Die Dächer von Dubrovnik

„A Dubrovnik il sole galleggiava in ogni particella di cielo, come se si fosse sciolto e colasse … sui tetti rossi della città vecchia, sulla costola chiara della cinta muraria. Ci incantammo a guardare quell’approdo. Finalmente, dopo tanto tempo, una vera vacanza.“

In Dubrovnik schwebte die Sonne in jedem Teilchen des Himmels, als ob sie geschmolzen wäre und Tröpfchen bildete… über den roten Dächern der Altstadt, über der bleichen Kante der Stadtmauer. Wir waren verzaubert von dem Anblick, als wir mit der Fähre anlegten. Endlich, nach so langer Zeit, ein richtiger Urlaub.

Margaret Mazzantini

„Venuto al mondo“*, Mondadori, 1. Auflage Oscar 451, Januar 2018. Seite 182. Deutsch: eigene Übersetzung.

Mein literarischer Ort liegt diesmal nicht in Italien. Im Jahr 2006 ging unsere Hochzeitsreise über Piran in Slowenien ‒ Heimat des italienischen Schwiegervaters ‒ Pula und Zadar bis nach Dubrovnik im Süden Kroatiens. Wir unternahmen die Reise zwei Monate nach unserer Hochzeit, ich war im zweiten Monat schwanger. So schnell kann es gehen. Ich erinnere mich an den Kommentar meiner Frauenärztin: „Detto, fatto!“ (Gesagt, getan!), konstatierte sie knapp, als ich ihr zwei Wochen nach meiner Routineuntersuchung, bei der ich nebenbei andeutete, dass wir es jetzt darauf ankommen lassen würden, das positive Ergebnis des Schwangerschaftstests mitteilte. Dass es Frauen gibt, die nach Jahren des Hoffens, mehreren Fehlgeburten und gescheiterten Behandlungen in Kinderwunschkliniken alles dafür tun würden, um doch noch Mutter zu werden, daran dachte ich damals nicht. Ebensowenig dachte ich während unserer Reise durch das ehemalige Jugoslawien daran, dass nur wenige Jahre seit dem Bürgerkrieg vergangen waren. Der schien lange her und war Anfang der Neunziger Jahre weit weg gewesen. Dieser Krieg in Europa hatte mich während meiner Studienzeit, im florierenden wiedervereinigten Deutschland, kaum betroffen gemacht. Ganz anders heute, wo die Ukraine, ja selbst Nahost so nah zu sein scheinen, die Nachrichten und Bilder unter die Haut gehen. Im wunderschönen Dubrovnik fielen uns 2006 neben ein paar Gedenktafeln vor allem die frisch gedeckten Dächer der Altstadt auf, die hellrot in der Sonne leuchteten. Nur wenige Dachschindeln hatten eine Patina, die dem Alter der Gebäude entsprach. Gut, alles wieder gut, so schien es, und ich stellte mir nicht die Zerstörung im Bombenhagel vor, sondern genoss wie alle Touristen die Sonne, herzhaftes Essen und traumhafte Ausblicke aufs Meer. Sicher wäre unser Eindruck ein anderer gewesen, hätten wir auch Sarajevo einen Besuch abgestattet. Ich glaube nicht, dass man dort unbeschwert flanieren kann, vorbei an zahlreichen Mahnmalen der vierjährigen Belagerung der Stadt, bei der etwa 11.000 Menschen durch Granaten, Scharfschützen und mangelnde Versorgung ums Leben kamen. Jetzt habe ich diesen Roman gelesen, in dem beide Themen verflochten sind: unerfüllter Kinderwunsch und eine Liebe, die zu den Olympischen Spielen 1984 in Sarajevo beginnt und das Paar aus Italien immer wieder in die Stadt zurückzieht, deren Schicksal ihr privates Schicksal prägen soll.

