Das wird teuer

Eine Woche, bevor bei uns in der Lombardei an diesem Dienstag das neue Schuljahr begann, gestand mir unsere Große: „Weißt du, ich habe eigentlich keinen Bock, wieder zur Schule zu gehen.“ (Nach drei Monate langen Sommerferien mit Diskotheken und fast täglichen Vergnügungen mit Freundinnen ist das eine harte Umstellung.) Doch ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass es ein Aber gab. Und das kam prompt: „Aber ich freue mich, in den Pausen wieder auf Tour zu gehen.“ Sie besucht jetzt die dritte Klasse Superiore (fünfjähriges Gymnasium). Im Kindergarten hätte man gesagt, sie ist eine Mezzana, ein Mittelstufenkind. Mezzana am Gymnasium zu sein bedeutet, dass das Pausenschaulaufen endlich beachtet werden wird. Bislang fühlten sie und ihre Klassenkameradinnen sich eher in der Statistinnen-Rolle als in der von Hauptdarstellerinnen. Jetzt, im dritten Schuljahr, würden sie ihren ganz großen Auftritt haben.

Und dann kam wenige Tage später diese Nachricht, die alles veränderte. Das Gymnasium hatte die Klassenraumverteilung veröffentlicht. Ihr müsst wissen, dass in italienischen Schulen, zumindest hier in unserer Gegend, jede Klasse einen festen Klassenraum hat. Es sind die Lehrer der verschiedenen Fächer, die für jede Stunde in einen anderen Raum gehen müssen. Ich erkläre das, weil es zu meinen Zeiten in der DDR so war, dass wir Schüler umherzogen. Wir hatten Mathe am Ende des Flurs in der mittleren Etage, Chemie oben unterm Dach, Russisch im Erdgeschoss. Der jeweilige Lehrer empfing seine Schüler. Unsere Tochter hingegen verbringt den ganzen langen Vormittag bis um ein oder zwei Uhr in ein und demselben Raum. Die kurzen Pausen sind heiß ersehnt, allein schon, um sich mal die Beine zu vertreten. Und um sich umzugucken.

„Nein, das darf doch nicht wahr sein!“, rief sie entsetzt. „Die stecken uns in das Klassenzimmer gegenüber den Toiletten.“ Ich begriff nicht sofort, was so schlimm daran war. Hatte sie Sorge, dass ein unappetitlicher Geruch zu ihnen hinüberwehen könnte? Nein, es war der nicht vorhandene Weg zu den stillen Örtchen, der alle schönen Aussichten über den Haufen warf. Der Weg über die Flure ‒ die Treppen hoch und runter ‒ um die Toiletten aufzusuchen, war ihr Laufsteg. Fare un giro, eine Runde drehen, heißt es in Italien. Sehen und gesehen werden, sagt man in Deutschland zu dem, was die Italiener mit Fare un giro meinen. 

Wenn wir früher von einem Raum in den nächsten zogen, kamen wir unvermeidlich mit den anderen Klassen in Kontakt. Während die einen den Raum verließen, gingen wir rein, und man konnte interessierte Blicke wechseln oder auch mal ein Wort. Manchmal sehnte ich den halben Vormittag lang die Pause nach der vierten Stunde herbei, in der wir nach der 11a ins Physikkabinett gingen. Vielleicht würde Rico (Name geändert) mir wieder eine Bemerkung zur Unterrichtsstunde zuflüstern, die er gerade hinter sich hatte und die uns bevorstand. Dann waren wir ein paar Sekunden lang Komplizen, und mein Tag war im Kasten.

Heute ist unsere Tochter im selben Alter wie ich damals, denn die dritte Klasse Superiore entspricht unserer elften. Auch für sie spielt sich das soziale Leben und sentimentale Hoffen in den kurzen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden ab. Die Jungs der anderen Klassen sind schließlich immer die attraktiveren. Hinzu kommt, dass männliche Schüler am Sprachengymnasium in der absoluten Unterzahl sind. Da müssen die Mädchen für eine nette Begegnung ein paar Meter mehr zurücklegen.

Zum Glück sind die Toiletten nicht die einzigen Wanderziele für die Pause. Die Getränke- und Snackautomaten befinden sich zwei Etagen unter ihrem Klassenzimmer. Dorthin lässt sich eine wunderbare Sfilata (Schaulaufen) machen. Ich fürchte, es könnte ein teures Schuljahr werden.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

17 Kommentare zu „Das wird teuer

  1. 😃 Still vor mich hin kichernd und mit großem Verständnis für die Tochter schicke ich liebe Grüße. Ich besuchte in Hamburg eine Mädchenschule, aber wenn die Jungen in den Pausen von der Nachbarschule zur gemeinsamen Turnhalle am Pausenhof vorbei kamen, hatten wir auffällig viel am Zaun zu tun. Bis aufgeregte Lehrer*innen uns dort wegjagten. Andere Zeiten damals!

