Macht Liebe blind? Vielleicht. Macht Liebe stark? Ja! Stirbt die Liebe mit dem Menschen, der sich aus Liebe mutig und unerschrocken dem Verbrechen entgegenstellt?
Ende der 70er-Jahre, Florenz. Die Studentin Rossella Casini, 21, lebt in bewegten Zeiten ein langweiliges Leben, zumindest empfindet sie es manchmal so, in ihrem kleinen Zimmer bei den Eltern. Auf der einen Seite studentische Protestdemonstrationen, politische Straßenkämpfe links gegen rechts. Die beste Freundin verliert sie erst an einen älteren, geschiedenen Mann und dann ans Heroin. Auf der anderen Seite das traute Heim, zu dritt in geordneten Verhältnissen, mit einem Vater in Pension, der in seinem Sessel Fernschach spielt und einer Mutter, die als Hausfrau am Herd steht. Rossella wünscht sich zuweilen einen Sturm, der die biederen Gardinen am Fenster aufwirbelt.
Manchmal werden Wünsche war. Francesco zieht in ihr Haus, zwei Etagen tiefer wohnt der Student aus Kalabrien jetzt mit anderen Studenten, hin und wieder haben sie Besuch von Bekannten aus der Heimat, die nicht zum Studieren hier sind. Bei ihm ist es Liebe auf den ersten Blick, und als er wie aus dem Nichts bei einer eskalierenden Manifestation auftaucht und einen Kommilitonen vor Angreifern schützt, muss Rosella ihn kennenlernen. Der Funke springt über. Sie stürzt sich in dieses Gefühl, so neu und überwältigend, lässt sich von ihrer Liebe auch dann nicht abbringen, als ihr das, was sie nicht sehen will, schmerzhaft bewusst wird: Francesco ist der Sohn einer einflussreichen Familie der ’Ndrangheta, die in den tödlichen Strudel einer langjährigen Fede in seinem Heimatort Palmi gezogen wird. Der Krieg bricht aus, als sie selbst mit ihm bei seiner Familie ist, und er macht auch vor seinem Haus nicht halt. Wird sie ein Jahr später ihren Francesco, halbtot nach einem Schusswechsel, retten und da rausziehen können, um ihren verzweifelten Traum von einem Neuanfang zu verwirklichen? Oder sind bei ihm die Familienbande, die viel beschworenen Wurzeln und die sogenannte Ehre, am Ende stärker als die Liebe zu seiner Freundin?
Wir wissen es vorher, wir können es im Internet nachlesen. Das letzte Lebenszeichen der jungen Frau gab es am 22. Februar 1981, als sie von Palmi aus mit ihrem Vater telefonierte und ihre Rückkehr nach Florenz ankündigte. Ihr Körper oder das, was von ihm übriggeblieben war, wurde nie gefunden.
Was nach einer Mischung aus Liebesgeschichte und Kriminalroman klingt und sich beim atemlosen Lesen vorm geistigen Auge wie ein spannender Film abspielt, ist leider nur in der Beschreibung der Szenen und in den Gesprächen schriftstellerische Fiktion. Auf der Buchrückseite heißt es: „Questo è un romanzo. Racconta una storia impossibile. Una storia vera.“ (Dies ist ein Roman. Er erzählt eine undenkbare Geschichte. Eine wahre Geschichte.)

Noch vor der Lektüre seines Romans besuchte ich in Varese den begleitenden Theaterabend, bei dem der Autor in einem ergreifenden Monolog die Geschichte und das Entstehen des Buches, seine Motivation, seine Gedanken vermittelt. Roberto Saviano, seit seinem internationalen Bestseller „Gomorrha“ weltweit bekannt, steht nach Morddrohungen vonseiten der Camorra unter Personenschutz. Als ich nach seinem Auftritt um ein Autogramm anstehe, klopft mir das Herz bis zum Hals. Polizei und Carabinieri sind da, ich glaube, seinen zivilen Personenschützer zu erkennen, und dann kommt er. Ich bin als Dritte an der Reihe, nachdem ich meinen Namen für die Widmung genannt habe, lächelt er und fragt, wo ich denn her sei aus Deutschland. Nach einem schwungvollen Schriftzug mit vier Ausrufezeichen bedankt er sich und gibt mir die Hand. (Man hätte auch ein Foto von dem Autogramm-Moment haben können, wenn man sein Handy an eine Mitarbeiterin gegeben hätte, aber der Hinweis kam für mich spät und ich wollte niemanden aufhalten, die Schlange nach mir war lang.) Ich verlasse das Theater nicht müde und beseelt wie nach anderen Veranstaltungen, sondern mit einem beklemmenden Gefühl. Es ist die Erkenntnis, in einer Realität zu leben, in der das organisierte Verbrechen nach wie vor weitestgehend ungestört agiert und gleichzeitig ein einzelner, der sich dem Kampf dagegen verschrieben hat, vom Staat geschützt werden muss, kein normales Leben mehr führen kann.
Für den Mord an Rossella gab es keine Verurteilung. Wie so oft, zog sich ein erst Jahre später begonnener Prozess in die Länge und endete mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen.