Dubrovnik ist ein Nebenschauplatz der Handlung. Gemma und Diego verbringen einen Urlaub dort, gemeinsam mit ihrem Freund aus Sarajevo. Es ist Sommer 1991 und die Kriegsschiffe patrouillieren vor der Küste, der bewaffnete Konflikt hängt schon in der Luft. Wenige Wochen später sehen sie im italienischen Telegiornale die Bombardierung der Stadt, durch deren romantische Gassen sie eben noch geschlendert waren. Ihr Freund ist überzeugt, dass seine Stadt verschont bleiben wird. Die Welt würde auf Sarajevo schauen. Bald sind auch Gemma und Diego wieder bei ihm und erleben den Beginn der Belagerung mit, während sie neue Hoffnung auf ein Kind haben … 

Wann immer ich ein Buch im italienischen Original lese, bin ich sofort neugierig auf die deutsche Übersetzung. Gibt es eine, und wenn ja, mit welchem Titel? Nicht immer ist der eine simple Übersetzung. Ich muss etwas länger suchen, ehe ich „Das schönste Wort der Welt“ als die deutsche Fassung von Margaret Mazzantinis „Venuto al mondo“ (Zur Welt gekommen) erkenne. Bis zu den letzten Seiten des Originals erschließt sich mir der Sinn des deutschen Titels nicht. Dabei gibt es einige Worte, die mir beim Lesen immer wieder auffallen, weil sie die Autorin besonders oft verwendet. Worte, die nicht zu meinem aktiven Wortschatz gehören und über die ich nun im Hinblick auf den deutschen Buchtitel nachsinne.

Etwa „misero“. Kleider, Räume, Lebensmittel, ständig wird etwas als miserabel, elend, erbärmlich, mickrig beschrieben. Das passt, wenn man sich den Bürgerkrieg und das armselige Leben der einfachen Bevölkerung auf dem Balkan vorstellt. Das schönste Wort wird es nicht sein.

Vielleicht ist es „la nuca“, der Nacken. Mazzantini scheint dieses Wort zu lieben, es ist ihr Metapher für Geburt, Liebe, Erotik, Geborgenheit. Die empfindsamste, fast intimste Stelle am Körper, die in den grausamsten Szenen des Romans zum Ziel der Heckenschützen, zum Aschenbecher der Peiniger wird. „Nuca“ ist mehr als ein Wort, es ist ein Bild, ein Symbol für das Leben und dessen Verletzlichkeit.

Ein anderer Begriff, bei dem ich lesend hängen bleibe, ist „curvo“. Gekrümmt, gebeugt. Personen beugen sich ständig über oder zu etwas herunter, kümmern sich um Dinge, um Menschen. Sich konzentrierend, vertiefend, vielleicht, um zu beschützen, um etwas zu suchen, um sich selbst zu verstecken. So viele Facetten, so viele Situationen, und immer wieder dieses einfache Wort: „curvo“. Ich frage mich insgeheim, wie die Übersetzerin es wohl variiert hat. Ist es das schönste der Welt? Ich glaube nicht.

Also weiter: „Figlio“ könnte es sein. Sohn, Tochter, das eigene Kind. Wie übersetzt man es, wenn das Geschlecht noch nicht bekannt, in der Vorstellung und im Wunsch auch nicht bedeutsam ist? Die Liebenden wünschen sich ein Kind. „Figlio“, grammatikalisch männlich, also Sohn bedeutend, steht für ein leibliches oder angenommenes, eigenes Kind. Um dieses dreht sich die Geschichte, und wenn ich das Zitat auf der Rückseite des Buches lese, tendiert meine Vermutung zu diesem Wort, in dem alle Hoffnung, in dem die Zukunft liegt.

„La speranza appartiene ai figli, noi adulti abbiamo già sperato, e quasi sempre abbiamo perso.” (Die Hoffnung gehört den Kindern, wir Erwachsenen haben schon gehofft und fast immer verloren.) S. 15

