Die Aromen des Lebens

Mögt ihr Porree? Oder Lauch, wie es neualtdeutsch wieder heißt. Ich mag das Gemüse mit dem würzigen Geschmack, viel zarter und milder als die Zwiebel. Bei uns zu Hause gab es Porree in einer cremigen Soße manchmal als Beilage zu Fleisch und Kartoffeln. In Italien begegnen mir die Stangen seltener auf dem Teller und im Gemüseregal lasse ich sie links liegen, weiß ich doch, dass mein Mann sie nicht mag. Und doch habe ich es geschafft, ihn zu einem Abendessen zu überreden, dessen erster Hauptgang ausgerechnet ein Risotto „Riso e Porri“, Reis und Lauch war. Fad und nüchtern, urteilte er anschließend. Cremig, delikat, köstlich und genau richtig gewürzt, wenn ihr mich fragt. „Du bist verschnupft“, warf ich ihm vor. „Du kannst die köstlichen Aromen nicht angemessen würdigen.“

Aber von vorn. Auf den Schriftsteller Piero Chiara kam ich in diesem September, vielleicht nicht wie die Jungfrau zum Kind, aber wie eine ausgehungerte Kulturliebhaberin zu einem köstlichen Happen Literaturgenuss. Bei einem musikalisch-literarischen Abend im Innenhof des schönen Castello di Monteruzzo im benachbarten Ort Castiglione Olona, entwarfen Textausschnitte aus Chiaras Erzählungen „Cartoline dal Lago Maggiore“, Ansichtskarten vom Lago Maggiore. Diese Ausschnitte machten mich neugierig, und ich holte mir in der Bibliothek mehr von seinem Lesestoff, der zum großen Teil am Lago Maggiore und speziell in Luino (wo Pierino Angelo Carmelo 1913 geboren worden war), in Varese und im Schweizerischen Tessin angesiedelt ist. Freilich dachte ich dabei auch an meinen Blog und die Kategorie „Literarische Orte“. Vielleicht erinnert ihr euch an meinen Beitrag zu Chiaras Erzählung „La mano di Dio“. Auf den darin beschriebenen Sacro Monte blicke ich, während ich hier am Schreibtisch vor dem Fenster sitze, das in Richtung Varese geht.

Zufall oder nicht, lagen in unserer Bibliothek zu jenem Zeitpunkt kleine Heftchen aus. Sie bewarben den Literaturwettbewerb „Il festival del racconto premio Chiara“ und eine Ausstellung in Varese, die dem Schriftsteller und seinen Passioni unter dem Titel „La belezza del vivere“ gewidmet ist. Obwohl neben Reisen, Segeltouren und Kartenspiel auch gutes Essen und Billard zu Chiaras Leidenschaften gehörten, die mein Mann durchaus teilt, ging ich lieber mit einer befreundeten und literaturbegeisterten Arbeitskollegin in die Ausstellung.

Im Rahmen derselben und als Abschluss des Literaturfestivals gab es am 26. November 2021 ein Benefiz-Dinner mit einem Menü, inspiriert von den kulinarischen Vorlieben Chiaras. Das Dinner fand im ehrwürdigen Palace Grand Hotel von Varese statt, mit dem mein Mann Erinnerungen an Kindheit und Jugend verbindet. Das war mein Glück, denn so konnte ich ihn leicht überzeugen, mich zu begleiten. Der Abend im historischen Ambiente war auf ganzer Linie den gastronomischen Leidenschaften Piero Chiaras gewidmet. Zwischen den Gängen lasen Kuratoren des Literaturpreises kulinarische Geschichten aus der Feder des Schriftstellers.

Ja, doch, das ist mein Platzkärtchen. Ihr wisst ja, dass Anke für die Italiener eigentümlich klingt und eigentlich kein Name ist. Man sieht, dass mein Mann bei der Reservierung nicht anständig buchstabiert hatte. Annie ist natürlich herzallerliebst, ich habe nicht auf eine nachträgliche Korrektur bestanden.

