Erinnerungsschätze

Hier waren wir doch schon mal, sage ich oft zu meinem Mann, und dann geht das Ping-Pong der Erinnerungen los. Wir spielen uns gegenseitig Bälle zu: Das war doch damals als …, waren wir da nicht gerade auf dem Weg nach … Kleine Leuchtfeuer, die im Gedächtnis aufblitzen. Manchmal passiert es, dass einer von uns (meist mein Mann) den Kopf schüttelt: Das war nicht ich, da warst du mit jemand anderem. Ein provokantes Grinsen begleitet seine Behauptung. Als ob ich hier in Italien so viele Bekanntschaften gehabt hätte. Manchmal gebe ich klein bei und lasse es darauf beruhen, manchmal setze ich mich daheim an den Computer und klicke mich durch unser Fotoarchiv. So auch nach unserem Ausflug am vergangenen Sonntag, diesmal nicht, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Das war mir wohlgeneigt gewesen und hatte mich zu dem Geschäft in einer der engen Gassen geführt, wo damals dieses Foto entstand. Ich hatte meinen Vater gebeten, vor der Vitrine zu posieren. Gern hatte er mitgespielt und übers ganze Gesicht gestrahlt, wie es sich vor einem Bekleidungsgeschäft mit dem Namen „Darling“ gehörte. Gucke mal, das war heute vor 18 Jahren und sieben Tagen, rufe ich unserer Tochter zu und hole sie zu mir an den Schreibtisch. Hier, erkennst du es wieder?

Als ich für unsere Tour Verbania vorschlug, wusste ich, dass ich diesen Ort zuvor nur einmal besucht hatte. Man muss von unserer, der lombardischen Seite des Lago Maggiore, mit der Fähre zum gegenüberliegenden, dem Piemonteser Ufer übersetzen. Im Sommer 2006 hatte ich diese Fahrt mit meinen Eltern unternommen. Es waren die Tage nach unserer Hochzeit, die meine Eltern noch bei uns Urlaub machten. Manchmal denke ich, dass ich mit ihnen viel unternehmungslustiger war als heute. Anfangs erreichten wir ohne eigenes Auto, nur mit Bussen und Bahnen unsere Ziele. Bis ans Mittelmeer nach Ligurien habe ich sie gelockt. Sie, die sich schon zu alt fühlten, um noch die Welt zu bereisen, als sie es nach dem Fall der Berliner Mauer endlich durften. Aber dann zog ich, ihre jüngste Tochter, der Liebe und eines netten Jobs wegen nach Italien, in ein Land, das sie allein vermutlich nie entdeckt hätten.

Mal sehen, ob ich etwas wiedererkenne, fragte ich mich und bezweifelte es sofort, als wir in Verbania von der Fähre stiegen. Diese Orte am See sahen sich alle verdammt ähnlich. So suchte ich zunächst nicht nach Anhaltspunkten für Erinnerungen, ließ mich beim Bummeln vom Zufall treiben. Bis mir auf der Terrasse einer Bar ein alter Herr auffiel. Er saß allein bei einem Glas Aperitif, vor sich die Zeitung mit rosafarbenem Papier, die Gazetta dello Sport. Ob seine Frau derweil daheim das Sonntagsessen zubereitete? Oder würde er anschließend zu seinem Sohn, seiner Tochter gehen? Ich wünschte mir für ihn, dass der Barbesuch nur ein liebgewonnenes Ritual, keine Notlösung aus Einsamkeit war. Nicht erst, seit meine Eltern nicht mehr sind, gehen mir manche Szenen und Bilder mit alten Menschen sehr nahe. Auch diesmal kamen mir die Tränen und ich bestand darauf, noch einmal durch die zentrale Gasse im historischen Zentrum zu gehen. Ich erinnerte mich plötzlich sehr genau an dieses Foto. Das mit dem doppelten Darling. Mein Vater selbst fotografierte sehr viel in den letzten Jahren und sagte immer: Später haben Fotos einmal einen Wert. Auch wenn ich glaube, dass Bilder im Kopf die stärksten sind, gebe ich ihm recht. Unsere Tochter lächelt gedankenversunken, als sie auf dem Bild am Computer die Stelle vor dem Schaufenster erkennt, die ich ihr gezeigt hatte. Opa sieht wie ein Schatz aus. Stimmt, und Oma auch, schau mal hier. Wir klicken uns durch die alten Aufnahmen und obwohl ich denke, dass ich meine Eltern jetzt gern angerufen hätte, um zu erzählen, wo wir heute gewesen sind, bin ich nicht traurig. Ich bin froh, dass wir das alles gemeinsam erleben durften, ich diese Erinnerungsschätze in mir trage und an unsere Töchter weitergeben kann. Bis zu ihrem 80. Lebensjahr war es meinen Eltern vergönnt, gemeinsam zu reisen. Die letzten zehn Jahre auch nach Italien.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

