Das Glück in fünfhundert Teilen

Puzzeln ist der sinnloseste Zeitvertreib von allen, aber es macht glücklich. So hieß es sinngemäß in einem Artikel, den ich vor einiger Zeit las. Das könnte mir nicht passieren, dachte ich damals. Schließlich möchte ich meine freie Zeit sinnvoll nutzen. Etwas mühevoll zusammenbauen, um es anschließend zu zerstören? Sisyphus lässt grüßen. Nicht mit mir!

Doch dann hatten wir diese Weihnachtsferien, in denen wir nicht verreisen konnten. Und eine Tochter, deren Bewegungsdrang wir im Zaum halten mussten, ihrer Gesundheit zuliebe. Sie selbst hatte sich ein Puzzle gewünscht, ein richtiges diesmal. Die Kinderdinger waren schließlich immer ruckzuck zusammengesetzt. Fünfhundert Teile statt läppischer einhundert sollten es sein. Als die Teile am Tag nach der Bescherung auf dem Tisch ausgebreitet lagen und die Tochter nach einer halben Stunde aufgab, breitete sich das Puzzlefieber in der ganzen Familie aus. Der Papa begann – wozu jobbt man in Business Intelligence – mit den Ecken. Mich packte der Ehrgeiz, den Rahmen zu vollenden. Dafür brütete ich anderthalb Stunden. Suchte verbissen nach dem rechten oberen Flügel des kleinen gelben Schmetterlings und der lila Blüte vor graugrünem Balken. Am nächsten Tag wechselten wir uns ab. Ständig zog es einen von uns an den Tisch. Sogar die Große, an familiärer Gemeinschaftsarbeit derzeit eher marginal interessiert, fühlte sich herausgefordert. Zwei oder drei Teile fügte sie lässig im Vorbeigehen ein und warb anschließend um Applaus. Der Papa verbrachte ganze zwei Nächte am Tisch über das Puzzle gebeugt, statt wie üblich auf der Couch vorm Fernseher. Er war es, der die neun Katzenschnauzen zusammensetzte und sie ihrem richtigen Platz zuordnete. Sinnloser Zeitvertreib? Mitnichten. Team-Building, beruhigende Geduldsprobe und Konzentrationstraining, das mit kaum mehr gekannten Erfolgsgefühlen und Zufriedenheit belohnt wird. Auch und gerade in Zeiten, in denen man im Alltag manchmal verzweifeln möchte. Als nur noch um die dreißig Teile fehlten, beschloss der Papa, aufzuhören. Wir wetteten, die Kleine würde am nächsten Morgen das Bild beenden. Als ich früh aus dem Schlafzimmer in den Wohnbereich schlich und sie nicht auf der Couch lümmeln, nicht in der Küche hantieren und nirgends auf dem Boden turnen sah, konnte ich mir einen Jubelschrei nicht verkneifen. Bravissima! Sie setzte gerade zufrieden grinsend die letzten zwei Teile in die richtige Position und hatte mit dem Frühstück wie vereinbart auf mich gewartet.

Und jetzt? Haben wir das Bild erst einmal in den Schrank verfrachtet. Auflösen können wir es immer noch, schließlich haben wir ein zweites neues Puzzle mit fünfhundert Teilen bereitstehen. Ich glaube, das Katzenmotiv war im Vergleich dazu einfach.

Puzzlefieber ist eine ansteckende Krankheit, die ich allen einmal wünsche. Sie verursacht auf jeden Fall ein gutes Gefühl und womöglich hilft sie sogar beim Gesundwerden.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

44 Kommentare zu „Das Glück in fünfhundert Teilen

  1. Liebe Anke, Dein wunderbarer Beitrag weckt schöne Erinnerungen… auch bei uns war Puzzlen früher eine gemeinschaftliche Aktion für die ganze Familie… man kann dann auch irgendwann einfach nicht mehr aufhören. Das ist es wohl, was neudeutsch so schön als „Flow“ bezeichnet wird. Dankeschön für diesen schönen Gedanken am Sonntagvormittag! Herzliche Grüße aus dem nasskalten, etwas unwirtlichen Schneegestöber nach Italien und einen schönen Sonntag (mit Puzzlefreuden?)! Barbara

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    1. Liebe Barbara, stimmt, an das neudeutsche Wort musste ich auch denken. Ich glaube, wenn ich die vielen stürmischen Reaktionen auf diesen Blogbeitrag sehe, dass es gestern vielerorts unwirtliches Wetter gab und viele daheim Zeit hatten, in den Blogbeiträgen der anderen zu stöbern. Manch einer hat vielleicht ein Puzzle rausgeholt. Ich selbst habe gestern nebenbei den Entwurf zum nächsten Artikel geschrieben. Da war ich im Flow.😉
      Liebe Grüße, in Hoffnung auf freundlicheres Wetter bei euch!

