Abwesenheit (von Glück)

»Sag mal, Angi, warum gehen wir an dem Tag, an dem wir Waisen geworden sind, überhaupt in die Schule?« »Aber sie ist doch nicht unter den Zug gekommen!« »Na ja, einmal im Jahr sehen, das ist schon ein bisschen wie gestorben, finde ich.«

Marco Balzano

Wenn ich wiederkomme*, Roman, Diogenes, 2021. Seite 19.

Manuel, zu Beginn der Geschichte zwölf, und seine acht Jahre ältere Schwester Angelica gehen auch an jenem Morgen in die Schule, an dem ihre Mutter Daniela sie verlassen hat. Ihr Leben in einem kleinen Ort in der rumänischen Provinz muss weitergehen, auch ohne sie. Moma, so nennt Manuel seine Mutter zärtlich, ist bei Nacht und Nebel und ohne ihre Familie einzuweihen nach Mailand aufgebrochen, um sich dort als „Badante“, häusliche Pflegekraft, zu verdingen. Das verdiente Geld wird sie nach Hause schicken, wo sich in ihrer Abwesenheit die Großeltern und die Schwester um den jüngeren Bruder kümmern sollen. Auf den Vater ist kein Verlass. Nachdem seine Fabrik dicht gemacht hatte, fand er statt neuer Arbeit Trost im Alkohol. Als auch Danielas Firma keine Gehälter mehr zahlen kann, kommt die Familie nicht mehr über die Runden. Daniela sieht nur einen Ausweg und macht es wie zigtausende Frauen aus den ehemaligen Ostblockstaaten: im Westen in der privaten Altenpflege arbeiten, damit dort das Sozialsystem nicht kollabiert. Sie hängt ihre berufliche Qualifikation in der Heimat an den Nagel und schuftet, ohne dafür qualifiziert zu sein, in der Fremde in einem Job, für den sich die Einheimischen zu schade sind oder für den sie zu teuer wären. Daniela folgt nur einem Ziel: Ihre Kinder sollen zur Schule gehen und studieren können, um es später einmal besser zu haben.

Für meine Rubrik „Literarische Orte“ sortiere ich diesen Beitrag unter „Mailand“ ein. Doch der Roman „Quando tornerò“, so der Titel des italienischen Originals, vermittelt keine Bilder dieser Stadt, in der Daniela vier Jahre leben und in verschiedenen Haushalten als Altenpflegerin oder Babysitterin arbeiten wird, statt der versprochenen wenigen Monate. Wenn sie zum Rauchen auf den Balkon geht und von dort auf die Straße und die gegenüberliegenden Gebäude blickt, sich der zunehmenden Entfremdung von ihren Kindern schmerzhaft bewusst wird, mutiert die norditalienische Metropole zum grauen, austauschbaren Hintergrund. Ihr Leben spielt sich in einem Haushalt ab, zwischen Küche, Toilette, Sessel und Bett der zu Pflegenden. Marco Balzano erzählt die Geschichte in drei Teilen, aus Sicht des Jungen, der Mutter und der Tochter, und setzt so das Bild der Misere dieser Familie wie ein Puzzle zusammen, das den Leser nicht mehr loslässt. Balzano gelingt es auf großartige Weise, die verschiedenen Perspektiven auszuleuchten. Er schickt uns auf eine Achterbahn der Gefühle: Wir taumeln zwischen Verständnis, Mitgefühl, Unglauben, Verurteilung. Wie bewertet man Entscheidungen, wenn es keine für alle befriedigende Lösung zu geben scheint. Danielas Sohn leidet am meisten unter der Trennung. Das Gefühl, verlassen und unverstanden zu sein, treibt ihn zu einer folgenschweren Dummheit …     