16 Kommentare zu „Erinnerungsschätze

  1. Ein (wie immer) wunderbarer, sehr tiefgreifender Text, liebe Anke. Der Satz deines Vaters hallt bei mir nach: Fotos haben später einmal einen Wert. Genau! Gerade, wenn die Erinnerungen nur noch Schatten einer längst vergessen geglaubten Welt sind. Wie eine sanfte Umarmung fühlen sie sich an, die geliebten Menschen lächelnd auf den Fotos zu sehen – voller Melancholie und Dankbarkeit, dass es sie gab.
    Liebe Grüße und eine angenehme Restwoche, Eva

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  2. Liebe Anke, ich finde es auch so wichtig und wohltuend, diese Erinnerungsschätze (ein schönes Wort!) in sich zu tragen. Wir haben leider nicht ewig Zeit mit den eigenen Eltern, aber es ist ein wirklich gutes Gefühl, diese genutzt zu haben.
    Schön, dass deine Eltern auch im höheren Alter noch so reiselustig waren. Und das hat sicherlich auch mit dir zu tun. Du hast ihnen bestimmt ganz wichtige Impulse gegeben mit deinem Umzug nach Italien.
    Ein wunderschönes Wochenende schon mal (ich bin offenbar schon in Freitags-Stimmung ;-))!
    Herzliche Grüße, Sophie

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    1. Ja, liebe Sophie. Du sagst es. Ich hoffe, wir selbst werden bei unseren Töchtern später auch so unternehmungslustig sein (wenn sie es wünschen), aber hoffe auch, dass sie nicht nach Australien gehen. Darüber sprachen wir heute im Büro. Entfernungen sind immer relativ. Danke, euch auch ein sonniges Wochenende, das hoffentlich gleich mit einem guten Spiel startet! ⚽💪

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  3. Oh ja ein schöner Text. Das mag ich am Alter: dass ich so viele schöne Erinnerungen angesammelt habe. Wann genau und mit wem genau und sogar wo genau ist mir gar nicht so wichtig. Die schönen Gefühle sinds, die zählen.

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  4. Schön, liebe Anke! Ich fühle mit. Neulich kam eine ältere Dame zu mir, deren Mann gerade gestorben war. Sie wollte zur Trauerfeier ein Bild von ihm neben den Sarg stellen, aber ausser einem ziemlich zerschundenen alten Passfoto gab es keins. Mit viel Mühe und ein wenig Technik konnte ich ihr helfen. 13/18 cm. Mehr gab die Qualität nicht her. Die Dame selbst war erschüttert, nicht ein vernünftiges Foto ihres Mannes zu haben. Und ich mit. Liebe Grüße zum Wochenende, Bettina.

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    1. Wie traurig, zum Glück konntest du ihr helfen. Vielleicht findet sie doch später noch Fotos, wo sie sie nicht vermutet hat. Das kann man ihr nur wünschen.
      Danke und liebe Grüße an dich!

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  5. Liebe Anke, mit Deinem bewegenden Bericht hast Du wahre Schätze gehoben! Ja, Erinnerungen sind kostbar, vor allem dann, wenn die geliebten Menschen nicht mehr unter uns sind. Aber auch Erinnerungen an Schönes, das wir unternommen haben, geben immer wieder Anlass zu Fröhlichkeit und Gedankenaustausch in Familie und unter Freunden. Schade finde ich, dass das Fotografieren heutzutage geradezu inflationär praktiziert wird (Ich bin keine Ausnahme!) Das viele Knipsen bringt es mit sich, dass man oft Mühe hat, später ein bestimmtes Foto auf dem Handy oder im PC zu finden. Da waren Fotoalben handfester und praktischer. Hab einen erinnerungsgoldenen Sommer! Liebe Grüsse, Elisa

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    1. Da sagst du was, liebe Elisa. Weniger war mehr, denke ich auch manchmal bei all den inflationären, oft auch gestellten Szenen. Manchmal sind es gerade die Schnappschüsse von damals, die authentisch waren und damit später so wertvoll sind. Im digitalen Zeitalter fallen vermeintlich verunglückte Aufnahmen der Löschtaste zum Opfer. Danke, mal schauen, ob das mit dem Sommer noch etwas wird. Gerade schüttet es wieder ohne Unterlass. Liebe Grüße!

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