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      1. Zu groß? Da waren die Jungs zu klein.😉
        Wie blöd, dass sich Mädchen immer die absurdesten Gedanken machen, und womöglich von den hässlichsten Jungs kritisiert werden. Diese sind entweder übertrieben selbstbewusst, oder haben zumindest die große Klappe.
        Im Nachhinein weiß man, dass es einfach dumm war, sich so viele Gedanken zu machen, statt die Jugend unbeschwert zu genießen.

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    1. Auf alle Fälle! Gerade heute sprach meine Tochter am Mittagstisch davon, dass sie immer so viel mit Freunden unternehmen müsse, weil sie sich so die Erinnerungen schafft. Es ist eine spannende Zeit. Aber nun fordern auch die schulischen Pflichten wieder ihren Tribut.
      Danke und liebe Grüße an dich, Marie!

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  2. Schön, liebe Anke. Ich erinnere mich auch ans Wechseln der Unterrichtsräume. Lag zwischen den Stunden eine Hofpause und der Raum war abgeschlossen, wurden die Mappen in Reihe und Glied hintereinander an der Wand vor dem Raum abgestellt. Das war meistens der Platz unter den Kleiderhaken 😉
    Liebe Grüße vom herrlichen Binzer Strand. Das Wetter hat uns zu einem Kurzurlaub eingeladen 🌊🏊‍♀️🌞

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    1. Oh, ich beneide euch. Habe meiner Familie kürzlich auch von der Ostsee und speziell Binz vorgeschwärmt, wenn es doch nicht so unerreichbar fern läge. Für einen Wochenendausflug ist es definitiv nichts.🙁
      Hofpausen waren eine gute Sache, auch wenn wir manchmal nicht raus wollten. Dann wurden wir gescheucht. 😂 Unsere Große hat gar keinen Hof an der Schule und die Pausen sind viel zu kurz.
      LG und genießt den Kurzurlaub!

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  3. Wir haben damals auch die Räume gewechselt. Und ich glaube, wir hatten sogar nach jeder Schulstunde eine mindestens zehnminütige Hofpause. Die waren natürlich besonders wichtig, wenn man einen Blick auf seinen Schwarm erhaschen wollte, der in einer anderen Klasse oder sogar in einem anderen Jahrgang war … Mir scheint es fast, als ob die Pausen das Beste an meiner Zeit auf dem Gymnasium waren, hihi. 😉
    (Gelernt habe ich natürlich auch viel, vor allem Deutsch war mir wichtig.)

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    1. Viele Hofpausen? Nicht schlecht! Denn die beste Luft gibt es ja in Klassenzimmern voller Jugendlicher meist nicht zu atmen. Leider hat das Gymnasium unserer Tochter keinen Hof oder Ort, an den sie mal raus könnten. Sogar geraucht wird (heimlich) auf dem Klo, fürchte ich verstanden zu haben. 🙈

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  4. Du hast es so plastisch beschrieben, liebe Anke, dass ich gedanklich sofort wieder 20 Jahre zurück in das rote Backstein-Gymnasium reiste. Besonders spannend waren die Jungs aus den Klassen 10-12 für uns. 😄
    Ja, es warten aufregende Zeiten auf deine Töchter. Und als Mama steht man natürlich immer in der ersten Reihe, ob man will oder nicht. Ich bin gespannt, was du uns weiterhin berichtest. 😃 Liebe Grüße nach bella Italia, Eva

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    1. Ja, es war für uns eine spannende Zeit und ist es jetzt für sie. Freut mich zu hören, dass du auch gleich auf eine Gedankenreise an deine alte Schule gegangen bist. Das heitert in jedem Fall auf. Danke und liebe Grüße nach Francoforte!

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  5. Jungs an der Schule, das gab es bei mir nicht. Allerdings war das Jungengymnasium nebenan und wir konnten beobachten, welche Jungen wann wohin gingen – natürlich nur am Ende der Pausen, bevor der Unterricht wieder losging. Als ich in der Obersekunda war – so hieß bei mir die 11. Klasse – wurde an meinem Mädchengymnasium ein musisch-pädagogischer Zweig eröffnet, der auch Jungen offen stand. Zwei Jungen entschieden sich für diesen. Es gab eine ziemliche Aufregung unter uns Schülerinnen. Viele Grüße aus Montaione – mit Sonne und Wind und Mangel an Internetverbindung, Roswitha

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    1. Oh, die armen zwei Jungs! 😉
      Ich weiß auch im Falle des Sprachengymnasiums unserer Tochter nicht, ob sich die wenigen männlichen Schüler dort glücklich schätzen können ob der geballten Aufmerksamkeit, oder ob sie darunter leiden. Das kommt sicher auf ihren Charakter und ihre Interessen an. Aber es gibt zum Glück auch noch andere Gymnasien, deren Schülern sie auf dem Weg begegnen. Am naturwissenschaftlichen sind sehr viele (interessante) Jungs.
      Liebe Roswitha, lass dich nicht vom unzuverlässigen Internet ärgern, genieße die wunderbare Toskana! Danke und herzliche Grüße zurück!

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