Oder: Vier Lektionen für eine Nacht am Flughafen
„Mama, ich habe den Flug verpasst“, so lautet der italienische Titel des legendären Weihnachtsklassikers „Kevin allein zu Haus“. Er kam mir in den Sinn, als ich auf dem Weg nach Dresden zu meiner Mutter wieder auf dem Frankfurter Flughafen hängenblieb. Aber ich jammerte nicht und rief auch nicht nach Mama. Stattdessen haute ich mit der Faust auf den Boardingschalter und stieß dabei ein lautes „Sch…eibenkleister, nicht schon wieder!“ aus. Mir fehlte die Luft. Ich war gerannt wie eine junge Göttin. In Absatz-Stiefeln! Hätte ich geahnt, wie weit es von meinem Ankunftsort bis zum Gate A64 war, ich hätte es bleiben lassen. Ich bin mir meines Alters und untrainierten Zustands, was Langstreckensprints anbetrifft, durchaus bewusst. Als es mit einer Stunde Verspätung in Mailand losging (wegen eines technischen Problems beim Betanken), hatte ich meinen Anschlussflug nach Dresden bereits in den Wind geschrieben. Aber wie heißt es so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Vor der Landung in Frankfurt gab es einige Durchsagen für die Mitreisenden, welche Flüge ein neues Gate hätten und wer eine Umbuchung auf den nächsten Tag bekäme. Von meinem Flug nach Dresden war keine Rede. Sicher war ich die Einzige an Bord, die Freitagabend in die sächsische Landeshauptstadt wollte. Für eine Gruppe, die um den Anschluss nach Bergen zitterte, wurde ein Kleinbus direkt am Flieger zur Verfügung gestellt, der sie ohne Umweg über das Flughafengebäude zu ihrer Maschine bringen sollte. Beim Aussteigen fragte ich die Crew freundlich, aber mit einem gewissen Nachdruck in der Stimme: „Dresden ist schon weg, oder?“ „Da haben wir nichts gehört!“, gab man schulterzuckend zurück. Der Form halber warf ich am Terminal einen Blick auf die Anzeigetafel. Ich glaubte meinen Augen nicht, als ich in der letzten Spalte des Dresden-Flugs las: „Boarding“. Nicht etwa „Closed“. Ich flitzte los. Über Flure und Rollbahnen, mit wehendem Haar und wippendem Rucksäckchen. Meinen Trolley hatte ich in Mailand spontan aufgegeben, als dazu aufgerufen worden war. Egal, er würde nachgeliefert werden, aber ich würde noch heute Abend in Dresden sein. Ich rannte wie um mein Leben. Als ich das Gate erreichte, standen keine Gäste mehr davor. Aber der Schalter war noch besetzt. Ein letzter Funken Hoffnung flackerte auf. Vor einem Jahr waren an gleicher Stelle die Lichter bereits ausgeschaltet gewesen.
Als sie mich sah, schüttelte die Angestellte bedauernd ihren blonden Pagenkopf. Im selben Moment, in dem ich mit der Faust auf den Tisch schlug und fluchte, war es mir bereits peinlich. Ich sah schon bewaffnete Ordnungskräfte anrücken, die mich abführen würden. Aber nein. Die freundliche Schalterdame zeigte zu meiner Überraschung großes Verständnis und machte mir das unnützeste Kompliment meines Lebens: „Sie waren aber schnell!“ Warten hätten sie aber nicht auf mich können. Keuchend stand ich vor ihr und erklärte, dass mir dasselbe bereits vor einem Jahr passiert sei, und ich doch nur den Samstag in Dresden hätte. Sonntagmittag müsste ich für die Rückreise schon wieder am Flughafen sein. Sie nickte mitfühlend, und ich fühlte mich schon ein wenig besser. Nur die Lungen taten nach meinem Höllen-Sprint weh.
Lektion Nummer eins: Ruhig bleiben!
Ich kannte das Prozedere: neuer Flug für Samstagmorgen, Übernachtung mit Abendessen und Transfer zum Hotel. Leider hatte ich aus der Erfahrung vor einem Jahr nichts gelernt. Das wurde mir auf dem Weg zum Hotel schmerzhaft bewusst. Wieder war ich ohne Übernachtungs-Zubehör im Handgepäck unterwegs. Ich hatte nichts. Nicht mal ein Haargummi. Theoretisch hatte ich alles bei mir. Im Trolley.
Lektion Nummer zwei: Die Notausstattung gehört ins Handgepäck (!), nicht in den Trolley.