Marco Balzano trifft einen wunden Punkt: Es sind am Ende immer die Schultern anderer, auf denen unser Wohlstand lastet. Dass Familien in einer prekären Situation wie der Danielas zwangsläufig auf frühere Lebensumstände zurückblicken und manchmal daran denken, wie es war, die Arbeit sicherzuhaben und in den Urlaub fahren zu können, ist mehr als nachvollziehbar. Es gibt immer zwei Seiten der Medaille. Die Diktaturen von damals hatten im Vergleich mit den Demokratien von heute unbestreitbar einen ‒ wenn auch am Ende gescheiterten ‒ Gegenentwurf zu existenzieller Unsicherheit zu bieten. Dass sich der Roman dieser Tatsache nicht verschließt, darin liegt eine seiner Stärken, meine ich. Der Autor einer Rezension beim Deutschlandfunk verurteilt genau das als seine Schwäche. Wie könne man behaupten oder auch nur in den Raum stellen, dass sich Kinder und Alte, arbeitslose Frauen und Männer in Rumänien an bescheidene, dafür glückliche Zeiten erinnern, während ihre Familien im neuen System ökonomisch scheitern und daran mental zerbrechen? Das ist weder perfide noch gedankenlos, wie der Rezensent behauptet. Es ist Aufgabe der Kunst und Literatur, solche Untiefen auszuloten und über gewohnte Tellerränder hinauszuschauen.

Balzanos beispielhafte, fiktive Geschichte beruht unter anderem auf umfassenden Recherchen und Interviews mit Betroffenen, die er sowohl in Italien als auch vor Ort in Rumänien geführt hat. Herausgekommen ist ein ergreifender Roman, der sich wunderbar liest und den Blick auf Zustände und Wahrheiten richtet, vor denen wir gewöhnlich lieber die Augen schließen.

*Werbung, unverlangt und unbezahlt.

Titelbild: Eine Straße in Mailand, Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

20 Kommentare zu „Abwesenheit (von Glück)

  1. Hallo Anke, danke für diese Buchvorstellung. Das ist ja ein großes Thema. Betrifft ja viele Menschen. Familie und Heimat zu verlassen um Geld zu verdienen, weil die gesellschaftliche und staatliche Fürsorge fehlt. Und in der Fremde dann zwar gebraucht zu werden aber nicht wirklich willkommen zu sein, als Mensch nicht gesehen zu werden und oft genug schlecht behandelt zu werden. Das ist furchtbar.
    Wir waren vor 15 Jahren mal in Rumänien und das war damals ein bitterarmes Land. Absolut erschreckend.

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  2. Vom Leid, wie es hier beschrieben ist, bin ich weit entfernt. Trotzdem möchte ich sagen: Das Gute, das in einer Diktatur erlebt wurde, ist kein Argument für das System, sondern es zeigt, dass Menschlichkeit unglaubliche Kraft hat. Glück, Liebens- und Lebenswertes verschweigen zu sollen oder sich gar seiner zu schämen, zerreißt innerlich.
    Ein weites Feld, wozu es viel zu sagen gibt. Auch meine eigene Geschichte betrachtend, was ich in einigen Geschichten bei mir schon getan habe.
    Stoff zum Nachdenken, liebe Anke! Danke!
    Ich wünsche dir einen schönen Sonntag, Bettina

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    1. Du hast recht, und das tut der Text ja auch nicht: argumentieren für das untergegangene System. Aber soziale Sicherheit ist persönlichem Glück nicht gerade abträglich, das wird angesprochen.
      Freut mich, dass ich mit dieser Buchempfehlung Anregungen geben konnte, dir und anderen, die hier spontan kommentiert haben. Danke für deine Gedanken dazu, ich wünsche dir eine gute Woche, liebe Bettina!

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      1. Ja, das habe ich aus dem Text auch so verstanden. Soziale Sicherheit und eine gewisse Kontinuität sind dem Glück zuträglich. Nur wenn man sich heute „outet“, eine glückliche Kindheit und Jugend, ich sage bewusst auch vor 1989 in Frankfurt an der Oder, gehabt zu haben, dann stößt das schon mal auf Stirnrunzeln und man wird der Verklärung schuldig gesprochen, was für mich ein völliges Verkennen der Lebenssituation, ja des gelebten Lebens ist.
        Danke, dir auch eine gute Woche, liebe Anke!

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  3. Danke für diese Rezension, die mich sehr beschäftigt hat. Demokratie garantiert keine individuelle Zufriedenheit sondern politische Mitbestimmung. Ob das eigene Leben sich dadurch besser anfühlt, hängt von vielen anderen Faktoren ab, nicht unerheblich vom materieller Versorgung und sozialen Beziehungen, also Dingen, die auch in einer Diktatur teilweise vorhanden sind. Freude ist ein elementares menschliches Gefühl, das nicht vollständig von politischen oder sozialen Systemen abhängt. Es gibt sie in vielen Bereichen wie Kunst, Natur, Musik und anderen Alltagsmomenten.
    Ein weites Thema …
    LG

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    1. Liebe Jutta! Genau, ein sehr weites Feld. Die Basis für persönliche Entwicklung und Glückssuche ist die ökonomische Unabhängigkeit, Balzano legt da den Finger in die Wunde. Was das Buch besonders und das Lesen so spannend macht, sind die verschiedenen Erzählperspektiven. Schade, dass der Vater fehlt, der hier nur als Trinker abgestempelt wird, der sich später in Polen verdingt, ohne die Familie damit zu unterstützen.
      Danke für dein Interesse und das Teilen deiner Gedanken, liebe Grüße an dich!