Savianos unerschütterliches Engagement, Geschichten wie diese im kleinsten Detail zu recherchieren, ans Licht zu bringen und so meisterhaft zu erzählen, sorgt mit dafür, dass sich die Botschaft des Titels bewahrheitet: Rossellas Liebe stirbt nicht.
Im Frühjahr wird der Roman „L’amore mio non muore“ in deutscher Übersetzung bei Hanser erscheinen. Hier geht es zur Vorschau: Roberto Saviano: Meine Liebe stirbt nicht.*
*Werbung, unverlangt und unbezahlt.
Liebe Anke, die deutsche Übersetzung steht schon auf meiner Wunschliste fürs kommende Frühjahr! Herzliche Grüße! Barbara
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Ich bin gespannt auf deine Meinung! Mich würde auch interessieren, wie es mit dem Dialekt in der Übersetzung gelöst wurde, da gab es viel Kalabresisch in den Dialogen.
Liebe Grüße und einen schönen zweiten Advent, liebe Barbara!
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Danke für diesen Buchtipp! Ich werde es mir im Frühjahr besorgen. Liebe Grüße!
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Gern geschehen. Liebe Grüße zu dir!
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Liebe Anke, auch ich werde mir das Buch kaufen, aber ich warte, bis die Taschenbuchversion erscheint. Und bis dahin schaue ich mir ‚Gomorrha – Reise in das Reich der Comorra‘ auf netflix an.
Hab einen schönen 1. Advent, viele Grüße Bea
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Liebe Bea, ja, mach das. Für die Netflix-Serie braucht es, glaub ich, harte Nerven und dicke Haut, mir war es damals nichts, als mein Mann das sah. Einen schönen zweiten Advent morgen!
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…bin bereits dabei, aber das wird noch dauern, denn so viel Zeit zum Filme gucken habe ich nicht und das sind 5 Staffeln mit endlos vielen Teilen. Aber wirklich interessant! 🙂
Hab du auch einen schönen 2. Advent, liebe Anke. 🙂
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Grazie! 😘
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Sehr beeindruckend, liebe Anke. Es ist ermutigend, dass es solche tapferen Menschen gibt. Liebe Grüsse, Elisa
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Stimmt, zum Glück gibt es die. Und Literatur als Waffe im Kampf gegen das Verbrechen finde ich großartig. Liebe Grüße an dich!
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Danke für den Buchtipp. Für mich ist es zur Zeit nix. Zu dünnhäutig.
Hab einen schönen Dezember
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Danke, den wünsche ich dir auch!
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Liebe Anke, wie im echten Leben und in der echten Politik – nicht nur in Italien hat das Unrecht so oft die Oberhand – langsam glaube ich, dass auch die besten Regierungen kaum etwas dagegen tun können – doch wir in Deutschland sind ja zurzeit um viele, viele Meilen von einer „besten Regierung“ entfernt, es reicht ja kaum zu einer „guten“.
Lieben Gruß von mir aus dem Zentrum der deutschen Politik
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Oh ja, liebe Clara, ich beobachte mit Sorge, was bei euch abgeht, und hoffe, dass es die gerade erst gewählte Regierung nicht in den Sand setzt und genau denen in die Karten spielt, die auf so ein Versagen hoffen. Lieben Gruß zurück!
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Liebe Anke, deine Beklemmung hat sich beim Lesen auf mich übertragen. Manchmal erstaunt, besser gesagt: erschreckt es mich geradezu, dass es heutzutage nach wie vor organisierte Kriminalität eines Ausmaßes gibt, das wir wahrscheinlich noch nicht mal erahnen können. Während meines juristischen Referendariats habe ich mal ein Referat zur Mafia gehalten, es ging, wenn ich mich richtig erinnere, um das Buch „Inside Mafia“ von Giovanni Falcone. Ich habe gerade noch mal zu ihm nachgelesen – krass, wie er ums Leben gekommen ist …
Das Buch klingt wirklich lesenswert! Ich wünschte mir, ich hätte mehr Zeit dafür.
Herzliche Grüße aus dem dezember-grauen Berlin!
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Ja, liebe Sophie, es ist schwer zu ertragen. Deshalb finde ich es so mutig, dass es Menschen gibt, die dagegen auftreten und anklagen. Und die Kunst, das Schreiben, sind wunderbare Instrumente dafür. Vielleicht tritt Saviano ja auch mal wieder in Deutschland auf, bei einer Buchmesse oder einem thematischen Event. Dann geh hin, wenn du kannst! Eine beeindruckende Persönlichkeit. Abendsonnengrüβe aus Norditalien!
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Danke für den Beitrag. Ich würde das Buch sehr gern lesen, weiß allerdings nicht, ob es ich es aushalte. Wie du schreibst, es ist beklemmend sich klarzumachen, dass das Thema des Buches Realität ist.
Liebe Grüße nach Norditalien.
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Versuch es, hol es in der Bibliothek. Das italienische Original las sich sehr gut. Ich konnte mich gut hineinfühlen und habe es als kulturelle Bereicherung empfunden. Auch wenn ich bei den kalabresischen Dialogen viel Fantasie brauchte. 🙈
Danke, und liebe Grüße nach Berlin!
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