Erst in einer der allerletzten Szenen wird das Rätsel des deutschen Buchtitels aufgelöst. Ich verrate euch das Wort nicht. Ich empfehle euch den Roman. Aber ihr sollt wissen, dass es nicht nur eine starke, schöne Liebesgeschichte ist, wie manche deutsche Lesermeinung vermuten lässt. Es ist eine intensive, verstörende, streckenweise grausame Geschichte. Obwohl die Personen und ihre Geschichte auf Fiktion basieren, sind die Geschehnisse im Hintergrund genau recherchiert. Ständig ertappte ich mich dabei, im Internet nachzulesen, was damals in Sarajevo passiert ist. Die Szenen gehen mir nahe, weil ich weiß, dass sie sich so oder anders tatsächlich abgespielt haben. Damals, vor kurzer Zeit, ganz in unserer Nähe. Und heute wieder und immer noch, an anderen Orten, genauso brutal. Und ich frage mich, ob ich das auch aushalten würde, wenn jeder Tag mein letzter sein könnte, oder schlimmer, der letzte meiner Kinder, meiner Lieben. Und doch schenkt Mazzantinis Roman Hoffnung. Auch wenn kein Krieg, kein Leid und keine Ungerechtigkeit der Welt eine akzeptable Erklärung oder gar Sinn haben, kann aus Bösem etwas Neues, Gutes entstehen. Es ist die Liebe, die den Menschen Kraft gibt, dieses Gute zu erkennen und dankbar anzunehmen.

Zum Weiterlesen:

Bei der FAZ (Zugriff nach einfacher Anmeldung, keine Bezahlschranke) gibt es eine Besprechung zur deutschen Fassung „Das schönste Wort der Welt“.

Sarajewo damals: „Vor 20 Jahren: Ende der Belagerung von Sarajevo“ bei Bundeszentrale für politische Bildung

Dubrovnik heute: „Narben hinter Glas: Über die traurige Schönheit Dubrovniks“ bei Aachener Zeitung

*Werbung, wie immer unbezahlt.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

12 Kommentare zu „Die Dächer von Dubrovnik

  1. Liebe Anke, danke für deine sehr ausführliche und zudem neugierig machende Buchbeschreibung. Dieses Buch wird sicher bald auch in meinen Händen liegen, denn ich liebe Geschichten mit wahrem Hintergrund.
    🙂
    Viele Grüße Bea

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  2. Liebe Anke, das Buch klingt total interessant und kommt daher direkt auf meine innere Bücherliste. Danke dafür, danke für die Gedanken, die über die Buchvorstellung hinausgehen und mir vor Augen führen, wie glücklich mein Leben verläuft. Ohne Krieg (bisher) und ohne unerfüllten oder nur schwer zu erfüllenden Kinderwunsch.
    Herzliche Grüße, Sophie

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    1. Ja, man sieht die eigene Realität nach der Lektüre (zumindest vorübergehend) in anderem Licht. Im Buch gibt es eine starke Szene, als sie zwischendurch wieder in Rom sind und dort auf einer Party. Die Gäste kommentieren den Balkankrieg, in einer Art, wie man eben überheblich daherredet, als Unbeteiligte. Diego tickt aus, sehr nachvollziehbar. Wir können wirklich nur hoffen (und wenn im Kleinen möglich, unseren Teil dazu tun), dass wir keinen Krieg am eigenen Leib erfahren müssen.
      Liebe Grüße nach Berlin!

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  3. Wunderbarer Buchtipp, vielen Dank dafür! Ich war 2007 in Sarajevo und kann nur sagen, eine sehr beeindruckende und natürlich eine sehr durch die Geschichte gezeichnete Stadt, aber unbedingt ansehen und die Stimmung dort einfangen!

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  4. Der Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien – ich frage mich auch, warum dieser Krieg seltsam entfernt schien. Vielleicht lag es wirklich an den Veränderungen im eigenen Land. Ich bin durch einen engen Arbeitskollegen, der als Kind mit seiner Familie aus Bosnien geflüchtet ist, viele Jahre später näher an das herangerückt, was dieser Krieg für die Menschen und ihr Leben bedeutet hat. Das hat mich nachdenklich gemacht. Danke für diese Buchempfehlung.

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    1. Gern, liebe Roswitha. Ja, was war anders damals? Die fehlende oder weniger präsente Berichterstattung vielleicht auch. Ob Interesse und Mitgefühl geweckt, oder eher Distanz und gar Arroganz erzeugt wird, ist sicher ein Stück weit medienbedingt. Es sei denn, man kennt betroffene Menschen, dann ist alles plötzlich nah und begreiflich.
      Liebe Grüße!

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