Angestrengt dachte ich nach. Es würde eine Duschhaube geben. Gab es nicht. Für Gestrandete wie mich hielt man im 4-Sterne-Hotel außer Duschbad und Haarwäsche nur eine Zahnbürste und Zahnpasta bereit. Mir blieb am Morgen nach kurzer Inspektion des Zimmers und aller verfügbaren Requisiten nichts anderes übrig, als mir das Haar mit meiner goldenen Halskette hochzubinden. Das geht! Und wenn man sich nicht abschminken kann, dann bleibt die Schminke eben drauf. Geht auch! Und wenn man kein Deo dabeihat, schmiert man sich nach dem Duschen etwas von der Handseife mit Zitrusduft unter die Achseln. Tada!
Lektion Nummer drei: Es geht. Immer. Irgendwie. Alles.
Und in einer Hinsicht sogar besser als gedacht. Ich hatte eigentlich keine große Lust, nach 22 Uhr ein Abendessen in der Hotel-Lounge einzunehmen, allein an einem Katzentisch. Beim letzten Mal waren wir in Familie gewesen und dieser traurige Aspekt des allein Speisens hatte mich nicht betroffen. Kritisch schielte ich von der Rezeption aus auf die paar Herren und einzelnen Paare, die an der Bar ein Bier tranken oder an den kleinen Tischen etwas zu sich nahmen. Am Check-in neben mir sah ich einen feschen Dreiβigjährigen und hörte ihn zwei Worte Italienisch sprechen. Vielleicht war er auch mit meinem Flieger gekommen? Egal. Ich würde ihn nicht danach fragen. Er würde Ja oder Nein sagen, mich wenn überhaupt mit einem flüchtigen Blick checken und verschwinden. Also ging ich direkt hoch aufs Zimmer, machte mich frisch und wollte gerade den Fahrstuhl zurück in die Lobby nehmen, da stieg der mutmaßliche Schicksalsgefährte aus diesem aus und grüßte mich lächelnd: „Ciao!“ Wir bestätigten uns gegenseitig, mit demselben Flieger gestrandet und um unser Leben gerannt zu sein, um den Anschluss letztlich doch zu verpassen. Dann schlug er vor, das Abendessen gemeinsam einzunehmen. Es wurde ein kurzweiliger, unterhaltsamer Spätimbiss. Wir lachten und sprachen über dies und jenes: den Job, die Familie, Italien, Deutschland, Österreich (sein Reiseziel, auch er war nur für das Wochenende unterwegs).
Am nächsten Morgen, auf dem Flug nach Dresden, ließ ich die abendliche Episode mit einem Lächeln im Gesicht noch einmal Revue passieren. Ich dachte an meine Geschichte vom Supermann, die ich kürzlich hier veröffentlicht habe und insbesondere an den Kommentar, den Mitzi daruntergeschrieben hatte. Nein: Frau soll sich in Gegenwart jüngerer Männer weder verstecken noch irgendwelche Probleme machen. Ich hätte seine Mutter sein können, aber es fühlte sich an wie mit einem netten neuen Kollegen oder Seminarteilnehmer.
Lektion Nummer vier: Für ein gutes Gespräch ist es nie zu spät. Erst recht nicht am falschen Ort und zur falschen Zeit.
Aus dem verlorenen Abend war mit dieser Erkenntnis ein persönlicher Gewinn geworden. Meine Mama erfuhr erst am nächsten Tag, dass ich den Flug verpasst hatte. Sie hätte sich vollkommen umsonst Sorgen gemacht.
Titelfoto: Das ist nicht mein netter Schicksalsgefährte, sondern wie so oft ein Symbolbild von Pexels.
Hab’s zwar nur überflogen; aber die Punkte 1 bis 4 leuchten mir ein.🙋
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Ich hoffe, ich erinnere mich beim nächsten Mal an sie. 😉
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🙋♥️🌿
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Liebe Anke, als ich gerade den letzten Satz deines Beitrags las, war auch ich aus der Puste – nur vom Lesen. Manmanman, wie katastrophal ist doch inzwischen das Reisen geworden. Nichts geht mehr ohne Probleme und/oder Verspätungen.
Deine Beschreibung des Spurts quer durch den Airport versetzte mich sofort zurück in den vorletzten Portugalurlaub, bei dem wir auch das Flughafengelände per pedes und im Galopp durchquerten, aber gottlob den Flieger noch erwischt haben.
Gut, dass du zumindest noch einen relativ schönen Abend hattest!
