Hoffnung auf Erlösung

Es ist verlockend, eine Serie oder einen Film zu schauen, statt erst das Buch zu lesen. Tut es bitte nicht! Einmal mehr habe ich im Falle von Daniele Mencarellis „Tutto chiede salvezza“* (sinngemäß: Alles verlangt nach Erlösung) erlebt, wieviel poetischer ein guter Text ist, welche Emotionen und Bilder er generiert, während sie einem auf dem Bildschirm schon fertig serviert werden. Im Krankenhaus, in einem Sechsbettzimmer, verbringt der Protagonist ‒ bei diesem autobiografischen Roman ist es der 20-jährige Daniele ‒ eine Woche mit fünf anderen Männern auf der psychiatrischen Station eines Krankenhauses. Er wurde nach einem Kontrollverlust, bei dem er die Wohnung zerschlug und sein Vater einen Herzanfall erlitt, zwangsweise eingewiesen (stationäre medizinische Behandlung unabhängig vom eigenen Willen, genannt TSO trattamento sanitario obbligatorio). Wir begleiten ihn beim Aufwachen am Morgen nach der Einlieferung und seiner instinktiven Abwehrreaktion und dann dabei, wie er sich Schritt für Schritt in die Situation fügt, sich den Gegebenheiten und seinen Mitbewohnern stellt.

Diese sieben Tage, unfreiwillig ausgeschlossen vom Alltag, prägten den Autor in seiner Jugend so nachhaltig, dass er viele Jahre später beschloss, sie in einem Roman zu verarbeiten. Er schildert darin seine Erfahrung mit den „Verrückten“, die Freundschaft näherkam als alles, was er bis dahin kannte, und obwohl das Buch nicht optimistisch endet und auch der Protagonist für das Leben jenseits der Krankenhausmauern noch keine schlüssige Perspektive hat, schenkt es dem Leser ein gutes Gefühl. Der Text, von der Kritik zurecht als poetisch bezeichnet, hat mich bewegt, erschüttert und stellenweise auch zum Lächeln gebracht. Eine Gradwanderung, die trotz der Tragik der einzelnen Geschichten und der bedauernswerten Situation, in der sich die Patienten befinden, überraschend gut gelingt. Es sind sieben Tage und eine Geschichte, so tiefgründig wie das Leben, aus der Perspektive derer erzählt, deren Stimme gemeinhin überhört wird und die uns „Gesunden“ gerade im Hinblick auf Empathie viel beibringen können. Besser als den behandelnden Ärzten und Pflegern gelingt es den so unterschiedlichen Zimmergenossen, einander zuzuhören und sich beizustehen, sei es nur mit einem Blick, einer Geste. Sie wissen von der Traurigkeit und der Wut, die in ihnen steckt und der Hoffnung auf Erlösung. Von der Sehnsucht nach dem einfachen Glück, das in der Normalität zuhause ist.

„Forse, questi uomini con cui sto condividendo la stanza e una settimana della mia vita, nella loro apparenza dimessa, le povere cose di cui dispongono, forse loro, malgrado tutte le differenze visibili e invisibili, sono la cosa più somigliante alla mia vera natura che mi sia mai capitato d’incontrare.“

Vielleicht sind diese Männer, mit denen ich ein Zimmer und eine Woche meines Lebens teile ‒ in ihrem einfachen Wesen, mit den armseligen Dingen, die ihnen gehören ‒ vielleicht sind gerade sie, allen sichtbaren und unsichtbaren Unterschieden zum Trotz, das, was meiner wahren Natur am nächsten kommt, das, was ihr je am ähnlichsten war.

Daniele Mencarelli

Zitiert aus: Tutto chiede salvezza*, Mondadori, 1. Auflage Februar 2020, Seite 108. Eigene Übersetzung.

Ich schaue nun auch die gleichnamige Netflix-Serie gern weiter, nachdem eine Freundin sehr positiv davon sprach. Die Bilder, die ich mir gemacht habe und die Gefühle, die der Text in mir geweckt hat, trage ich bereits in mir. Nun kann ich die schauspielerische Leistung würdigen, auch wenn sie nur eine Interpretation des großen Gefühlsspektrums sein kann, den der Text einem bietet.

*In deutscher Ausgabe mit dem Titel „Für die Kämpfer, für die Verrückten“ bei S. Fischer erschienen. Werbung, unverlangt und unbezahlt.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

4 Kommentare zu „Hoffnung auf Erlösung

  1. Verständlich, dass dich das angesprochen hat, liebe Anke – deine Buchbeschreibung liest sich sehr interessant und gleichsam spannend. Werde mir das mal bookmarken. 🙂 Viele Grüße zum Wochenende, Bea

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    1. Freut mich, dass ich dein Interesse wecken konnte. Die Serie habe ich nicht in deutscher Übersetzung gefunden, aber vielleicht kommt das noch. Bisher kann man sie Italienisch mit englischen Untertiteln sehen – eher etwas für „Verrückte“.
      Danke und dir auch ein schönes Wochenende, liebe Bea!

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  2. Danke für die Empfehlung! 🙂 Ich werde es suchen. Ich fand die Serie sehr schön. Lustigerweise lese ich auch gerade ein Buch, das die Grundlage einer Serie ist. Deine Reihenfolge ist natürlich besser, aber der Vorteil ist, ich vergesse nach der Serie einiges nach ein paar Jahren und mit der Lektüre schaffe ich neue Bilder, eigentlich eine neue Geschichte, die sich dann über die bewegten Bilder stülpt.

    Ganz liebe Grüße aus Wien!

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    1. Ja, mit ein paar Jahren Abstand mag es auch andersherum funktionieren. Wenn man möglichst nicht mehr die Gesichter der Schauspieler in den Rollen sieht, sondern eigene Bilder der Personen und Orte, vom Text assoziiert, entstehen lässt.
      Danke, liebe Barbara, und liebe Grüße zurück!

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