Gipfelstürmer

Ich liebe Sonntagsausflüge! Den vor zwei Wochen nannte meine Tochter verheißungsvoll Exkursion. Ohne wissenschaftliche Zielsetzung, wohlgemerkt. Unser Ziel war es lediglich, die schnöden vier Wände zu verlassen und frische Luft in schöner Gegend zu schnappen. Als mir meine Tochter die Unternehmung vorschlug, konnte ich schwer nein sagen. Schließlich bin ich diejenige in unserer Familie, die immer behauptet, sie würde gerne mal wieder richtig wandern gehen und nicht immer nur spazieren. „Aber wir sollten zeitig los, der Aufstieg zum Wasserfall ist steil und sonnig“, beschrieb sie mir die ersten Meter, die sie bereits vor einiger Zeit mit Freundinnen erkundet hatte. „Von dort aus gibt es Wanderwege durch die Berge und im Wald ist es schattiger.“ In vollem Bewusstsein, damit meinen Ruf als unternehmungslustige Wandersfrau zu verlieren, gab ich zu bedenken: „Super Idee! Im Frühjahr oder Herbst ist so eine Tour bestimmt großartig, aber bei 30 Grad unter der Sonne?“ Ich erntete einen vorwurfsvollen Blick und riss mich zusammen. Ach was. Jetzt oder nie! Wir stellten den Wecker und nahmen einen Zug, der uns zu einer Zeit am Ufer des Lago Maggiore absetzte, zu der ich sonntags normalerweise erst aufstehe. Um halb zehn ist die Luft noch frisch und die Sonne angenehm. Also hielten wir uns nicht lange im hübschen Ort Laveno Mombello auf, sondern machten uns zielstrebig auf den Weg. Hinter den Häusern geht es hoch in die Berge, und wie geplant zeigte mir meine Tochter zuerst den Wasserfall, der eher ein Wasserfällchen ist. Vielleicht heißt er deshalb auch Piccola cascata del diavolo, kleiner Teufelswasserfall.

Dabei war unsere erste Etappe gar nicht teuflisch, sondern ein Katzensprung im Vergleich zur Strecke, die noch vor uns lag. Aber das wussten wir nicht. Unser Plan war, dass wir keinen hatten. Vom Wasserfall aus kehrten wir zurück auf die Bergstraße und folgten dem Anstieg. Wohlgemut liefen wir weiter, denn nach jeder Kurve wurde der Ausblick noch spektakulärer.

Den schweißtreibenden Aufstieg ging ich gelassen an, mir machte der unausweichliche Rückweg Sorgen. Umso mehr, je höher wir kamen. Irgendwann müssten wir umkehren und die ganze Strecke wieder hinabsteigen. Das würde schmerzhaften Muskelkater verursachen. Als zwei trekking-erfahrene Abenteurer mitten aus dem Wald zu uns auf den Wanderweg stießen, fragten wir sie nach einem Rundweg. Sie verrieten uns, dass wir doch am besten gleich bis zur Bergstation der Seilbahn laufen könnten. Die sahen wir auf dem gegenüberliegenden Gipfel liegen, in scheinbar unerreichbarer Ferne. „Das täuscht“, fegte ich die Bedenken meiner Tochter beiseite. „Manchmal sieht es aus, als ob man den einen Berg runter und den anderen wieder hochlaufen müsste. Stattdessen gibt es einen direkten Höhenweg über die Kämme.“ Zwischen Campo dei Fiori und Sacro Monte hatten wir eine ähnliche Erfahrung gemacht. Auch die beiden Wanderer sprachen uns Mut zu: „Wenn ihr es ruhig angeht, seid ihr in einer Stunde da. Noch ein kurzer, steiniger Aufstieg in der Sonne, aber dann geht es durch den Wald und es wird leichter.“ Das klang gut. Wir würden mit der Seilbahn zurückfahren. Einer mathematisch-physikalischen Logik folgend, dachte ich: Was man an Abstieg einsparen will, muss man an Aufstieg zusetzen. Also weiter!

Mullattiera (Saumpfad): Maultieren macht eine 30-prozentige Steigung nichts aus. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht auch schaffen könnten.
Baita della Salute (Hütte der Gesundheit): Welch treffender Name. Wer täglich zum Brötchenholen runter und wieder hoch läuft, wird sich bester Kondition und Gesundheit erfreuen.
La Cappelletta (kleine Kapelle): Wenn gar nichts mehr hilft, hilft vielleicht beten, um den Rest des Weges auch noch zu bewältigen.

