Vorne sitzen

Dass unsere kleinen Mädchen groß geworden sind, erkenne ich an der Farbe der Flusen, die ich beim Swiffern* in der Wohnung aufsammle. Vor Jahren waren sie rötlich pink. Jetzt sind sie schwarzgrau. Als ob es fürs Großwerden einen Farbindikator bräuchte, werdet ihr sagen. Und eigentlich sind die Flusen, die ihre Kleidung und Strümpfe auf dem Boden hinterlassen, auch nicht mein Thema. Es ist ihr so schnelles Älterwerden und dass ich glaube, wir Eltern tun uns in vieler Hinsicht schwer damit, uns damit zu arrangieren. Ich tue mich schwer damit. Meine detailverliebte Einleitung ist ein gutes Indiz dafür. Wovon ich heute schreiben möchte, ist ihr Wunsch, im Auto vorne zu sitzen. Solange wir Eltern die Kinder auf unseren Wegen mitnahmen, saßen sie sicher und ohne Diskussion hinten: zum Anfang im Kindersitz, dann reichte eine Sitzerhöhung. Beides ist lange her. Trotzdem komme ich noch heute, da ich regelmäßig Mama-Taxi spiele und die jugendlichen Fahrgäste an ihre gewünschten Bestimmungsorte bringe, nicht umhin, die eingeübte Sitzordnung beizubehalten. Wenn nur eines der Mädchen mitfährt, habe ich es lieber, es sitzt genau hinter mir. Der Platz hinter dem Fahrer gilt in Unfallstatistiken als der sicherste. Ich bin geübt darin, gelassen zu verneinen, wenn ich mit „Mutti gucke mal!“ zum Umdrehen aufgefordert werde. Sitzt meine Beifahrerin hinter mir, kann ich per Rückspiegel einen Blick wechseln. Ein bisschen dient die schöne Tradition aber auch meiner eigenen Bequemlichkeit. Ich bin es von Anfang an gewohnt, beifahrerfrei zu fahren und meine Handtasche immer in Griffweite auf dem Platz neben mir zu wissen. Selbstverständlich krame ich nur im Stau oder an der Ampel nach meinen Sachen, und ich linse auch überhaupt nie aufs Handy. Großes Autofahrerehrenwort!

„Bei dir fühlt man sich immer wie im Taxi“, kritisierte die Große irgendwann. Ich lachte darüber, und sie setzte noch einen drauf: „Alle anderen Mütter lassen ihre Töchter vorne sitzen, oder mich, wenn ich bei ihnen mitfahre.“ Der letzte Satz saß. War ich eine schlechte Mutter? Ich grübelte, ob die Sicherheit unserer Kinder nur eine Ausrede wäre, um meine Bequemlichkeit nicht aufzugeben. Aber weil man ja gern im Vergangenen nach Erklärungen für seine heutigen Unzulänglichkeiten sucht, habe ich auch eine gefunden: Sich groß zu fühlen, wenn man im Auto vorne sitzt, womöglich gar erst vorne sitzend ernstgenommen zu werden, das kenne ich nicht. Meine Eltern hatten kein Auto, ich selbst habe erst sehr spät meinen Führerschein gemacht. Das war kurz bevor ich Mutter wurde und mich die Angst und das Sicherheitsdenken sogar davon abhielten, Autobahn zu fahren.

Seitdem arbeite ich daran, meine Ängste zu überwinden und die eingefahrenen Spuren zu verlassen. Nachdem ich anfangs nur unter Protest den Beifahrersitz freimachte, passiert es neuerdings sogar, dass ich enttäuscht bin, wenn sie doch hinten einsteigt. „Aus Gewohnheit“, heißt es dann. Dabei fühlen sich unsere Unterhaltungen womöglich anders an, wenn sie neben mir sitzt. Mehr auf Augenhöhe, so Schulter an Schulter. Die Jüngere muss ich hin und wieder noch dran erinnern, dass ihr Knie in der Gangschaltung nichts zu suchen hat und ihr Kopf besser hinten an der Kopfstütze bleibt, weil mein Blick nach rechts sonst eingeschränkt ist. Wir lernen es, besser spät als nie. Hoffentlich habe ich beide noch lange als zufriedene Beifahrerinnen neben mir sitzen. Unsere Älteste könnte in knapp einem Jahr schon ihren Führerschein machen und allein fahren. Auch so ein Gedanke, an den ich mich erst noch gewöhnen muss. Ich hätte liebend gern noch etwas mehr Zeit dafür.