Nach einer kleinen Vorspeise aus eingelegter Trotta Salmonata (Lachsforelle), gab es das eingangs genannte Risotto „Riso e Porri“, von Piero Chiara wie folgt beschrieben: „Reis und Lauch ist ein wunderbares Gericht. Ich behaupte, dass Risotto nicht allzu schmackhaft sein sollte, da es einen sonst schnell anwidert und die Lust auf die folgenden Speisen nimmt. Es ist ein Einstiegsgericht, es muss den richtigen Geschmack haben, moderat gewürzt sein.“* Leider war das anschließend servierte Hauptgericht mit gegartem Forellenfilet, gedämpften Kartoffeln und Gemüse geschmacklich auch sehr moderat. An unserem Tisch wurde gewitzelt, es erinnere an eine Mahlzeit im Krankenhaus. Der Vergleich mag insofern passen, dass die Speise in ihrer Einfachheit und gesunden Zubereitung unsere heutzutage so überreizten Geschmacksnerven wohl nicht mehr trifft. Wann gibt es heute schon mal patate lesse (gedämpfte Kartoffeln) in italienischen Restaurants? Es dominieren allerorts die patate al forno (im Ofen geröstete Kartoffelstücken), knusprig golden und mild gewürzt im besten, fetttriefend, zerkocht und versalzen im schlimmsten Fall. Piero Chiara muss heimliche deutsche Wurzeln gehabt haben, so schwärmte er in einem Interview vom traditionellen Grundnahrungsmittel der Deutschen: „Ich mag Kartoffeln mehr denn je, in Wasser gekocht, ganz natürlich. Wenn sie gut ist, ist die Kartoffel auch so köstlich, mit einem Spritzer Olivenöl, sogar mit ein wenig Essig, in einem Salat, in welchem sie ihr volles Aroma entfalten kann.“* Chiara schätzte die ursprüngliche, einfache Küche, ohne viel Schnickschnack. Im selben Fernseh-Interview, das auch in der Ausstellung gezeigt wurde, gab er zu, dass ihn die Vorstellung, dass die Lebensmittel zu stark mit den Händen bearbeitet worden sind, abschreckte. Lieber genoss er eine unberührte, ordentliche Pellkartoffel, die er sich selbst am Tisch mundgerecht zubereiten konnte. Mit Sorge beobachtete Chiara seinerzeit die Tendenz zu Fertiggerichten und anzurührenden Koch- und Backmischungen. Das waren in den sechziger und siebziger Jahren die Anfänge der heute als „Convenience Food” beworbenen industriell verarbeiteten Nahrungsmittel, die auch in italienische Küchen Einzug hielten. Da wurde nicht mehr gekocht, da wurde ein Pulver angerührt, kommentierte Chiara, wie handschriftliche Notizen und Zeitungsausschnitte in der Ausstellung dokumentieren.

Erkennt ihr das Jahr auf dem Espresso-Tässchen des Palace Grand Hotels? Der herrschaftliche Jugendstilbau wurde 1913 in Varese eröffnet, im selben Jahr, in dem Piero Chiara ein paar Kilometer weiter nördlich in Luino zur Welt kam.

Heute, fünfunddreißig Jahre nach dem Tod des Schriftstellers im Jahr 1986 in Varese, scheint es, dass man wieder wegkommt von zu viel Lebensmittelchemie auf dem Teller. Geklärt werden muss noch die Frage, wer das gesunde und abwechslungsreiche Kochen in Familien übernimmt, in denen beide arbeiten. Wer es sich leisten kann, kauft vom „Banco“ (Theke) im Supermarkt oder in der „Rosticceria“ (Feinkostladen), wo täglich frisch gekocht wird. Kochen lassen, wäre das auch im Sinne Chiaras? Ich denke schon, denn jeder sollte seinen ureigensten Leidenschaften frönen. Was dem einen die Küche, ist dem anderen die Kunst, der Sport, die Handarbeit. In dieser individuellen Wahl und deren Genuss besteht doch am Ende „La bellezza del vivere“, die Schönheit des Lebens. Das gute und gesunde Speisen gehört zweifelsohne dazu. In unserer Familie kocht der Hausherr. Gott, oder vielmehr meinem Mann, sei Dank. Ich backe hin und wieder, aber meine wahre Leidenschaft, wie ihr wisst, ist das Texten. „I sapori del vivere“, die Aromen, der Wohlgeschmack des Lebens, möchten schließlich auch beschrieben werden. Was das Risotto mit Lauch betrifft, so würde ich es liebend gern einmal nachkochen und mich dazu freiwillig die nötige Zeit an den Herd stellen. Mein Mann, und ich fürchte auch die Kinder, lassen mich leider nicht. Der geschmacklichen Bedenken im Hinblick auf Porree wegen. Habt ihr Lust, es für mich auszuprobieren?

Rezept Risotto mit Lauch, für 4 Portionen (übersetzt von https://blog.giallozafferano.it/piattiprontiinunattimo/risotto-ai-porri/)

Zutaten: 1 Stange Lauch (mittelgroβ), 360 g Risottoreis, 100 g Parmesan, 50 g Butter, 1 Liter Gemüsebrühe, 1 Prise Muskatnuss, 1 Bund Petersilie, Salz, Pfeffer.

  1. Eine mittelgroße Pfanne auf kleiner Flamme erhitzen, die Butter hineingeben und vollständig schmelzen lassen.
  2. Während die Butter schmilzt, das Lauch waschen und putzen, den dunklen Teil entfernen, den weißen Teil in sehr dünne Ringe schneiden und diese in der geschmolzenen Butter 5 Minuten bei mittlerer Hitze glasig dünsten.
  3. Anschließend den Reis dazugeben und etwas Gemüsebrühe unterrühren.
  4. Wenn der Reis halb gar ist, den geriebenen Parmesan in die Pfanne geben und weiterrühren, bei Bedarf Gemüsebrühe hinzufügen.
  5. Ein wenig Muskatnuss und etwas Petersilie in die Pfanne geben und unter Hinzugabe von Brühe den Reis so lange weiterrühren, bis er gar ist.
  6. Das Lauchrisotto mit einem Stängel Petersilie dekoriert servieren. (Im Palace Grand Hotel zierte das Risotto eine Veilchenblüte, das ist natürlich vornehmer.)