Nur eins musst du mir verraten:
Wie macht man sich mithilfe einer Goldkette einen Zopf???
Neugierige Grüße Bea 🙂
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Zum Glück war es eine etwas stabilere Kette, nicht so eine allzu filigrane. Und die Haare waren gut gelockt vom Friseur, da ließ sich was machen. 😅
Danke und liebe Grüße!
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Liebe Anke, vielen Dank für diesen humorvollen Bericht. 😃 Naiverweise habe ich mich immer gefragt, wie das so ist, wenn man den Anschluss verpasst. Mehr als “verdammt bescheuert” fiel mir aber dazu nie ein. Darf ich noch einige, ungefragte, aber durchaus aktuelle Tipps geben:
1. Nie über Frankfurt fliegen, wenn es sich vermeiden lässt. Ja, ich weiß, München fliegt Mailand nicht an. 😄
2. Je später der Abflug, desto akkumulierter die Verspätung. Tendenziell sind frühe Flüge selten verspätet. Die späten Flüge haben die akkumulierte Verspätung des ganzen Tages im Rücken. Dass spät abends alles glatt geht, hatte ich seit 2018 nicht mehr. In Frankfurt scherzen wir, dass eine Stunde Verspätung als pünktlich gilt.
3. Bei der Umbuchungsstelle geben sie auch Overnight-Kits aus; Eine Zahnbürste, Zahnpasta, ein großes T-Shirt. Sowas eben.
4. Notfalls gibt es im Frankfurter Fernbahnhof einen Rossmann und einen Rewe, die sehr lange offen haben.
5. Die Crew kann auf ihrem iPad nachgucken, wie das mit deinem Flug so ist. Das machen sie meistens nicht, weil das nichts bringt, die App ewig lädt und dir dringend benötigte Minuten sausen gehen, die du vielleicht zum Rennen brauchst. Und wir können nichts umbuchen.
6. Zu den 50er und 60er Gates, von wo Dresden (Leipzig, Florenz) meistens abfliegt, braucht man nicht rennen. Es sind gerne Außenpositionen (“Busse bringen Sie zum Flugzeug”), d.h. der Boden muss den letzten Bus bestellen und der Kapitän möchte dann auch los (und Feierabend machen). Hier schließt man überpünktlich. Hat das Flugzeug eine Gate-Position (z.B. A18), dann kann man eher auf eintrudelnde Passagiere warten. Kommt eine große Gruppe aus Mailand an, dann wartet man auch noch ein bisschen, weil die Hotelkosten die Wartezeiten und Standgebühren des Flugzeuges überschreiten würden. Das wäre zB dein Beispiel nach Bergen. Hier wurde extra ein eigener Bus organisiert, damit die Gruppe nicht umgebucht werden muss.
7. Niemals das Handgepäck aufgeben. Die Airline schreibt das bei einem vollausgebuchten Flug und es klingt sinnvoll. Aber in Frankfurt kann es sein, dass man es erst Wochen oder Monate später sieht. Möchtest du es dennoch tun, dann lege ein AirTag (oder das Pendant zu Samsung) in den Koffer. Unbedingt auch einen Adresszettel in den Koffer legen, falls der Adresszettel abgerissen wird. Sonst suchen die Gepäckhandler sich einen Wolf.
8. Du kannst darauf bestehen, dass dein Handgepäck ausgespult wird, so dass du es an dich nehmen kannst. Es kann jedoch ziemlich lange dauern oder zu aufwendig sein, so dass der Boden das vermutlich ungerne macht. Ein Loader muss den Koffer erst suchen und Loader haben wir nicht in Frankfurt. 😄 Es herrscht Personalmangel.
9. Wenn die Crew sagt “Darüber wissen wir nichts.” ist der Flug weg. 15 Min vor Landung erhalten wir aus dem Cockpit eine “Arrival Pil”. Dort sind alle Flüge, die theoretisch noch erreichbar sind, aufgelistet. C für critical, das wird knapp. X für cancellato. 🙈 Ich sage auch gerne “Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.”, auch wenn ich weiß, dass das nichts mehr wird, weil sämtliche Diskussionen an Bord keinen Sinn ergeben. Der Passagier verstopft eventuell sogar den Gang. Die anderen Gäste wollen raus, kommen nicht an ihm vorbei. Und wir können ihm keine Alternative anbieten. Das kann nur der Boden.