*So ein schönes Wort! Es steckt keine Werbeabsicht für ein bestimmtes Staubtuch dahinter.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

14 Kommentare zu „Vorne sitzen

  1. Meine Mutter hat es gehasst, dass ich hinten in der Mitte saß und auf Ihr Tacho gucken konnte.
    Ab 12 war ich groß genug und durfte vorne sitzen da meinte ich dann nur noch:
    „Mama du bist im Dorf“ , wenn Sie ins Dorf fuhr.
    Mit 50 kmh die Stunde anstatt 30…🤣

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    1. Über meine Fahrkünste haben sich die Töchter noch nicht beschwert. Sie haben da vermutlich ein Urvertrauen. Ganz anders der Gatte, der ist eine Zumutung als Beifahrer. Zum Glück kommt es nur absolut selten dazu, dass er bei mir mitfährt.

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      1. Hm der Herr Gatte kann sich das nicht leisten,
        denn mein Vater hat keinen Führerschein und hat nichts zu sagen.
        Sonst darf der zu Fuß laufen.
        Ich glaube das wollte mein Vater dann lieber nicht.
        Das meine Mutter keine Karten lesen kann oder mein Vater Abbigungen zu spät ansagt war früher interessanter Gesprächsstoff für mich im Auto.😉
        Meine Mutter fährt super vorsichtig. Aber ins Dorf rein mit 50.
        Die hat auch den Führerschein abgegeben als es nicht mehr ging.
        Ich denke das sollten viel mehr tun.

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  2. Manchmal staune ich, dass meine Jungs beide schon über 35 Jahre alt sind. Aber wir haben den Kipppunkt ganz gut bewältigt und die beiden spielen jetzt die fürsorgliche Rolle (über den Kopf gewachsen sind sie mir schon lange), wenn wir uns sehen. Das kommt ja auch nicht mehr so häufig vor.
    Kinder haben heißt stets Abschied von irgend einer Entwicklungsstufe nehmen zu müssen. Das hast Du hier sehr anschaulich beschrieben.💝

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    1. Stimmt, es ist ein ständiges Abschiednehmen. Manchmal von einem Tag zum anderen, wenn sie plötzlich allein losziehen (wollen und dürfen), oder aber ein schleichender Prozess, und irgendwann wird einem die Veränderung bewusst. Danke für deine Perspektive!

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    1. Non ti preoccupare! Le nostre non hanno più un’età tale da necessitare di seggiolini; quindi, non ci sono problemi di sicurezza.
      Sono anche molto severa in un altro aspetto: non li lascio andare in bicicletta senza casco. Questa misura di sicurezza in Italia non è ancora così diffusa tra i giovani come per esempio in Germania, purtroppo.

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  3. Danke für diese interessanten Zeilen, es ist schön zu sehen, dass jede Familie ihre eigenen Sitz-Rituale fürs Auto entwickelt hat 😉
    Bei uns war es jahrelang so, dass meine Frau hinten in der Mitte saß, um sich optimal um die Kinder links und rechts von ihr kümmern zu können (es wird nämlich ständig gegessen und getrunken bei uns, wenn wir unterwegs sind!). Das dritte Kind saß deshalb immer vorne auf dem Beifahrersitz. Erst seit wenigen Jahren wurde meine Frau geupgradet und sitzt jetzt vorne. Es hat aber ein wenig gedauert, bis sie sich an das komplett neue Blickfeld gewöhnt hat…

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    1. Und ist sie gut als Beifahrerin?😉
      Es ist ja nicht nur das Blickfeld, sondern auch das so vollkommen andere Gefühl, neben dem Fahrenden zu sitzen. Er oder sie fährt dann zu schnell, zu dicht auf, zu weit links oder rechts … 😀 Mein Mann und ich haben da immer gerne Diskussionen.

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  4. Ist ja interessant … unsere Erstgeborene sitzt auch hinter dem Fahrersitz … also hinter mir. Vielleicht sitzen statistisch gesehen aber alle Erstgeborenen hinter dem Fahrer, damit der Beifahrer/die Beifahrerin leichter ans Kind rankommt? Und das Zweitgewohnheit einfach Pech …
    Neulich durfte die große für 2 Stunden ans Lenkrad, auf einem Verkehrsübungsplatz für unter 18-jährige kann man sich hier im Norden Berlins mal austoben.

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      1. Na meinen super-bomber, wo sie selbst schon in Windeln hinter mir saß. Solange ich nicht in Windeln hinter ihr sitze, ist alles bombe 😉

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