*Zitate übersetzt aus diesem Artikel bei Varese News.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

30 Kommentare zu „Die Aromen des Lebens

  1. Ich reihe mich leider in die Gruppe von Menschen, die Lauch in allzu schmelzender Form überhaupt nicht mag, wenn er diese gewisse Schleimigkeit entwickelt, aber davon abgesehen ist es ein schöner Artikel. Einfache Pellkartoffeln hingegen könnte ich ständig essen, so wie das früher auf dem Lande in Norddeutschland auch üblich war.

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    1. Danke schön. Ja genau, Pellkartoffeln, „angemachter“ Quark und Leinöl. Werde ich mir in Deutschland wünschen, wenn ich das nächste Mal zu Gast bin.
      Liebe Grüße in den Norden!

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  2. Vielen Dank, liebe Annie, für diesen zauberhaften Beitrag und natürlich für das Rezept! Riso e Porri, eine Supersache. Ich glaube, Thymian würde ihm auch gut stehen, statt Petersilie. Aber woher kriegen die Palace-Varesen Veilchen im Dezember?

    Aus dem Süden grüßt
    Francesca (wurde ich schonmal genannt, um Birgit zu vermeiden)

    Gefällt 2 Personen

    1. Hallo Francesca, sehr gern geschehen. Gutes Gelingen beim Ausprobieren!
      Sicher hatten sie die Veilchen aus den Giardini, Varese ist doch die „Gartenstadt“. Wir wollen am Wochenende mal hin, aber der Weihnachtslichter wegen, ich werde mal schauen, ob dazwischen noch etwas blüht.😉
      Liebe Grüße aus dem „im Schnee versunkenen“ Norden! Annie

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  3. Eigentlich koche ich ganz gern. Nur wenn ich es ständig muss, wird es mir zum Ärgernis. Ein wenig Unterstützung hätte ich dann schon gern von der lieben Familie. Es gibt auch keine großen Klagen, was meine Kochkünste betrifft. Und Lauch essen wir alle gern. Am liebsten in einer Käse-Lauchsuppe mit Hackbällchen, aber auch als Beilage wie von dir eingangs beschrieben. Risotto ist mir noch nie so richtig gelungen. Vielleicht probiere ich es noch einmal bei Gelegenheit. Morgen mache ich mit meiner Tochter den Einkauf fürs Wochenende. Habe gerade Lauch auf die Liste geschrieben 😉😊
    LG Bettina

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    1. Hallo Bettina,
      Käse-Lauchsuppe mit Hackbällchen klingt auch verlockend. Wie blöd, dass ich in eine Lauch ablehnende Familie geraten bin. Na, mal sehen, Geschmack kann sich auch noch ändern, zumindest bei den Kindern soll es das ja geben.
      LG Anke

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  4. Hauptsache Hingabe. Ich denke mal, dass die Essenz 😉 Ich liebe alle Arten von Gemüse und tatsächlich mag ich eher Kartoffeln als Reis und daheim gab es eben auch Kartoffeln mit cremigen Porree. Köstlich. Wie Kartoffeln mit Spinat und Spiegelei 🙂
    Ciao Caro.

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    1. Genau, Hingabe ist das beste Rezept. In der Küche wie im Leben.
      Und die einfachen Rezepte der Familie müssen wir unbedingt weitergeben. Dazu gehören, wie schon an Puzzleblume geschrieben, für mich auch Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl. LG Anke

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  5. Oh, ich liebe Lauch und ich liebe Risotto. Nur unsere jüngste Tochter rümpft bei beidem die Nase und pickt eher wie ein Vögelchen in ihrem Essen herum. Aber ich muss ihr zugute halten, dass sie zumindest das Meiste wenigstens probiert und solange isst, bis der gröbste Hunger erledigt ist😅.
    Deine Erzählung über Chiara und seine Vorliebe für einfache, selbstgekochte Kost berührt mich, passt sie doch auch gut zu unserer Unterhaltung über Nachhaltigkeit gestern.
    Pellkartoffeln mit Quark (und ganz gern ein Bismarckhering dazu) ist nie verkehrt, das mögen alle.
    Einen schönen Tag, Anja

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    1. Liebe Anja, ich kannte bis zu diesem Abendessen die Kombination von Lauch und Risotto auch nicht. Sicher hätte es die Oma meines Mannes gekannt, Reis war ihr Überlebensgericht in den Kriegsjahren in Varese, und das Rezept ist ja sehr einfach. Saurer Hering ist auch klasse, wird hier bei uns in Norditalien leider gar nicht gemacht. Stimmt, traditionelle, einfache und jahreszeitgerechte Gerichte weiterzugeben ist in jedem Fall ein Aspekt von Nachhaltigkeit. Danke und dir auch noch einen schönen Nachmittag!

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    1. Nicht wahr?! Ich bitte zu entschuldigen, dass ich sie erst nach dem Trinken fotografiert habe. Bin kein geübter Espresso-Tassen-Fotograf für den perfekten Kaffee-Moment, dafür gibt es Spezialisten. Einer fährt Taxi. In München. 😀

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