Letztendlich brauchten wir noch mal einiges mehr als eine Stunde, vielleicht sogar zwei, aber wir gingen es auch sehr, sehr langsam an. An schattigen Stellen atmeten wir durch und tranken einen Schluck Wasser, um die sonnigen Abschnitte zügig (das heißt, unserer untrainierten Kondition entsprechend) zu durchschreiten. Später im waldigen Teil wurde es nur dank des Schattens angenehmer, der Weg führte weiterhin bergauf und war steinig. Nicht ohne Grund heißt der Berg, den wir bestiegen, Sasso del Ferro (Eisenfelsen). Am Ende hatten wir 800 Höhenmeter erklommen und wurden bei strahlend blauem Himmel mit einer fantastischen Sicht von rund 1.000 Metern Höhe auf die umliegenden Seen und Bergketten belohnt. Wir genossen den mitgebrachten Proviant am Picknicktisch, ein eisgekühltes Getränk an der Bar und die Rückfahrt in der Zweier-Tonne der Seilbahn mit atemberaubendem Blick ins Tal und über den Lago Maggiore. Wir grinsten uns zu, als ein Mann in der Gegenrichtung das in die Ferne rückende Seeufer bewunderte und zu seiner Reisegefährtin meinte: „Pazzesco, chi sa che figata dall’alto!“ (Irre, wer weiß, wie geil es erst von oben ist!) Wir wussten es bereits und behaupten: Es ist am allergeilsten, wenn man dorthin aus eigener Kraft hinaufgestiegen ist.

Titelfoto: Symbolbild von Openverse.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

24 Kommentare zu „Gipfelstürmer

  1. Sehr schöner Bericht! Hat mich doch sehr an meine Zeit in Varese erinnert. Sehr oft haben wir diese Wanderung gemacht, vor allem mit Besuch aus Deutschland – aber immer anders herum:))

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    1. Danke, Marie. Bei strahlendem Sonnenschein und in dieser Gegend über dem Lago Maggiore ist es leicht, beeindruckende Bilder zu fotografieren. Man will gar nicht mehr aufhören. 😉

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  2. Das klingt doch alles in allem nach einer schönen Wanderung, ich meine: Exkursion! 🙂 Am meisten hat es mich beeindruckt, dass eine deiner Töchter den Trip vorgeschlagen hat. Ich glaube, das würde mir nicht passieren. 😉
    Und was die Bilder betrifft, kann ich mich den anderen nur anschließen: wunderschön!

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    1. Danke, liebe Sophie. Ja doch, die Große ist gerade sehr unternehmungslustig. Allerdings zieht sie normalerweise die Gesellschaft ihrer Freundinnen vor. Schon deshalb musste ich auf den Vorschlag eingehen! Am Sonntag fast so früh wie in der Woche aufzustehen, fiel mir allerdings ein bisschen schwer. 🙈 Aber es hat sich gelohnt.
      Komm gut ins Wochenende!

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  3. Das gefällt mir: „Unser Plan war, dass wir keinen hatten.“ Aber dennoch ist es doch eine Exkursion mit traumhaft schöner Aussicht geworden. Gut, dass euch der Abstiegs-Muskelkater durch die Seilbahn erspart blieb.
    Gruß zu dir!

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    1. Ja, liebe Clara. Es war alles perfekt, so spontan. Das bestärkt wieder meine angeborene Unlust, Unternehmungen haargenau zu planen. Klar kann auch mal was schief gehen, aber meistens lohnt sich das „Einfach mal machen“. So wie du gerade mit deinen Berlin-Entdeckungstouren. 😊
      Lieben Gruß zurück.

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  4. Da werden Erinnerungen an Berchtesgaden wach und an die Bergwanderungen, die unsere Tochter und ich allein machten. Das war schon abenteuerlich. Im August geht es diesmal nach Österreich. Liebe Grüße an dich.

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    1. Leider erst mal nicht. Bei bis zu knapp 40 Grad ist es mir doch zu waghalsig. 30 Grad lässt man sich als „junger Mensch“ noch gefallen.
      Kanna hier nich, kanna da? Na denn, hau rinn!😉

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    1. Stimmt. Und was mich auch gefreut hat, war die Feststellung meiner Tochter, dass wir uns glücklich schätzen können, in so einer wundervollen Gegend zu leben.

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