Es ist Mitte November und ich bin wild entschlossen, endlich zu einer Veranstaltung des Freundeskreises zu gehen, bei dem ich seit einem Jahr anonymes Mitglied bin. Immer war etwas anderes: keine Zeit, kein Bock auf das Thema, oder der Veranstaltungsort lag fuori mano (ungünstig zu erreichen). Diesmal würde ich keine Ausrede gelten lassen: Schon Mitte der Woche teile ich meiner Familie mit, dass sie am späten Sonntagnachmittag nicht mit mir rechnen sollen. Ich besorge mir ein Bahnticket online und lasse mir von meiner Tochter den Fußweg in Varese beschreiben. Schließlich liegt die Villa, in der das Event stattfinden soll, auf ihrem Schulweg. Das üppige Sonntagsessen verlegen wir vorsorglich auf den Abend. Mit einem leichten Risotto bin ich davor gefeit, plötzliche Sofaschwere zu bekommen und bei einem Mittagsschläfchen mein Vorhaben doch noch aufzugeben. Auch einen letzten Ablenkungsversuch der Kleinen wehre ich erfolgreich ab. Mutti, wann gehen wir endlich neue Klamotten shoppen? Heute nicht! Was bin ich doch für eine Rabenmutter.
Erwartungsvoll sitze ich im Zug und genieße den Blick von der Eisenbahnbrücke auf unseren kleinen Ort, der sich in der nachmittäglichen Sonne von seiner romantischsten Seite zeigt. In Varese habe ich über eine halbe Stunde Zeit bis zum Veranstaltungsbeginn, folge der Verlockung eines offenstehenden Tores und betrete eine Parkanlage, in deren Zentrum ich staunend vor dem ehemaligen Grand Hotel Excelsior stehe. Wow! Dafür, dass es seine Glanzzeiten als Luxusabsteige vor über hundert Jahren hatte und schon seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in öffentlicher Hand ist (als Sitz der Provinzverwaltung und Präfektur), macht es eine prächtige Figur, findet ihr nicht? Wie hatte mir mein Mann, gebürtiger Varesiner, dieses touristische Kleinod all die Jahre vorenthalten können? (Er kannte es nicht oder war sich zumindest nicht bewusst, dass es ein ehemaliges Hotel und so schön anzuschauen ist.) Während ich die überraschende Entdeckung genieße und durch den dazugehörigen Park bummele, stelle ich fest, dass ich mittlerweile die einzige Spaziergängerin bin. Auch die hellen Kinderstimmen sind nicht mehr zu vernehmen, die ich kurz zuvor noch als beruhigendes Hintergrundgeräusch registriert hatte. Mir kommt in den Sinn, dass es – dem schönen Wetter zum Trotz, aber jahreszeitgemäβ – womöglich recht frühe Schlieβzeiten gibt und gehe in die Richtung, aus der ich glaube, gekommen zu sein. Mein Herz gerät aus dem Takt, als ich vor einem verschlossenen Tor stehe. Der Blick auf die Beschilderung lässt ausgerechnet die Öffnungszeiten im Ungewissen, sie sind fein säuberlich (für mich?) unkenntlich gemacht. Ich wähne mich schon bei „Versteckte Kamera“, bin ich mir doch sicher, hier vor kaum fünfzehn Minuten hindurchgegangen zu sein.


Ruhig bleiben, durchatmen und weiterlaufen, spreche ich mir Mut zu. Noch ist es nicht dunkel, noch werde ich einen Ausweg finden. Und tatsächlich stehe ich keine fünf Minuten und zwei Ecken weiter an dem Tor, durch das ich den Park tatsächlich betreten hatte. Jetzt aber nichts wie los zu meiner Veranstaltung, der Eingang müsste sich eine Straßenecke weiter befinden. Doch auch dort: gähnende Lehre und verschlossene Türen.

Ich rufe meinen Mann an und reiße ihn aus seinem Mittagsschläfchen, schließlich hat der Strohwitwer das ganze Sofa für sich allein. (Die Töchter sind auch daheim, andere Konstellationen lassen sich folglich ausschließen.) Er schaut sich das Foto meines Standortes an und lotst mich nach rechts, an dem weißen Lieferwagen vorbei. Aber dort war ich bereits, auch dort hatte ich keine Menschenseele und keinen einladenden Hinweis gefunden. Hast du eine Telefonnummer von dem Verein? Na klar, die stand in der E-Mail … Im Büro antwortet niemand. Wie sollten sie auch, es ist Sonntag und sie sind hier vor Ort, bei der Veranstaltung. Mir schwant etwas, jedoch kann ich das diffuse Gefühl noch nicht fassen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch einmal die Einladung, die Betreffzeile … Mein Mann ruft zurück. Bist du dir sicher, dass das heute ist? Er hatte ins Schwarze getroffen. Ich druckse noch ein wenig herum, bis ich kleinlaut zugebe: Nein.
Meine Veranstaltung, oder besser gesagt die, die ich besuchen wollte, war bereits am Tag zuvor, am Samstag, den 12. November, über die Bühne gegangen.
Gesenkten Hauptes kehre ich heim. Ich ärgere mich sehr. Und doch war mein Ausflug wenigstens einer, und etwas unternehmen oder zu unternehmen versuchen ist immer besser, als nichts zu unternehmen. Auch wenn man vor einem verschlossenen Tor steht und sich selbst in den H… beißen könnte ob der eigenen Schusseligkeit. Aufregender als ein Nachmittag auf dem Sofa war mein Ausflug auf jeden Fall! Ich besitze nun auch einen Account (davon hat man nie genug) bei den Verkehrsbetrieben und kann jederzeit Tickets online kaufen. Und ich weiß, wo ich mit meiner Familie das nächste Mal in Varese vorbeischaue: im Park der Villa Recalcati mit dem ehemaligen Grand Hotel. Vielleicht im Sommer, da lässt es sich am besten von mondänen Zeiten träumen, als Varese noch eines der attraktivsten Ausflugsziele für vornehme Sommerfrischler war.

