München, die nördlichste Stadt Italiens

„Madonna mia“, hatte sie schon nach dem Aussteigen aus der S-Bahn gesagt, „was ist denn das für eine Gegend, in der du hier wohnst, Kind?“ Darum bemüht, die Emotionen sowohl bei mir als auch bei ihr ja nicht hochkochen zu lassen, sagte ich im unschuldigsten Unschuldston: „Wieso? Das ist ganz normal für München. Hier wohnen anständige Leute.“

Angela Troni

Risotto mit Otto. Ein italienisches Jahr in München*, ullstein Taschenbuch, 1. Auflage 2011, Seite 354.

Madonna mia!“ oder etwas Ähnliches lag mir auch auf den Lippen, als ich das Buch mit dem albernen Titel „Risotto mit Otto“ aus dem Bücherregal meiner Freundin zog. Es stammt aus dem Jahr 2011, ich hätte bei der Lektüre sogar auf ein Veröffentlichungsdatum fünf bis zehn Jahre früher getippt. Es ist in diesem Stil der superlustigen Frauenromane geschrieben, ihr wisst schon. Heldinnen, die sich emanzipieren wollen, aber davon auf wundersame Weise abgehalten werden: von immer neuen Diäten und den immer falschen Männern. Die frühe Hera Lind, Ildikó von Kürthy, und wie sie alle hießen. Auch die Protagonistin Angela, italienische Studentin im Auslandssemester, rennt in München dem falschen Mann hinterher, obwohl der richtige – ihr ahnt es: Otto – ihr ehrliche Gefühle entgegenbringt. Dass ich das Buch trotzdem mitgenommen und auch recht zügig gelesen habe, lag an meiner Neugier, wie eine Italienerin die Deutschen beschreibt. Oder vielmehr die Bayern.

„ … und dass die Bayern ein recht seltsames Volk sein mussten. Immerhin behaupteten sie, München sei die nördlichste Stadt Italiens, was mir per se sehr verdächtig erschien. Hatten die denn keinen Nationalstolz?“ (S. 9)

Ihre Vorurteile findet Angela genauso bestätigt wie sie München und die Münchner*innen (natürlich) im Laufe der Geschichte lieben lernt. Die Autorin nimmt sich selbst und die Italiener dabei gleichermaßen auf die Schippe wie die Deutschen. Wenn man nicht jedes Klischee auf die Goldwaage legt und vor allem nicht meint, die von der Familia verwöhnte, lebensunerfahrene und Markenklamotten liebende italienische Protagonistin repräsentiere die Allgemeinheit ihres Landes, dann kann man die Geschichte mit Vergnügen lesen. Ein Fünkchen Wahrheit steckt in den ironischen Anspielungen allemal drin. Wenn sie beschreibt, wie die Mitglieder der Familia sich den Hintern aufreißen, um einen Verwandten im Krankenhaus rund um die Uhr zu betreuen und zu versorgen, dann erwähnt sie auch die „Bella Figura“, um die es dabei immer geht. In der Kritik an den Deutschen, die ihr krankes Familienmitglied nur wie vorgeschrieben eine halbe Stunde besuchen und sich darüber hinaus auf die angemessene Betreuung in der Klinik verlassen, schwingt das Wissen um die kulturellen Hintergründe mit. Man erfährt, warum sich die Italiener so anders benehmen. Ein allgemeines und teilweise berechtigtes Misstrauen gegenüber dem staatlichen Gesundheitswesen und der angestrebte gute Eindruck („Bella Figura“) dem Umfeld gegenüber relativieren die gepriesene Selbstlosigkeit.

Ein bisschen habe ich mich bei der unterhaltsamen Lektüre auch an eigene Erlebnisse erinnert. Ich war zwar keine Italienerin in Bayern, aber weltfremd fühlte ich mich auch dann und wann. Zum Beispiel denke ich an meine Zeit als Studentin in Berlin, wenn Angela das ungeschickte Anbandel-Manöver eines Kommilitonen in der Mensa beschreibt:

„Mein Gegenüber, einmal mutig geworden, ließ jedoch so schnell nicht locker und startete einen neuen Versuch. „Wie machst du eigentlich Apfelmus?“ Mir wäre fast das Handy aus der Hand gefallen, und ich starrte ihn an, als hätte er mich gerade gefragt, ob ich ihm meine BH-Größe nennen könne. „Was?“, sagte ich nur, den Blick auf seinen Dreitagebart gerichtet, damit ich ihm ja nicht in die Augen sehen musste.“ (S.161 f.)

Ich sehe mich wieder auf dem Flur meiner Fakultät an der Berliner Humboldt-Uni, als ein unbekannter Mitstudent allen seinen Mut zusammennahm und mich aus dem Nichts heraus fragte: „Gehst du gerne essen?“ Ich war perplex und dachte allen Ernstes, er beziehe sich auf die Mensa und wolle mir seine Essensmarken schenken oder verkaufen. Es muss eine ähnlich peinliche Situation gewesen sein, denn er meinte eigentlich ‒ so verstand ich erst zeitversetzt seine Reaktion ‒ dass wir mal (außerhalb der Uni) zusammen was essen gehen könnten. Ob es eine Einladung gewesen war und er das Essen bezahlen wollte, sei mal dahingestellt und tut auch nichts zur Sache.

