Zuweilen kommt es mir so vor, als ob ich erst schreibend das Leben in seinem Innersten berühren kann. Während ich Worte suche und finde, Sätze forme, verwerfe und neu formuliere, erlebe ich intensiver als in jenem Moment, was ich gesehen, gefühlt, erfahren habe. Erfahren ‒ welch ein wunderbares, vieldeutiges Wort. Auf Reisen sind die Gedanken am unbändigsten. Wenn man Abstand hat. Räumlichen und menschlichen. Manchmal denke ich, es ist intellektueller Hochmut: Nur wenn man möglichst weit weg ist vom Leben, kann man darüber schreiben. Man muss Abstand zu den Menschen haben, um sie zu sehen.
Da sind immer diese Zweifel. Helga Schubert beschreibt sie in ihrer Erzählung „Vom Aufstehen“* folgendermaßen:
„Ist es nicht anmaßend, sich so ernst zu nehmen? Woher kommt die Überzeugung, gerade diese Begebenheit könnte auch nur einen einzigen Leser, eine einzige Leserin aufhorchen lassen?“ (S. 214)
Vermutlich reicht der räumliche Abstand noch nicht, wenn ein guter Text entstehen soll.
„Dann kommt der immer weiter werdende Abstand zur Welt, nur noch zarte Spinnweben, leicht zerreißbar, verbinden die Schreibende auch mit den Menschen, die sie nun halten sollen an diesem kaum sichtbaren Faden.“ (S. 214)
Abstand gewinnen ist nicht mehr als das Kofferpacken. Zum Reisen wie zum Schreiben muss man loslassen und die Verbindungen abbrechen. Erinnern, Reflektieren, Interpretieren und Deuten, das alles hält einen noch im Tatsächlichen. Wenn das Schreiben beginnt, geht man einen Schritt weiter. Damit etwas Neues entstehen kann. So stelle ich es mir vor.
Im Spätsommer werde ich mich eine Woche zurückziehen, an einen Ort zum Schreiben. Ob er mir dann gelingt, dieser Schritt über die eigene Erfahrung hinaus, während ich doch verbunden bleibe durch den kaum sichtbaren Faden? Wie wunderbar wäre es, den Sinn des Schreibens zu finden, wie ihn Helga Schubert kennt:
„Etwas erzählen, was nur ich weiß. Und wenn es jemand liest, weiß es noch jemand. Für die wenigen Minuten, in denen er die Geschichte liest, in der unendlichen, eisigen Welt.“ (S. 215)

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.
Liebe Anke, das klingt nach einem spannenden Plan. Ich hoffe, Du nimmst uns dann mit auf Deine Schreibreise bzw. berichtest im Nachgang über Deine Erfahrungen. Liebe Grüße aus der niederbayerischen Frühlingssonne, die gerade rauskommt, Barbara
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Na klar, da ergibt sich bestimmt ein Follow-up. Danke, liebe Barbara, und viele Grüβe aus dem leider verregneten Norditalien!
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„Man muß Abstand zu den Menschen haben, um sie zu sehen.“
Bis zu diesem Satz habe ich Ihre Worte gerade gelesen, als seien sie meine eigenen, und ich habe sie bis dahin auch gerade in mein Tagebuch abgeschrieben.
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Schön, es freut mich, dass ich willkommene Anregung geben konnte.
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😊
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„Erinnern, Reflektieren, Interpretieren und Deuten, – das alles hält einen im Tatsächlichen.
Wenn das Schreiben beginnt, geht man einen Schritt weiter. Damit etwas Neues entstehen kann.“ Wieder nahm ich es auf – wie mein Eigenes – und schrieb es ab.
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Oh, wow, was für ein Text, liebe Anke. Wenige Zeilen zwar nur, aber solche, die mich sehr inspirieren und ‒ mehr noch ‒ berühren. Warum? Weil auch ich es so empfinde. Aber ich glaube, das weißt du ja ohnehin. 😉
Und dass du eine Reise machst, um zu schreiben, finde ich geradezu genial!!! Ich glaube, das wäre auch das Richtige für mich.
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Danke, liebe Sophie. Für uns berufstätige Mütter ist es fast unmöglich und mag egoistisch scheinen, sich exklusive Zeit zum Schreiben zu nehmen. Und doch ist es – im rechten Maβe, wichtig und richtig und muss möglich sein. Liebe Grüße!
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Ich finde es ganz und gar nicht egoistisch. Ich finde es einfach großartig, dass du das machst. (Und im Geiste sah ich mich auch schon allein an einem Ostseestrand wandeln.)
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… und im Strandkorb sitzend, mit dem Blick aufs Meer, schreiben. Ich sehe dich auch vor mir! 😊
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Ich wünsche dir, dass in dieser Woche einige deiner Fragen und Gedanken aufgegriffen und diskutiert, vielleicht zu einem Ergebnis geführt werden.
Aber, liebe Anke, verändere deinen
Schreibstil nicht grundsätzlich, ich mag deine Sicht auf die Menschen und ihre Welt😉
Sonntägliche und -endlich-
sonnige Grüße!
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Danke liebe Jutta und nein, keine Sorge! In jedem Fall werde ich neue und sicher wertvolle Erfahrungen sammeln, auf neuem Text-Terrain. Liebe Grüße an dich, leider sind es verregnete.
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Liebe Anke,
was du über das Schreiben schreibst kann ich gut nachvollziehen, obgleich das Schreiben nicht mein Metier ist. Doch deine wohl gesetzten Worte treffen meines Erachtens auf jede Kunstform zu, wenn sie den Bereich des Dokumentarischen verlassen möchte. Mir geht es beim Fotografieren ähnlich, aber viel zu selten erreiche ich die Ebene, auf der tatsächlich etwas eigenes entsteht.
