Wir stehen am Gate, lange vor der geplanten Einstiegszeit. Auf der Anzeigetafel über dem Boarding-Schalter lesen wir anstelle der Flugnummer und unseres Reiseziels, dass der Flug bereits gestartet sei. Ohne uns. Einfach so. Kann ja mal vorkommen. Vermutlich hatte es der Pilot eilig, ins Wochenende zu fliegen. Warum sollen nur wir Passagagiere ein Anrecht darauf haben, pünktlich zum Abendessen bei der lieben Verwandtschaft die Füße unter den Tisch zu strecken. Trotzdem bin ich sauer, dass wir keine Information bekommen haben, nicht per E-Mail, nicht per SMS. Eine Frechheit. Kurze Zeit später folge ich in einer WhatsApp Gruppe einer Diskussion, die den Vorfall aus anderer Perspektive beleuchtet. Wie ich dort hineingekommen bin? Keine Ahnung! Ich vermute, dass Eva mich unbemerkt in die Gruppe aufgenommen hat. Sicher kein Zufall, denn just in diesem Moment unterhalten sich Flugbegleiter*innen und Bodenpersonal über das, was uns passiert ist. Nicht, dass sie mir den vorzeitigen Abflug erklären wollen. Sie scheinen keine Notiz meiner passiven Mitleserschaft zu nehmen. Während ich grübele, was das alles zu bedeuten hat, werde ich von einem Anruf gestört. Vielleicht meldet sich doch noch die Fluggesellschaft, um sich bei mir zu entschuldigen? Denkste! Mein „Pronto!“ geht ins Leere, der Klingelton entspringt der Weckfunktion meines Handys.
Es ist der 19. August und der Tag unserer Abreise vom letzten Urlaubsort in diesem Sommer. Wir werden nicht fliegen, sind zum Glück mit dem Auto da. Irritiert gehe ich duschen. Mein Traum war einer dieser real scheinenden, kurz vor dem Aufwachen, die dann aufwühlend präsent sind. Dabei versuche ich im wahren Leben, Flüge zu vermeiden. Zu Zeiten meiner Fernbeziehung mit einem Italiener und in den ersten Jahren in Italien nutzte ich Vielfliegerprogramme, bis ich merkte, dass mich die Prämien nicht interessierten. Als dann auch noch die Konkurrenz gröβer wurde und ich nicht immer mit derselben Gesellschaft flog, kam ich auch auf keine Freiflüge oder Upgrades mehr. Irgendwann beschloss ich, nur noch zu fliegen, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt und entsorgte die Treuekarten. Wenn es doch so einfach getan wie gesagt wäre. Die Urlaubsberichte der Kollegen nähren bei mir regelmäßig Zweifel, ob ich nicht die halbe Welt verpasse, nur weil ich ‒ außer zu meiner Mutter ‒ nicht mehr fliegen will. Da kommt mir die Ausrede mit dem Umweltbewusstsein gerade recht, doch eigentlich steckt eher die Tatsache dahinter, dass ich in den letzten Jahren Angst habe. Nicht diese tiefenpsychologische Flugangst, die bereits das Besteigen eines Passagierjets unmöglich macht. Nein, ich kann die Sache an sich rational und mit kühlem Kopf angehen. Nur beim Starten und unterwegs, sobald es zu kleinsten Turbulenzen kommt, verkrampfe ich komplett. Meine Füße treten dann minutenlang in imaginäre Bremsen und ich schwöre mir jedes Mal, nie, und zwar wirklich nie wieder, zu fliegen. In Familie fahren wir vielleicht auch deshalb immer nur innerhalb Italiens, nach Deutschland oder Österreich in die Ferien. Mit dem Auto. Oder noch besser, mit dem Zug. So geschehen, als mein Mann einmal nicht mitkommen konnte. Seitdem werbe ich überall für die Zugreise von Mailand nach Alassio. Bequemer geht es nicht, der Bahnhof befindet sich mitten im Ort. Ich argumentiere weiter, dass ich umweltfreundlich reise und das Auto stehenlasse. Und das meine ich auch so. Nur Eingeweihte wissen, dass ich gleichzeitig meine fehlende Bravour, Autobahn zu fahren und in kleinen, ligurischen Küstenorten einen der ohnehin nicht vorhandenen Parkplätze zu finden, elegant verschweige.
