Streit wegen Stalin

„Se avessimo detto al cameriere che i nostri diverbi di una volta erano dovuti a Stalin, ci avrebbe preso per matti. „E avrebbe avuto ragione lui“, dissi a mio padre. Riuscii a farlo sorridere. Era un sorriso che non gli conoscevo. Aveva un che di triste e amaro.“

Wenn wir dem Kellner gesagt hätten, dass es bei unseren früheren Streitigkeiten um Stalin ging, hätte er uns für bescheuert gehalten. „Und er hätte Recht gehabt“, sagte ich zu meinem Vater. Es gelang mir, ihn zum Lächeln zu bringen. Es war ein Lächeln, das ich nicht von ihm kannte. Es hatte etwas Trauriges und Bitteres an sich.

Franca Magnani

Una famiglia italiana“*, Feltrinelli, 1. Auflage April 1991, Seite 231. Deutsch: eigene Übersetzung.

Geschichte ist langweilig? Nicht, wenn man persönliche Erlebnisse in den historischen Kontext einbindet und ein wunderbares Buch dazu schreibt, das mehr als vierzig Jahre nach Erscheinen sogar meine Tochter begeistert hat. Die Aufmerksamkeit der jungen Generation weg von Instagram und TikTok auf die Lektüre eines Buches zu lenken, ist bereits eine Herausforderung. Erst recht, wenn dieses die Zeit des italienischen Faschismus, des Krieges und der Nachkriegszeit aus der Sicht eines Mädchens und später jungen Frau behandelt, deren Familie in Frankreich und Zürich im Exil gelebt hat. Eine heute Dreizehnjährige für ein Buch zu interessieren, in dem seitenlang italienische Antifaschisten und Politiker der Nachkriegszeit namentlich Revue passieren, weil sie sich im Hause Schiavetti ‒ Magnanis Vater Fernando Schiavetti war Politiker und Journalist ‒ die Klinke in die Hand geben, muss eine übermenschliche Aufgabe erscheinen. Dass es mir trotzdem geglückt ist, macht mich froh und ich möchte meine Freude gerne teilen. Vielleicht finden sich sogar interessierte Leser*innen für das Buch, das im Original unter dem Titel „Eine italienische Familie“ erschienen ist.

Zunächst einmal möchte ich meiner Bloggerkollegin Anja danken, die mich überhaupt erst auf die Autorin gebracht hat. Da ich selbst in der DDR aufgewachsen bin und wir uns an das strenge Westfernsehverbot hielten, kannte ich Franca Magnani, die bekannte und beliebte Auslandskorrespondentin für die ARD in Rom, gar nicht. Durch ein Zitat* auf Anjas Blog war mein Interesse geweckt und als ich sah, dass Magnani auch Bücher geschrieben hat, besorgte ich mir „Una famiglia italiana“ in der Bibliothek. 27.000 Lire hat die im April 1991 veröffentlichte Ausgabe gekostet, da bin ich froh, dass sie noch gut erhalten auszuleihen war.

Solange es her ist, dass dieses Buch geschrieben wurde, so interessant und unterhaltsam ist die Lektüre noch heute. Wie fühlte es sich an, in den 30er-Jahren im Exil aufzuwachsen, als Italienerin immer mit dem Heimatland und den dortigen politischen Verhältnissen in Verbindung gebracht zu werden, sich nie ganz als Schweizerin zu fühlen aber auch keine Italienerin Mussolinis zu sein? Humorvoll bringt Magnani in ihren Erinnerungen dieses Gefühl nahe und spart nicht an Seitenhieben und Lob für beide Seiten, Gastgeber und Gäste. Interessant wird es aber auch, als die mittlerweile junge Frau das Nachkriegsitalien im Spannungsfeld der konkurrierenden Gesellschaftsentwürfe vor dem Hintergrund des Kalten Krieges erlebt. Immer ist die Dramatik der Entscheidungen und deren Tragweite spürbar. Bei den ersten Parlamentswahlen der Republik im April 1948 ging es um nicht weniger als die Frage: „Vor oder hinter dem Eisernen Vorhang“ (Democrazia Cristiana, Christdemokraten) beziehungsweise „Für den Frieden oder für den Krieg“ (Fronte Democratico Popolare, Bündnis von Kommunistischer und Sozialistischer Partei Italiens). Noch drastischer und auf seine Weise stellte Papst Pius XII. den Wählern in seiner Osteransprache 1948 die Gewissensfrage: „Mit Gott, oder ohne Gott“**. Die Gräben waren tief und sogar, wenn man auf derselben Seite stand, die antifaschistische Gesinnung gemeinsame Geschichte war, konnten Meinungsverschiedenheiten zum unüberwindlichen Streitpunkt werden. Dann wechselten Freunde plötzlich die Straßenseite oder grüßten nur knapp, und die politische Auseinandersetzung machte auch vor der eigenen Familie keinen Halt. Magnanis Eltern setzten keinen Fuß in die Wohnung ihrer Tochter, nachdem ihr zweiter Ehemann Valdo Magnani es bereits 1951 ‒ fünf Jahre vor der offiziellen Kehrtwende Chruschtschows ‒ gewagt hatte, Stalin zu kritisieren und für den italienischen Sozialismus einen anderen, unabhängigen Weg forderte. Man versteht Geschichte gleich viel besser, kann sie förmlich spüren, wenn es ans familiäre Eingemachte geht. In den Jahren des Exils verbrachten Franca und ihre Schwester die Sommerferien manchmal bei den Großeltern am Mittelmeer, obwohl die zu ihren Eltern aus politischen Gründen keinen Kontakt mehr pflegten. Der Großvater war überzeugter Funktionär in Mussolinis Machtapparat.

Daneben ist das Buch aber auch geprägt durch wunderbare kleine Episoden aus dem Familienalltag. Eine davon habe ich bereits in meinem Beitrag zum Thema Lesen und wo man es am besten (heimlich) tut, zitiert. Ob Magnani das morgendliche Ritual des Weckens, die Omnipräsenz von Wörterbüchern und das Beharren des Vaters auf korrekte Sprache beschreibt oder das stille Leiden der Mutter, für die sowohl der graue Himmel als auch der harte Züricher Dialekt im Vergleich zum süßen Klang des Umbrischen eine Beleidigung waren ‒ sie verstand es, ihre kindlichen Erfahrungen und das Leben im Exil anrührend und humorvoll zu erzählen. Ich könnte hier seitenlang zitieren, so viele Stellen habe ich gedanklich markiert. Doch ich mache es mir einfacher: Lest das Buch selbst!

PS: Falls Ihr Franca Magnani auch nicht kennen solltet, hier ein Mitschnitt aus der Sendung „alfredissimo! Kochen mit Bio“. Eine sehr sympathische Frau! Ihre Gnocchi muss ich unbedingt einmal nachkochen.

*„Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“ Franca Magnani.

**Quelle: Una famiglia italiana, Feltrinelli, 1. Auflage April 1991, Seite 203 f.

„Una famiglia italiana“ ist die italienische Ausgabe, mit Änderungen und Ergänzungen, des 1990 bei Kiepenheuer & Witsch Köln erschienenen deutschen Originaltitels „Eine italienische Familie“. Werbung, unverlangt und unbezahlt.

.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

Hinterlasse einen Kommentar