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  2. Hier rennst du bei mir gerade offene Türen ein. Seit meine Nichten und Neffen keine Lust mehr auf Puzzle haben, juckt es mich immer wieder mal in den Fingern, mir selbst eines zu besorgen. Ich glaube ich hol mir jetzt ein gebrauchtes und teste mal ob es so schön entspannend ist, wie ich glaube 🙂

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    1. Wenn ich Puzzle und Memory höre,
      habe ich immer etwas ganz, ganz Wichtiges zu tun. Einfach nicht meins! Würde man mir so ein 500er Puzzle geben, mich in einen Raum bis zur Fertigstellung schließen- es wäre lebenslänglich😜
      Gern spiele ich Rommé, schlage mir die Knöchel beim Klopfen nach einer Karte auf und streite, wer zuerst geklopft hat.
      Viel Spaß beim nächsten Puzzle👍
      Jutta

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      1. Sehr schöner Beitrag, absolut gut beobachtet. Die Spielregeln müssen tatsächlich vor Spielbeginn immer wieder neu ausgehandelt werden. Auch das Klopfen😜!
        Danke für den Link!
        LG

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  3. Wenn ich anfange zu puzzlen, was ich schon einige Jahre nicht mehr tat, komme ich auch zu nichts anderem mehr. Ich bekomme gerade große Lust, mir eins vom Boden zu holen……
    Als die Kinder noch klein waren, gab es ähnlich Szenen bei uns zu Hause. Ein wunderbares Familienstück und -glück, wenn es fertig auf dem Küchentisch lag.

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  4. Liebe Anke, manchmal berühren mich diese ganz alltäglichen Texte von dir besonders. Heute, weil es um Familie geht, die kleinen Dinge, das kleine Miteinander, das kleine Glück.
    Manchmal denke ich: Puzzeln ist ein bisschen wie ein Sinnbild fürs Leben. Man geht viele kleine Schritte, setzt viele Erlebnisse und Begebenheiten zusammen, zwischendurch sieht auch mal alles nach Baustelle aus und vielleicht ergibt auch nicht alles sofort Sinn. Aber am Ende entsteht das große Ganze.
    Wir puzzeln auch manchmal. Vielleicht wäre heute Nachmittag ein guter Moment, ein neues Puzzle anzufangen.
    Sehr herzliche Grüße, Sophie

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    1. Liebe Sophie, danke für deine lobenden Worte. Du hast recht, ein Puzzle ist eine gute Metapher. Man denkt streckenweise, dass eigentlich nichts zusammenpasst und dann platzt irgendwann der Knoten und man bringt Ordnung ins Chaos. Absolute Zufriedenheit! Wenn dann auch noch alle mitmachen, ist es das kleine, perfekte Familienglück. Ich hoffe, ihr hattet einen netten Sonntagnachmittag, mit oder ohne Puzzle, und heute einen guten Start in die Woche. Liebe Grüße!

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    1. Danke, liebe Bettina, deine lobenden Worte gehen runter wie Öl. 🤩
      Aber vor allem freut es mich ungemein, dass dieser Beitrag bei dir und anderen so schöne Erinnerungen ausgelöst hat. Liebe Grüße zurück!

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  5. Als wir so weit weg von der Familie lebten, dass wir Weihnachten stets alleine und in Ruhe verbrachten, packte ich jedesmal in den Weihnachtsferien ein 1000-Teile-Puzzle auf den Tisch. Keiner wollte mehr als nötig raus gehen, in der Zeit wollte man auch nichts „sinnvolles“ (Hausarbeit und Co) machen, also puzzelten wir. Meistens puzzelte ich, aber es schaute immer einer der anderen vorbei, suchte das eine oder andere Teil, um es triumphierend an die richtige Stelle zu klopfen.