Wenn wir fliegen, dann zumeist nach Dresden. Das geht leider nur mit Umsteigen. Also zweimal starten, zweimal landen und das gefürchtete Auf und Ab zwischendurch. Aber es sind 900 Kilometer bis zu meiner Mutter. Wenn wir nur wenige Tage oder ein Wochenende haben, sind ein Tag Hinfahrt und ein Tag Rückfahrt im Auto eine schlechte Option, sogar für meinen Mann, der seinen Wagen auf der deutschen Autobahn liebend gern mal richtig ausfährt. Anfang August hatten wir fünf Nächte geplant und zwei Monate zurvor die Flüge gebucht. Am Ende waren es nur vier Nächte in Dresden. Ratet, warum! Weil am Vorabend der Reise die Nachricht kam, dass unser Flug Mailand – München für den Morgen gestrichen worden war. Einfach so. Ohne Begründung. Mit der automatischen Umbuchung auf einen Mittagsflug nach Frankfurt am Main, von wo es dann erst am Morgen darauf, früh um sieben, weiter in die sächsische Landeshauptstadt gehen sollte. Wir konnten diesen irrwitzigen Vorschlag mit einem Anruf ablehnen und die ursprünglich geplante Verbindung für den Folgetag buchen. Was ich nicht erfahren habe, war der Grund, aus dem ausgerechnet unser Flug nicht durchgeführt wurde. In jenem Moment nahm ich es gelassen und wir machten aus dem verlorenen einen gewonnenen Tag, indem wir einen schönen Ausflug an den Lago Ceresio unternahmen. Dass ein kleiner Groll noch im Hinterkopf hängen geblieben war, zeigte mein Traum drei Wochen später.
Und was hat Eva nun mit den Willkürakten der Lufthansa – tatsächlichen und geträumten – zu tun? Natürlich gar nichts. Alles, was ich weiß, ist, dass sie als Flugbegleiterin arbeitet. Und seitdem ich das weiß, denke ich bei Reisen in der Luft immer an sie. Wie sie es macht, überhaupt keine Angst zu haben. Oder im letzten November, als wir tatsächlich den Anschlussflug in Frankfurt am Main verpassten und vor geschlossenem Schalter standen. Nachts um halb elf. Wir waren mit Verspätung in Mailand gestartet, die Sache war begründet. Und doch hatten wir bis zuletzt Hoffnung gehabt, man würde die paar Minuten auf uns warten. Dem war nicht so. Der Pilot wollte pünktlich Feierabend machen, verständlich am Freitagabend. Damals bekamen wir eine Nacht im Hotel und Taxigutscheine, bis es am nächsten Morgen weiterging. Hätten sie uns kein Zimmer vermittelt, hätte ich mich bei Eva gemeldet. Wozu hat man denn eine flugbegleitende Bloggerkollegin in Frankfurt am Main wohnen? Aber Spaß beiseite: Indem ich euch diese Geschichte erzähle, habe ich eine gute Gelegenheit, endlich mal auf Evas schönen Blog zu verlinken. Zwischen Tiber und Taunus hält unterhaltsame Einblicke in den Alltag einer tri-nationalen Familie bereit. Da der Römer, wie man aus seinem Spitznamen leicht ableiten kann, unter anderem Italiener ist, kann ich die geschilderten Aspekte des Zusammenlebens oft gut nachvollziehen. Schaut mal vorbei, es lohnt sich! Vielleicht lesen wir bei Eva auch mal wieder eine spannende, amüsante Geschichte über die Erlebnisse an Bord eines Flugzeuges. Oder die am Boden, wenn der Flug versehentlich nicht oder ohne sie gestartet ist.
Titelfoto: Symbolbild von Pexels.
Du sprichst mir mal wieder in vielen Punkten aus der Seele!!! Auch ich fliege nur, wenn es sich wirklich nicht vermeiden lässt, und ich fühle mich in der Luft jedes Mal wieder äußerst unwohl. Dann bete ich mir vor, dass Flugzeuge die sichersten Verkehrsmittel überhaupt sind, und denke an eine gute Bekannte, die ebenfalls Flugbegleiterin ist und schon nichts total Waghalsiges tun wird. Außerdem muss ich mir an Bord eine Glücksperson suchen, von der ich meine, dass sie vom Schicksal auserwählt ist und ihr schon nichts zustoßen wird (und damit auch dem Rest der Passagiere nicht).
Davon mal abgesehen habe ich für mich beschlossen, in Zeiten des Klimawandels keine Strecken zu fliegen, die sich anderweitig bewerkstelligen lassen.
Liebe Grüße aus Berlin!
PS Bei Eva habe ich direkt mal vorbeigeschaut. 🙂
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Nach welchen Kriterien du die Glücksperson aussuchst, das würde mich interessieren.😉
Ich versuche immer, mich auf mein Buch oder die geplanten Dinge gleich nach der Landung zu konzentrieren, um mich abzulenken. Und beneide immer die, die bei Turbulenzen juchen und lachen. Das habe ich wohl früher auch gemacht. Ja, aufs Fliegen verzichten zu können wäre schön. Anderweitig bewerkstelligen ließe sich theoretisch alles, allein, es fehlt in einigen Fällen die Zeit.
Danke, liebe Sophie, für deine Gedanken zum Thema, und liebe Grüße zurück!
