Alles nur geklaut?

Oh oh oh … da ist schon wieder dieser Song! Es sind kaum zwanzig Minuten des neuen Jahres vergangen, im Fernsehen läuft die Rai mit „L’Anno che Verrà“ (Das kommende Jahr). „Amore“, rufe ich meinen Mann, der mit der Kleinen auf dem Balkon Wunderkerzen schwenkt. Ich drehe die Lautstärke hoch, aber der eingängige Sound erreicht die Ohren der Feiernden nicht. Es gibt auch diesmal wieder allerhand Feuerwerk in der Nachbarschaft und den umliegenden Orten, kaum weniger als in anderen Jahren.

Oh oh oh, oh oh oh … singe ich mit, lauter als es meiner bescheidenen Sangeskunst angemessen ist, aber kurz nach Mitternacht im neuen Jahr darf man das. Ich bin wieder zwölf und tanze auf der Disko im Ferienlager. Jener Sommer 1984 an der Ostsee war mein zweites Ferienlagererlebnis und das erste mit zarten Verwirrungen des Herzens. Jungsbesuch im Mädchenbungalow, abends, nachdem die Erzieherinnen ihren letzten Kontrollgang gegangen waren. Heimliches Knutschen auf dem Doppelstockbett. Nein, ich doch nicht, die anderen Mädchen. Albernes Getue. Ich hatte eine echte, heimliche Liaison. Mir gefiel der blonde Tim*. Und ich ihm. Das war klar wie der tägliche Malzkaffee zum Frühstück. Tim war nur zu schüchtern. Beweise gefällig? Also, wenn einer aus unserem Kleiderschrank steigt, in dem er sich vor der Erzieherin versteckt hatte, und einen Kleiderzipfel in der Hand hält, ein schmeichelndes „So ein schönes Kleid“ stammelt und dabei zu mir blickt. (Wie ihr euch denken könnt, war es mein Kleid). Oder wenn ich mit zwei anderen auf dem Doppelstockbett oben sitze, er liegt unten und soll gegen die Matratze treten, damit wir in der oberen Etage jauchzend in die Luft hüpfen. Wo tritt er zu? Na klar, genau an der Stelle, wo ich sitze. Romantisch, nicht wahr? Das waren nur zwei von vielen unverkennbaren Zeichen, aber leider fanden wir zwei Königskinder in diesem Sommer nicht zueinander. Da half es auch nicht, dass Laura Branigan täglich mehrfach aus dem Lager-Lautsprecher tönte und davon sang, ihre Self Control zu verlieren. Oh oh oh, oh oh oh. Es war unser Hit in diesen zwei aufregenden Wochen an der Ostsee, und Lauras betörende Stimme blieb mir für immer im Ohr.

Da staunte ich nicht schlecht, als ich viele Jahre später in Italien eine andere Version meiner Ferienlager-Hymne hörte, gesungen von einem Mann. Einem Italiener. Genau dem, der auch jetzt, in den ersten Minuten des neuen Jahres 2022, auf der Fernsehbühne steht und Self Control singt.

„Amore“, rufe ich nun etwas hartnäckiger, sonst ist der Titel gleich vorbei. „Hör doch mal, da ist schon wieder Raf, der dieses Lied geklaut hat.“ Mein Mann kommt rein und grinst mich kopfschüttelnd an.

Copiata? La cantante americana l’ha copiata da lui, non ti ricordi? Kopiert? Die US-amerikanische Sängerin hat es von ihm kopiert, weißt du das nicht mehr?

Verdammt, sollte ich mich schon wieder täuschen? Alle paar Jahre nur begegnet uns dieser Titel, in der einen oder der anderen Version, und jedes Mal kriegen wir uns wieder in die Haare. Ich bin überzeugt, dass es Laura Branigan war, die diesen Titel sang, und mein Mann behauptet, er war ursprünglich von Raf. Zum Glück gibt es heutzutage das schlaue Internet, mit dem man jeden Streit aus der Welt schaffen kann, noch ehe einer die Selbstkontrolle verliert. Und deshalb merke ich es mir jetzt ein für alle Mal und schreibe es an dieser Stelle sogar auf. Für euch und für mich: Niemand hat etwas geklaut. Self Control wurde vom italienischen Popsänger Raf (Raffaele Riefoli) zusammen mit Giancarlo Bigazzi und Steve Piccolo geschrieben. Der italienische Künstler Raf war damals nur in Europa bekannt, so dass sein Musikverlag den Titel auch Laura Branigan anbot, die bereits mit einem Cover von Umberto Tozzis Gloria internationalen Erfolg gehabt hatte. Ihre Coverversion von Self Control erschien nur kurze Zeit vor dem italienischen Original, beide waren 1984 zeitgleich in den Charts.**  