Puh! Das war jetzt ziemlich viel Information. 😄 Ich hoffe, der nächste Flug ist pünktlich und wenn nicht, dass ich zumindest die Ehre habe, dich nach oder von Frankfurt zu fliegen. Ich würde dir auch ganz ehrlich sagen, ob das noch was wird mit dem Flug. 😉 Hab einen feinen Abend und liebe Grüße, Eva
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Das war sehr interessant!!
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Vielen herzlichen Dank für die wertvollen Insider-Tipps, liebe Eva! Nun habe ich eine gute Idee, falls ich doch wieder abends nach der Arbeit fliegen und es riskieren muss. Ich brauche nur ein paar Leute in Mailand überreden, auch nach Dresden zu reisen. Dann gehen wir als Gruppe durch. 😎
Das mit den Kosten ging mir ebenfalls durch den Kopf. Klar haben die Airlines Sonderkonditionen bei den Hotels, aber trotzdem. Mannomann, das muss auch alles mit einkalkuliert werden.
Ja, ich halte immer die Augen offen nach dir. 🧐 In Mailand gab es diesmal ein nettes Wiedersehen: die ehemalige Turntrainerin meiner Tochter war an meinem Abfluggate im Dienst.
Danke und ich wünsche Dir und deinen Lieben ein schönes (flugfreies?) Wochenende!
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Das ist eine wundervolle Idee. “Reisegruppe Anke nach Dresden, bitte!” Ich sehe es förmlich vor mir.
Und was für eine schöne Begegnung mit der ehemaligen Turntrainerin. Reisen ist doch immer wieder ein Abenteuer! 😃 Liebe Grüße und nur noch angenehme, pünktliche Flüge!
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Danke. Aus deinem Mund bzw. aus deiner Feder (oder sollte es heißen: „aus deiner Tastatur“? 🤔) kann es nur Glück bringen, liebe Eva! 🙂
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Mach das Beste daraus, war mir ein zu oft genannter Spruch. Deshalb habe ich mal über Titel zum Thema bei meinem Lieblingssänger Udo Jürgens nachgedacht. „Carpe diem“ erscheint mir ganz passend – genieße den Tag, trotz alledem. Liebe Grüße an dich aus dem stürmischen Brandenburg. Bettina
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Auch in Berlin fliegen die Fetzen – mein Balkon ist ja direkt in Windrichtung – ich könnte Angst bekommen, dass die Markise aus der Wand geweht wird – wird sie natürlich nicht!
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Zum Glück fliege ich heute nicht über Berlin. 😉
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Genau, aber es braucht auch ein bisschen Glück für nette Umstände. Ich hatte es. 😊
Ich hoffe, heute hat es sich beruhigt und ihr habt ein entspanntes Herbstwochenende!
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Wenn die das von der Airline mitlesen, bekommst du das als Abo für jeden Dresdenflug, damit du ein wenig Spaß und Freude hast.
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😂😂
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Hahaha. Na ja, wenn man es vorher einkalkuliert … 😉
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Oje, Frankfurt hat unendlich lange Wege, da kann ich voll mitfühlen. Wenigstens weißt du jetzt, dass du schnell bist 😉
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Genau! Dabei hatte ich noch wertvolle Sekunden verloren, indem ich mich zunächst erstmals an die für Anschlussflüge bereitstehende Servicekraft gewandt habe. Als ich nach Dresden fragte, sie kurz auf ihrem Notepad wischte, mich dann anschaute und den Anschein machte, als ob ich Dresden buchstabieren solle, weil sie dieses exotische Ziel nicht fand, winkte ich dankend ab und lief los. Noch eine nützliche Lektion: Fragen ist sinnlos 😉, selber gucken.
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Wer kann nicht mit solchen Flughafen-Frankfurt-Geschichten aufwarten? Noch dazu ist dieses Drehkreuz ja permanent Baustelle. Da kann man rasch schon einmal an einer 1-km-langen DOKA-Wand hinuntersprinten, um dann auf der anderen Seite exakt wieder zurück zum Ausgangspunkt zu müssen (alles schon erlebt!). Legendär in unseren Reisegeschichten ist ein „stop-over“ von Madrid kommend nach Linz. Satte Verspätung ab Madrid, Sprint in Frankfurt, mit hängender Zunge am Gate, der Bodenpersonal-Typ dort: „Ihr Flieger ist schon weg… na, eh Scherz, wir haben auf Sie gewartet!“ Für solchen Humor sind wir bei Puls 200 und schweißüberströmt nicht wirklich mehr empfänglich.
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Hallo Peter, ja, lachen kann man erst hinterher. Danke für deinen Beitrag und liebe Grüße!
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Und dann noch ein Happy End, wie schön.
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