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  4. Hallo Anke, obwohl ich keine ausländischen Pflegepersonen kenne, hat mich das Thema sofort angesprochen und ich habe in meiner Onleihebibliothek geschaut, ob es da ist. Zwei andere Bücher von dem Autor gab es, aber dieses nur als Hörbuch – und das ist mir mit meinen Ohren zu anstrengend. Aber ich habe ihn abgespeichert, vielleicht gibt es den Text auch als Buch.

    Nicht nur hier, sondern auch in sehr viel anderen Beispielen ist Deutschlands Wohlstand sehr oft auf der Leistung anderer Menschen aufgebaut.

    Gruß zu dir

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    1. Sein Roman „Ich bleibe hier“ soll auch sehr gut sein, den möchte ich noch lesen. Na schau mal, vielleicht können sie das Buch besorgen.
      Danke und liebe Grüße zurück!

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  5. Liebe Anke, vielen Dank für den Buchtipp. Auch wir haben eine Freundin, die Danielas Schicksal teilt und in Florenz als Pflegehilfskraft arbeitet. Im Sommer haben wir sie dort besucht und einen kleinen Einblick in ihren Alltag bekommen. Sie hat Glück, denn ihr Arbeitgeber ist ein wohlwollender behinderter Herr, in dessen Wohnung sie auch ein Zimmer hat. Aber sie hat großes Heimweh nach ihren Söhnen, für die sie das alles auf sich genommen hat und „Privatleben“ hat sie kaum. https://diegrauennomaden.wordpress.com/2025/06/04/unterwegs-nach-griechenland-1-sonnenaufgang-uber-der-adria/

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    1. Gerne, Luisle. Da kennst du die Situation also aus nächster Nähe. Ja, viel hängt davon ab, an welche Arbeitgeber die Frauen geraten, ob sie sich auch gesachätzt oder nur ausgenutzt fühlen. Die Trennung von der Familie bleibt, und gerade wenn die Kinder noch jünger sind, ist das immer tragisch.
      Vielen Dank und danke auch für den Verweis, habe deinen Beitrag sehr gern gelesen. Liebe Grüße!

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  6. Vielen Dank für die Empfehlung!

    Ich habe vor einer Weile für ein Jahr in Rumänien gelebt, so dass mir das Problem bekannt ist. Deshalb ein paar Beobachtungen/Gedanken:

    Rumänien ist nicht (mehr) so „bitterarm“, wie in einem anderen Kommentar beschrieben. Es gibt es größeres Stadt-/Land-Gefälle als in Deutschland oder Schweden, das stimmt. Und nominal ist das BIP natürlich niedriger. Aber in den Städten haben die Leute auch alles, was man braucht.

    Die Arbeitsmigration ist echt ein großes Problem, weil es ganze Dörfer gibt, wo die Kinder nur mit den Großeltern aufwachsen. Die Mütter sind bei der Pflege, die Männer am Bau, und alle zusammen bei der Spargelernte, alles im Rest der EU.

    Das passiert aber nicht unbedingt aus großer Not. Es gibt in Rumänien mittlerweile einen großen Bedarf an Arbeitskräften, so dass Rumänien Gastarbeiter aus aller Welt holt. Leider gibt es halt überall Menschen, die einen okay bezahlten Job zuhause aufgeben, um nach Italien oder Deutschland zu ziehen, weil sie 500 € mehr verdienen und glauben, sich dann einen Mercedes oder BMW leisten zu können. Das ist zum Teil ganz kleinkarierter Materialismus, man sieht es ja an den Dingen, die die Arbeiter:innen in den Bussen zurück nehmen: Küchengeräte, ballenweise Kleidung, Flachbildschirme, lauter Firlefanz, den es in Rumänien genauso und günstiger gäbe. Aber wenn da noch ein Schild von einem deutschen Media Markt dranklebt, dann glauben die Eltern, dass die Kinder sich freuen.