Viele Grüße Horst
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Lieber Horst, ich freue mich sehr über deine Rückmeldung als „Außenseiter“, der mit der Kunst des Fotografierens vergleichbare Erfahrungen macht. Genieße die besonderen Momente, wenn eine Aufnahme das Dokumentarische verlässt. Dafür lohnt sich alle Mühe. Herzliche Grüβe an dich!
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Liebe Anke, vielen Dank für den schönen und inspirierenden Text, in dem auch ich mich wiederfinde. Und vielen Dank für den Buchtipp. Herzliche Grüße aus Berlin wo sich heute endlich mal wieder die Sonne blicken lässt.
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Sehr gern. Und ja, das Buch ist eine kleine, feine Sammlung anregender Geschichten und Gedanken, vor dem Hintergrund dreier Gesellschaftssysteme, in denen die Autorin in Deutschland gelebt hat. Herzliche Grüße nach Berlin!
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Liebe Anke, ja, genau so ist es. Und doch auch ganz anders, jedenfalls für mich. Mir fällt unheimlich viel ein, wenn ich „mittendrin“ bin, aber um es in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, brauche ich auch den Abstand.
Ich freue mich für dich, dass du dir diese Auszeit nimmst, ich überlege an so einer Möglichkeit auch herum, bisher ohne konkretes Ergebnis.
Vielleicht gehe ich mal eine Woche aufs Boot, ganz ohne Mann und Segeln. Nur mein Notebook, die Kamera und ich.
Jedenfalls: die Gedanken von Helga Schubert berühren auf einer fast schon spirituellen Ebene. Ich sollte ihre Bücher nicht nur verkaufen, sondern auch selbst lesen😉
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Danke. Liebe Annuschka, für deine Rückmeldung. Und ja, mach das: Zieh aufs Boot, vielleicht ja auch mit diesem kleinen Büchlein im Gepäck, und verarbeite deine Eindrücke aus dem prallen Leben bei sanft schaukelnden Wellen in Ruhe und Entspannung. Liebe Grüße!
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Eine Erkenntnis, die ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen kann: Solange ich in einer Menschenmenge mitlaufe (z.B. in meinem Job), ist es nahezu unmöglich, zu sehen, auf welchem Weg sich diese Menschenmenge eigentlich befindet; wer genau eigentlich das Ziel vorgibt; und was genau das Ziel eigentlich ist.
Viele Grüße und einen schönen Restsonntag
Maren
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Das trifft es alls ganz wunderbar. Besonders rührt mich dein erster Satz, den ich sehr gut nachempfinden kann. Und einen Buchtipp habe ich auch gleich.
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Schön, dass ich dir Bestätigung und Anregung geben konnte, liebe Mitzi! Herzliche Grüße nach München!
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Ich habe gleich und sofort nach dem Buch in meiner onleihe-Bibliothek nachgesehen, es gefunden und es ausgeliehen, damit ich dich dann nach deiner Schreibreise besser lesen kann.
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Das freut mich, ich wünsche gute Lektüre! Der letzte Teil deines Satzes klingt übrigens sehr lustig nach Rotkäppchen und der Wolf. Absicht, oder Zufall? 😉
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Liebe Anke, nachdem ich deinen Text gelesen habe, musste ich erstmal Pause machen. In dem Moment saß ich an einem neuen Text. Gerade hatte ich es geschafft loszulassen, um wenig später zu zweifeln, ob ich mich so zeigen kann. Ob das, was ich schreibe, kitschig ist oder abgedroschen oder eben etwas beschreibt, das ich in diesem Moment, in meiner ganz individuellen Welt nur für einen kurzen Augenblick empfinde und in Worte fassen kann. Ohne mich zu vergleichen, ohne Wertung, einfach, weil ich mich ausdrücken möchte und in meinem Erleben versinke. Du hast diese Gefühle rund um das Schreiben ganz wundervoll beschrieben, sehr anrührend. Ich glaube, ich muss noch viel darüber nachdenken. Du hattest mir das Buch schon einmal empfohlen. Jetzt ist es soweit. Ich gehe runter zum Buchladen an der Ecke und kaufe es. Ich freue mich über einen Austausch, wenn ich darin gelesen habe. Danke, liebe Anke für diesen Text.
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Liebe Roswitha, es freut mich, dass ich dir mit meinen Gedanken Anregung geben konnte, und ich hoffe gleichzeitig, du findest in deinen Text zurück und stellst ihn fertig. Deine Texte, die du auf dem Blog mit uns teilst, lese ich immer sehr gern. Es gelingt dir wunderbar, eigenes Erleben und Empfinden auf diese Ebene zu bringen, die weiter reicht und andere berührt und zu Reflexionen über das Leben einlädt.
Und ja, ich bin gespannt auf deine Leseeindrücke zu Schuberts vielschichtigen Erzählungen. Sei herzlich gegrüßt aus Italien!
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Liebe Anke, beim Schreiben ist es wie mit allem: Ich glaube, es braucht Bescheidenheit UND Selbstbewusstsein. Von einem weisen Mann habe ich einmal gelesen: „Ich trage zwei Zettel in meinen Jackentaschen. Auf dem einen steht: Ich bin auserwählt. Auf dem anderen: Ich bin nichts als Staub und Asche. Je nachdem ziehe ich den Zettel aus der linken Tasche oder aus der rechten Tasche heraus und verinnerliche seine Botschaft.“ Für Dein Schreib-Sabbatical wünsche ich dir viel Freude und Erfolg. Herzlichst, Elisa
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Ein weiser Spruch. Vielen Dank dafür und für deine guten Wünsche. Liebe Grüße in die Schweiz!
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