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So richtige Kriterien gibt es eigentlich nicht für die Auswahl der Glücksperson. Sie muss mir jedenfalls sympathisch sein und den Eindruck machen, dass sie glücklich und zufrieden durchs Leben geht und irgendwie noch viel vor hat. Das kann so ein Surfer-Typ sein, eine Weltenbummlerin, aber auch eine Großmutter, von der ich denke, dass ihre Enkelkinder zuhause auf sie warten. Einmal war es eine Jugend-Fußball-Mannschaft (also ganz schön viele Glückspersonen). Die Jungs waren alle so dynamisch, da merkte man, dass das ganze Leben noch vor ihnen liegt und jedenfalls nicht durch einen Flugzeugabsturz ein jähes Ende findet.
Was das Bewerkstelligen betrifft: Es muss natürlich im Verhältnis stehen! Von euch nach Dresden zählt für mich nicht mehr dazu! Das sind Strecken, die ich auch fliegen würde (aber nur, wenn ich muss!). 😉
Herzliche Grüße! Sophie
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Da hast du eine nette Beschäftigung, dir die Leute anzuschauen und dir zu Ihnen die passende Geschichte auszudenken. Das werde ich auch mal versuchen! Den nächsten Flug, zum Geburtstag meiner Mutter im November, habe ich nämlich bereits gebucht. Danke und liebe Grüße an dich!
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Hey, dein Blogartikel ist echt super! 😄
Ich kann total nachvollziehen, wie du dich fühlst, wenn es ums Fliegen geht. Die meisten von uns haben wahrscheinlich schon mal diese Flugängste erlebt, sei es wegen der Höhe oder den Turbulenzen. Deine Schilderung, wie du im Traum die Bremsen betätigst, hat mich echt schmunzeln lassen. Aber du hast so recht, dass man sich oft fragt, ob die Welt verpasst wird, wenn man nicht fliegt. Ich bewundere auch deine Einstellung zur Umwelt und deine Entscheidung, so wenig wie möglich zu fliegen. Zugreisen sind wirklich eine großartige Alternative, umweltfreundlicher und oft entspannter.
Und danke für den Tipp bezüglich Evas Blog! Es ist toll, wie du ihre Erfahrungen als Flugbegleiterin teilst und wie du ihre Sicht auf das Fliegen und das Leben im Allgemeinen beschreibst. Es ist immer schön, neue Blogs zu entdecken, und ich werde definitiv bei Eva vorbeischauen. 😊
Liebe Grüße aus Berlin! 👋
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Danke fürs Lesen und Kommentieren und herzliche Grüße in die schöne Bundeshauptstadt!
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Un saluto a te e a Eva! 👋
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Grazie, cara Luisella!
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Wie immer, genial be- und geschrieben, liebe Anke. Zum Glück war es nur ein Albtraum. 😃 Bestehen muss ich jedoch auf eine Sache: Wenn ihr mal wieder über Frankfurt nach Dresden fliegen müsst (oder umgekehrt), dann darfst (nein, sollst) du dich unbedingt bei mir melden. Wann schon hat man die Gelegenheit, dass man so wunderbare und talentierte Fluggäste live und in Farbe kennenlernen darf? 😉 Liebe Grüße und allzeit „happy landings“, wie der Fliegergruß besagt, Eva
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Danke, liebe Eva. Und, wie antwortet man richtig auf „Happy Landings!“? Gibt es da einen Standard? Ich denke an das italienische „In bocca al lupo!“, auf das man mit „Crepi.“ antworten sollte, damit der Glückwunsch funktioniert.
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Tatsächlich gibt es keine Antwort darauf – ähnlich des deutschen „Viel Glück“. Ein einfaches „Danke“ oder ein Kopfnicken reicht. 😃
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Ich bin jetzt auch schon dreieinhalb Jahre nicht mehr geflogen und habe kürzlich herausgefunden, dass ich mit dem Schiff sogar günstig nach Zypern oder nach Tunesien komme.
Als ich noch flog, hatte ich mich auch bei allen Vielfliegerprogrammen registriert und auf Freiflüge gehofft. Das höchste, was ich mal bekam, war ein Vodafone-Gutschein über 40 Euro oder so.
Und jetzt habe ich hier Vielfliegerkarten von Fluglinien liegen, die es gar nicht mehr gibt.
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Gaaanz zum Anfang gab es mal Freiflüge. Der eine, den ich geschenkt bekommen hatte, ging nach Bologna und fädelte den Faden für all die Zufälle ein, die zu meinem Auswandern nach Italien führten. Für Schiffe gibt’s solche Vielschifferkarten nicht?
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Ich glaube nicht.
Und selbst wenn, dann würde ich nie oft genug mit der gleichen Linien fahren. Nach ein paar Jahren verfallen die Punkte ja immer.
Die einzige Bonuskarte für Mehrfachkunden, die ich noch aktiv nutze, ist die für den Second-Hand-Laden.
Selbst zum Friseur gehe ich viel zu selten zum gleichen, weil ich das oft auf Reisen einschiebe.
Aber wenn das bei dir zu so einer lebensverändernden Zufallskette geführt hat, dann hatte das Vielfliegerprogramm ja doch etwas Gutes!
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