlichen Betroffenheitszeichen wie ich zeigen. Jesus ist es, der den Kindern den richtigen Weg weisen wird. Na, sei es drum. Bei den ganzen Irrwegen, auf die Jugendliche heute abdriften können, bereitet mir der Gedanke an den Klassiker der Wegweiser am wenigsten Kopfzerbrechen. Auch die Einheitskleidung, die farbigen T-Shirts, finde ich prima. Sie sind schön lang, bedecken Bauch (falls es kühl wird) und Schultern (im Sonnenschein), kein Kind macht individuelle Modenschau und keines fühlt sich ausgegrenzt, weil es bei einer solchen nicht mithalten kann. Da wasche ich das T-Shirt gerne jeden Abend aus, mit zweien kommen wir vier Wochen über die Runden. Ich bin guter Dinge, was ihre Zeit da betrifft, und kann mit weniger familiärer Gedankenlast meiner Arbeit nachgehen.

Die Große hat sich im letzten Moment noch für ein Volontariat als Animateurin entschieden. Man kann ja nicht nur tanzen gehen, drei Monate lang. Sie absolviert es bei Baobab, wo man sie mit großem Jubel begrüßt hat. Acht Jahre lang war sie dabei, die Grund- und Mittelschulzeit umfassend, mit nur einer Zwangspause (für alle) im vertrackten 2020. „Mi hanno presentata come una VIP“ (Sie haben mich wie einen Stargast präsentiert), erzählt sie uns lachend und auch ein wenig geschmeichelt nach dem ersten Tag. Der Kleinen bleibt nach diesem Sommer nur noch der nächste, in dem sie das Oratorio als Teilnehmerin besuchen kann. Aber wer weiß, vielleicht gefällt es ihr so gut, dass sie sich danach auch zu einer Animateurinnen-Karriere entschließt. Tanzen und Singen sind schon mal ihr Ding, und während des Betens muss bestimmt jemand beim Tischdecken helfen oder Spiele aufräumen.  

*Auf Deutsch würde man wohl sagen: Kinder- und Jugendfreizeitstätte der (katholischen) Kirche.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

21 Kommentare zu „Im Oratorio oder Ferienspiele mit Wegweiser

  1. Mich hätte als Kind keiner zur Kinderunterhaltung tagtäglich bekommen.
    Ich bin gerne zur Jungschar gegangen, bin gerne eine Woche mit fremden Gemeinden eine Woche auf Reisen gegangen und drei Wochen mit der Arbeiter Wohlfahrt.
    Aber ich glaube Hort und Kinderbelustigung dazu hätte mich keiner gebracht.
    Gut meine Mutter war Hausfrau der wäre das wohl auch eher nicht eingefallen. 😂
    Aber gut dass es sowas inzwischen überall gibt.
    Ich wüsste gar nicht wie meine Eltern dieses Problem in den 80ern bei uns auf dem Land geregelt hätten.
    Die Frage hat sich für uns ja nie gestellt.

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    1. Ja, wir sind froh, dass es viele Angebote gibt. Auch von Sportvereinen, Kunstzirkeln usw. Wir schicken sie noch je eine Woche zu einem Musikcamp und zum Tennis. Als Kind war ich zweimal in einem Ferienlager, also zwei oder drei Wochen von zuhause weg. Das war am aufregendsten. 😉

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      1. Ich hab es geliebt. Ich hab aber auch den Kindergarten geliebt.
        Alles das wo meine Mutter nicht mit dabei war,
        war super.
        Ich war aber nie das Vereinskind und somit war es schwieriger.
        Aber ich war eine Leseratte ich tat als Kind nichts lieber als irgendwo mit nem Buch sitzen und lesen.
        Meine Mutter hatte eher Probleme mich zum spielen nach draußen zu bewegen.
        Ich bin aber auch als Einzelkind groß geworden, da die 2 Großen 11 und 12 Jahre älter sind als ich ist es halt so ganz anders gewesen als bei den 2en.

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  2. Wie schön, dass ihr etwas Passendes für eure Kleine gefunden habt.
    Und mir wären beim Abholen bestimmt auch Tränen in die Augen getreten, das kann ich sehr gut nachempfinden.
    Herzliche Grüße aus Berlin, wo die Kinder noch eine Weile auf ihre Ferien warten müssen (ebenso wie die Eltern, wenn man es genau nimmt). 😉

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  3. Drei Monate Ferien sind echt eine Steilvorlage für berufstätige Eltern, Betreuung für ihre Kinder sicherzustellen. Hier in Österreich werden deswegen die neunwöchigen Sommerferien schon sehr kritisiert.

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    1. Ein Kollege fordert in diesem Zusammenhang immer, dass die Schule ganzjährig Betreuung anbieten müsste. Eine Utopie, sage ich da nur. In Italien gehört nicht mal Schulspeisung zur Schule. Auch das läuft extra und die Kinder in der Mittelschule müssen von 8 bis 14 Uhr durchhalten, essen dann halb drei zu Mittag, daheim oder eben bei den Kooperativen.

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      1. Ich glaube auch, dass ganzjährige Betreuung eine Utopie ist, sowohl im italienischen System als auch im österreichischen. Der Wunsch ist auch hierorts gut bekannt, nur eine absolute Minderheit der PädagogInnen versteht den, insofern wird die Umsetzung nie tragfähig werden. Mittagessen in der Schule, großer Seufzer! Nächste Utopie!

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      2. Ich kann da von (N)Ostalgie sprechen, denn beides, Schulspeisung und durchgehende Ferienbetreuung, die sogenannten Ferienspiele, gab es in der DDR. Geschimpft und genörgelt wurde da aber auch. Das günstige Essen war nicht schmackhaft genug, die Ferienspiele öde. 🤷‍♀️

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  4. Was für tolle Angebote! Das beruhigt auch gleichzeitig ungemein die elterlichen Nerven, die 3 Monate Ferien überstehen dürfen, während die Arbeit leider nicht 3 Monate pausieren kann. Ganz viel Spaß deinen Teenie-Töchtern, egal ob in der Betreuer-Rolle oder noch als bestens Betreute! 😃 Viele Grüße vom EM-Fieber (Heute: Italien – Albanien – die Stimmung kocht!), Eva

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    1. Danke, liebe Eva. Und natürlich habe ich sofort an dich bzw. den albanischen Römer gedacht, als ich von der EM-Begegnung heute Abend las. Habt einen spannenden Abend! ⚽

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      1. Danke dir, liebe Anke! Nach 22 Sekunden im Spiel war der Römer schon happy. Mehr hat er gar nicht erwartet als ein einziges Tor, auch wenn die Italiener schließlich gewonnen haben. Hab ein feines Wochenende! 😃

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