    Zum anderen gibt es auch so eine alte, überkommene Vorstellung, dass der Westen in allem besser sei als der Osten. Das ist traurig und falsch, aber leider weit verbreitet. (Man muss ja nur im Westen fragen, was die Leute von Rumänien wissen, um das zu sehen.)

    Andererseits, und das ist paradox, fühlen sich viele Rumän:innen sowieso als Westeuropäer. Viele sprechen gut Französisch, Italienisch und Spanisch und fühlen sich – nicht ganz zu Unrecht – als die eigentlichen Nachfahren des Römischen Imperiums.

    Ein Teil der Rumänen (die Roma) verlässt auch deshalb Rumänien, weil sie dem wirklich krassen und institutionellen Rassismus entkommen wollen. Leider gibt es den Rassismus in Westeuropa dann auch.

    In den letzten Jahren sind immer mehr Rumän:innen zurückgekehrt, weil sie gemerkt haben, dass die Unterschiede in der Lebensqualität eigentlich gar nicht so groß sind. Und Rumänien ist in weiten Teilen definitiv netter, freundlicher und kulturell interessanter als viele Landstriche in Westeuropa. Für mich war es von allen Ländern, in denen ich in Europa gelebt habe, dasjenige, das mich am meisten beeindruckt hat.

    Nostalgie für die Diktatur war in Rumänien von allen osteuropäischen Staaten fast am wenigsten verbreitet, würde ich sagen. Denn die Ceausescus haben wirklich jeden klein, arm, hungrig und kalt gehalten, da ging es kaum jemandem gut. Aber ich sage „war“, weil sich das in jüngster Zeit ändert. Man sieht das ja auch in Ostdeutschland und anderswo: Je länger der zeitliche Abstand, umso mehr vergessen die Leute die Unfreiheit, die Not, die Furcht, die Beklemmung. Und umso mehr kommen die Erinnerungen an Sommerabende am Fluss, die erste Liebe, und einen schönen Subbotnik. Und dann denken 65-Jährige: „Naja, früher war schon auch gut“, meinen aber vielleicht eher die durchzechte und amouröse Jugend als das politische System.

    Das Traurigste an Rumänien ist der Einfluss der Kirche, von Sekten und anderem Esoterik-Klimbim. Da scheint irgendwie eine Lücke entstanden zu sein, in die all diese windigen Geschäftemacher vordringen.

    Jedenfalls ist Rumänien wirklich so viel mehr als ein Arbeitskräftereservoir. Ein wirklich unterschätztes Land, das fast jede:n Reisende:n begeistert. Also auf und dorthin, auf dass der Horizont sich erweitere!

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    1. Danke für dein Interesse am Thema und deine Gedanken dazu. Der Roman basiert auf intensiver Recherche. Und es ist tatsächlich so, dass viele rumänische Frauen, die aus Italien zurückkehren, unter depressiven Symptomen leiden, in den psychiatrischen Kliniken Rumäniens bezeichnet als „italienisches Syndrom” oder „Mal d’Italia”. Ich glaube (als Mutter) nicht, dass Mütter sich freiwillig von ihren Kindern trennen, wenn es ihre ökonomische Situation nicht tatsächlich verlangt. Dass sie nur aus Konsumgier die Heimat verlassen, sollte nicht vorschnell abgeleitet werden, nur weil sie ihren Kindern zur „Wiedergutmachung“ entsprechende Geschenke mitbringen. Das erinnert mich an die Argumentation, die Flüchtlinge aus der dritten Welt betreffend: Die kommen nur her, um hier zu profitieren, hatten bei sich zwar ein einfaches, aber kein schlechtes Leben. Bitte, oder WTF, wie es heutzutage heißt? Immer auf die Mehrheit bezogen, wohlbemerkt.
      Davon mal abgesehen, ist das Buch einfach klasse geschrieben und sehr lesenswert, weil es Einblick in persönliche Beweggründe und die Lebenssituation Betroffener gibt. Also, lesen!🙂
      Und ja, ich kenne Rumänien noch nicht, zweifellos eine Reise wert.(Ich sah gerade heute wieder die bravourösen Geräteturnerinnen bei der WM – auch nach Ceaușescu funktioniert das „System“.)

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