Ein weiteres „Kenn ich!“-Schmunzeln regte sich bei mir angesichts der unkonventionellen und für ein Mädchen aus mehr oder weniger geordnetem Hause irrwitzig anmutenden Gepflogenheiten einer WG, wo immer mal ein Bekannter im Zimmer eines abwesenden Bewohners unterkommt. Ich war schon 29, als ich in Hamburg für mein dreimonatiges Praktikum bei einer Zeitschriftenredaktion ein Zimmer in einer WG untergemietet hatte, während die Bewohnerin zu einem Auslandspraktikum gefahren war. Ich weiß nicht mehr, wie ich das WG-Leben mit meinen hohen Ansprüchen an Sauberkeit und Privatsphäre in Einklang brachte, aber manchmal muss man sich einfach ins Leben stürzen. So passierte es mir auch, dass ich nachts im Flur plötzlich einen Fremden vor mir hatte, der erklärte, er sei der Kumpel von dem, in dessen Zimmer er diese zwei Nächte schliefe. Ihr müsst wissen, dass ich damals in Leipzig bereits seit vier Jahren eine eigene Wohnung hatte und FDP wählte, weil ich mich als Bankerin zu den potenziell Besserverdienenden** zählte. Das Praktikum hatte ich zwischengeschoben, um endlich meine wahre berufliche Bestimmung zu finden. Das Besserverdienen ist nämlich nicht alles.   

Was den bayerischen Dialekt betrifft, bilde ich mir eigentlich ein, ihn halbwegs zu verstehen. Im Buch gibt es eine saukomische Szene in einer Bäckerei, in der Angela nur schnell ein Cornetto kaufen will, aber an der Wortwahl der Verkäuferin scheitert. Da schwitzte ich mit der Italienerin mit:

„… „Ois?“, lautete nämlich die nächste Frage der Bäckereifachverkäufern … „Wie bitte?“, fragte ich höflich. Hatte sie nicht eben noch behauptet, es gebe hier kein Eis? … Auch diesmal war die Antwort zwar nicht deutlicher, dafür aber deutlich lauter: „Ois?“ Wieso gingen diese Bayern bloß immerzu davon aus, dass man schwerhörig war, wenn man sie nicht verstand. … Mein Gegenüber hob sichtlich genervt die Augenbrauen und sagte: „Was derfs denn no sei fer Eana?“ Wer um Himmels willen war diese Erna?“ (S.254 f.)

Fazit: Für einen Kurztrip nach München oder den nächsten Sommerurlaub in Italien ist das Buch ein kurzweiliger Begleiter. Und das Risotto im Titel reimt sich natürlich nicht nur auf den altertümlichen Namen für einen jungen Mann. Otto kocht mit Vorliebe italienisches Risotto, das dem Original alle Ehre macht. Die Rezepte, vermutlich aus dem Familien-Repertoire der halbitalienischen Autorin, sind im Text inklusive. Nach dem schnellen Lesen bleibt einem zumindest ein Kochbuch.

*Werbung, unverlangt und unbezahlt. **Die FDP nannte sich in den 90er-Jahren „Die Partei der Besserverdiener“, erinnert ihr euch?

Titelbild: Münchener Rathaus im Sommer 2022, aufgenommen von uns Halbitalienern während der European Championships.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

7 Kommentare zu „München, die nördlichste Stadt Italiens

  1. Das ist das schönste, witzigste und ehrlichste Bücherresümee (ausgenommen natürlich die wunderbaren Buchbesprechungen von Barbara von Kulturbowle), dass ich seit langem gelesen habe, liebe Anke. Normalerweise lese ich diese literarische Kategorie nicht, aber alleine um zu erfahren, welche Klischees noch abgehandelt werden in dem Buch, brenne ich förmlich. Der Römer fragte letztens erst, warum nirgends Deutschlandfahnen (an Wohnhäusern, in Straßen, auf Autos) hängen würden. „Das hätte so ein ‚Gschmäckle‘, wenn hier plötzlich überall Deutschlandfahnen hängen würden.“, gab ich zurück. Daran musste ich denken, als die Autorin schrieb, ob München so wenig Nationalstolz besäße, dass es sich als nördlichste Stadt Italiens bezeichnet. 😄 Hab einen feinen Wochenendspurt und liebe Grüße!

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    1. Danke, liebe Eva! Es freut mich sehr, dass ich dir einen Tipp geben konnte.
      Das mit den Fahnen ist ein Thema, das ich auch ständig in meinem deutsch-italienischen Gemischtwarengehirn wälze. Wenn ich bei uns aus dem Fenster blicke, habe ich in zwei von drei Richtungen (die vierte geht in den Wald, zählt hier mal nicht) eine Italienische Flagge vor der Nase. Besonders in Mode kam es während der Lockdowns, aber danach blieben sie einfach hängen. Ich frage mich auch ständig, warum es hier passt und in Deutschland … unpassend wäre, oder wie du es so nett sagst, ein „Gschmäckle“ hätte.
      Liebe Grüße nach Francoforte und ich wünsche dir, dem Römer und Signorino ein sonniges, entspanntes Wochenende!

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      1. Vermutlich denke ich an die schwarz-weiß Filme, die die NS Zeit abbilden sollen, die in Italien damals im Spätprogramm liefen und Alleen voller Fahnen zeigen? Vielleicht kommt daher das Gschmäckle? 😄
        Liebe Grüße nach Bella Italia und einen schönen Wochenendspurt!

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