Ein ewig schwelender Familienstreit wurde in den ersten Stunden des Jahres 2022 friedlich und für beide Parteien zufriedenstellend beigelegt. Könnte ein Jahr besser beginnen? Und es ist doch auch beruhigend zu wissen, dass sowohl Männer als auch Frauen ein Lied davon singen können, wie es ist, die Selbstkontrolle zu verlieren.

Kanntet ihr den Song von Raf? Hier sein Auftritt in der italienischen TV-Show Popcorn von 1984:

Aber sicher erinnert ihr euch an Laura Branigan? Hier das offizielle Musikvideo zu ihrem Cover, das ein Welthit wurde:

*Name von der Redaktion geändert. **Quelle:  Wikipedia

Titelbild: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

25 Kommentare zu „Alles nur geklaut?

  1. Ein perfekter Start ins neue Jahr. Ich musste sehr lachen, liebe Anke! Noch mehr als ich bei Youtube einen italienischen Kommentar las, dass Laura Branigan den Song von Raf kopiert hat. Na, wenn die Dame, die den Kommentar geschrieben hat, wüsste. Soll ich deinen Artikel verlinken? Aber vermutlich spricht sie kein Deutsch und würde nur den Satz deines Mannes und „Amore“ verstehen. 😄

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  2. Oh wie schön, ich habe so viele tolle Erinnerungen an Ferienlager.
    Von „langsamer Runde“ in der Disko, über Wald-und Wiesen-Tee aus dem riesigen Tee-Kessel bis hin zu den nächtlichen Besuchen bei den Mädels. Aber im Schrank saß ich nie, also bin ich schon mal nicht der Tim*

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  3. Diese „ersten zarten Bande“ hast du schön beschrieben und dass man dazu einige situationsverknüpfte Songs im Gedächtnis behält, kenne ich auch so. Die an eigene Erinnerungen geknüpften Interpretationen wird man wohl immer für sich selbst als die einzig richtigen empfinden.

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    1. Danke. Ja, die Erinnerungen werden glorifiziert, aber das darf ruhig so sein. Und Überzeugungen sind nach so langer Zeit nicht mehr anfechtbar. 😉

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  4. Schöne Geschichte 😊
    Es gibt so einige Lieder, mit denen ich Lebensphasen verbinde. ‚Selfcontrol‘ gehört bei mir in die eher …. äh … ungestüme Zeit.
    Sonntagsgrüße
    Sabine 🕺🏼🎵 🎶🎵 🎶

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    1. Tatsächlich? Damals schon? Bei Wikipedia steht ja, Raf war in den (west-)deutschen Charts auf Platz zwei nach Branigan. Witzig. Zu uns über die Grenze hatte er es wohl nicht geschafft. Zumindest nicht ins Ferienlager. 😉

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      1. Ach so, na klar. Damals, 1984, warst du wohl auch noch zu jung, um die Charts zu kennen. Wenn du überhaupt schon geboren warst … 😄

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  5. Schöne Erinnerungen. Ich kannte das Lied in beiden Versionen. 1984 war das Jahr, in dem ich endgültig vom schüchternen Küken zur frechen Göre mutierte🤣. Sweet sixteen und das erste Mal bis über beide Ohren verliebt.
    Liebe Grüße in den Süden, Anja

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    1. Es freut mich, dass ich auch bei dir aufregende Erinnerungen wecken konnte. 😉 Liebe Grüße in den Norden! (Bei uns ist es auch kalt zur Zeit, aber so lange die Sonne scheint, lasse ich es mir gefallen.)

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  6. Ich finde es viel faszinierender, was der Drummer von Raf da so vor sich hinschlägt. Voll-Playback ist ja ok, aber dann sollte man wenigstens so tun als ob, oder? Aber ganz abgesehen davon: es gibt diese Lieder unserer Kindheit und Jugend, die für uns etwas ganz besonderes sind, weil wir Erinnerungen damit verbinden. Und da es Erinnerungen über einige ersten Male sind, sind auch die Erinnerungen besonders. Mir fallen da einige ein…

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