    Ich hatte das Puzzeln damals ganz vergessen. Der Große schenkte mir aber dieses Jahr ein Puzzle und dann erinnerte ich mich wieder. Da wir Corona-bedingt wieder ein Weihnachten ohne Familienbesuch hatten, packte ich das Puzzle auf den Tisch. Es war ein einfaches 1000-Teile-Puzzle und in drei Tagen fertig. Dann erinnerte ich mich an das verflixte StarWars-Puzzle mit 2000 Teilen, das ich in der Coronazeit begonnen hatte und frustriert in die Puzzlematte eingerollt hatte, weil ich einfach nicht weiter kam. Das ist so schwer! Aber jetzt, mit neuem Schwung, klappte es auf einmal. Fertig ist es noch nicht. Da Weihnachten vorbei ist, ist die Puzzlematte wieder eingerollt. Aber ich bin mir sicher, dass wir es nächstes Weihnachten schaffen werden.
    Ich frage mich auch jedesmal, was so zufriedenstellend am Puzzlen ist. Irgendjemand hat es kaputt gemacht, ich setze es zusammen und mache es dann wieder kaputt. Trotzdem ist es so zufriedenstellend wenn man den einen Stein an seine Stelle setzt, nachdem man tagtäglich geschworen hat, dass dieser Stein der eine sein muss, der niemals in dieser Packung war. Viel Spaß euch allen beim nächsten Puzzle!

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    1. Genau wie du sagst: Puzzeln ist das Gegenteil von sinnvoll und gerade deshalb so beglückend. Danke für deine persönlichen Erinnerungen! Und super, dass du von der Puzzlematte schreibst. Dieses Zubehör kannte ich nicht, aber für unser 1000-Teile-Puzzle vom wunderschönen verschneiten Sacro Monte (viel Himmel, viel Schnee, viele Hausdächer), an das wir uns bisher noch nicht herantrauen, wäre so etwas eine hilfreiche Anschaffung. Liebe Grüße!

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    1. Stimmt. Bei den Puzzlespielen gab es während der Pandemie einen starken Boom, der weiter anhält, habe ich gelesen. Das finde ich wunderbar, denn es tut uns allen gut, mal nicht vorm Fernseher, Computer oder individuellen elektronischen Endgeräten zu hocken, wenn wir zusammen sind oder wenn wir uns langweilen. Herzliche Grüße zurück!

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  6. Liebe Anke, was für eine nachahmenswerte Erfahrung! Wir sind zwar nur zu zweit, wollten es aber schon lange einmal ausprobieren. Da gibt’s leider ein Platzproblem: Wo um alles in der Welt kann man ein grosses Puzzle tagelang liegen lassen? Wir brauchen unseren Tisch doch! Danke für die spannende Schilderung und liebe Grüsse, Elisa

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    1. Da gibt es eine Lösung, liebe Elisa. Wie hier eine Bloggerin im Kommentar berichtete, gibt es Puzzlematten. Wir haben uns sofort die Original-Matte vom Puzzlehersteller geholt, funktioniert prima! Man kann die unvollständige Arbeit einfach aufrollen, verstauen und bei der nächsten Gelegenheit wieder hervorholen und weitermachen. So bleibt der Tisch zu seiner ursprünglichen Verfügung!
      Liebe Grüße an dich!

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  7. Liebe Anke, was für ein spettacolo – für große und coole (sagt man das noch?) Kinder und für deren Eltern. Ob als nächstes der Domino-Day lockt? Damit konnte man meine Eltern und uns Teenager-Kinder begeistern, wobei das damalige Fernsehformat sein übriges dazu beitrug. 😄 Viele, liebe Grüße aus dem eiskalten Frankfurt

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    1. Liebe Eva, jetzt habe ich dank deines Kommentars eine Wissenslücke geschlossen. Ein Teilchen im Puzzle ergänzt, sozusagen. Ich kannte weder die Sendereihe noch die unglaubliche Geschichte vom „Domino-Spatzen“. Was menschliche Sensationsgier und kommerzieller Spieltrieb doch für Auswüchse hat.
      Aber daheim, im Kleinen, ist Domino sicher auch ein sehr beruhigendes, kreatives, gemeinschaftliches Vergnügen. (Oder habt ihr das jeweilige Zimmer während des Aufbaus auch nur noch über Luftschleusen betreten?😉 )
      Und nein, „cool“ sagen die italienischen Kids nicht. „Siamo fighi“, heiβt es. 😎
      Danke und liebe Grüße an dich aus dem nicht ganz so kalten, aber trüben Vareser Land!

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      1. Oh, wie schön, liebe Anke! 😃 Es war wirklich ein tolles Sendeformat, aber ich glaube, die heutigen Jugendlichen würde man nicht mehr dafür begeistern können. Wir sind tatsächlich ohne Luftschleusen ausgekommen, hatten aber einen tollpatschigen Hund, der für einen hohen Arbeitsaufwand beim Wiederaufbau sorgte. 😉
        Ah, so heißt das. Wieder was gelernt! 😃 Danke dir!

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