Zum Weiterlesen: Via Recalcati, illustres Anwesen aus dem Varese des 18. Jahrhunderts.
Wie ärgerlich. Und dann auch wieder nicht. Der Ausflug hat sich gelohnt und wer hat sich noch nicht im Tag geirrt? 🙂
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Genau. Das war so ein zwiespältiges Gefühl, aber am Ende fühlte es sich trotzdem gut an, der Sonnenschein an dem Tag hat sicher das Seine dazu beigetragen. 🌞😀
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Manchmal wird man wie von Zauberhand gelenkt und entdeckt dabei etwas wunderbares, liebe Anke. Auch wenn die Veranstaltung an einem anderen Tag war, „deine“ Veranstaltung liest sich auch sehr schön. 😃 Liebe Grüße, Eva
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Eben, und man kann was erzählen. Auch meine Familie hat nach der Rückkehr herzlich über ihre verpeilte Mutter gelacht. Mit einem Bericht über die Buchpräsentation, die ich besuchen wollte, hätte ich ihre Aufmerksamkeit nicht annähernd so sicher gehabt. Danke, liebe Eva und sei auch herzlich gegrüßt!
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Nichts ist vergebens 😉
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Irgendwas geht immer. 😉
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So ist es 😉
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Du glaubst gar nicht, wie ich das nachfühlen kann. Ich habe extra nach meinem Artikel gesucht, wo mir etwas ähnliches passiert ist.
https://chh150845.wordpress.com/2014/12/07/aktuell-und-nicht-zuruck-geschaut/
Und das mit dem falschen Tag kann ich noch ein kleines bisschen besser:
Ich war einen Tag zu spät an der Bushaltestelle, als ich für eine Woche nach Italien fahren wollte. Der Veranstalter war so kulant und hat mich später fahren lassen.
Aber auf diese Weise hast du wenigstens etwas Schönes entdeckt.
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Wie lustig, ich habe deinen Bericht vom Missgeschick im Innenhof gleich gelesen.
Eine Urlaubsreise am Tag danach antreten zu wollen, ist natürlich der Hammer. So kulant sind sicher nicht viele Reiseanbieter. Kann ja jeder behaupten, er sei einen Tag zu spät gekommen. Oder hast du ein Selfie mit Tageszeitung in der Hand von dir gemacht, als du mit Sack und Pack an der Bushaltestelle standest?
Stimmt, manchmal erlebt man was anderes Schönes und in jedem Fall hat man was zu berichten und die Lacher auf seiner Seite.
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Liebe Anke, Dein Beitrag hat mir sehr gefallen, er ist spannend geschrieben. Von der Buchpräsentation wäre wohl kein Text entstanden. Unachtsamkeit in Sachen Termine gibt es zuhauf, da ist man in guter Gesellschaft. Freunde von mir fuhren stundenlang ans Ende der Schweiz, um einer Hochzeitseinladung in einem vornehmen Restaurant zu folgen. Als sie ankamen, fand im betreffenden Saal ein Seniorentreffen statt, und da sie noch nicht in diesem Alter und außerdem sehr festlich gekleidet waren, weckten sie bei den Herrschaften großes Erstaunen. Kurz und gut: Es stellte sich heraus, dass die Hochzeit bereits eine Woche früher stattgefunden hatte! Liebe Grüsse, Elisa
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Danke, liebe Elisa. Die von den verspäteten Hochzeitsgästen ist auch eine sehr originelle Geschichte. Ich stelle mir vor, da wäre eine andere Hochzeit gewesen. Ob man sie dazu eigeladen hätte, wo sie schon mal da waren und fein angezogen?
Man könnte mal die besten Anekdoten sammeln und ein Buch herausbringen, mit einer Variation des berühmten Satzes: „Wer zu spät kommt, … der wird vom Leben überrascht.“
Liebe Grüße an dich!
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Originelle Idee! 😀😀
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È successo anche a noi di sbagliare giorno per un concerto d’organo cui tenevamo. E poi cercavamo di ricordare chi fosse stato il primo che aveva iniziato a nominare il giorno sbagliato. 😄😄😄
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Non potevo incolpare nessun altro, solo io avevo letto l’invito. 😉 Devo aver pensato all’ultimo evento di questa associazione, che si è svolto di domenica (quando eravamo troppo pigri per partire nel pomeriggio). Credo di aver ragionato: una volta domenica, sempre domenica.🙈
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Hihi…Schusselchen…hätte ich sein können 🙂
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Also ein Handschütteln, symbolisch! 😀
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gern 🙂
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Du Arme! Aber das sieht alles so schön aus und ist so wunderbar beschrieben, dass es auf keinen Fall vertane Zeit war.
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Nein, das war es nicht. Danke, und schöne Grüße nach Rom!
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Das ist aber wirklich Pech.
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😭🤷♀️
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Wenn man abseits des Weges geht, entdeckt man oft die schönsten Orte und Dinge. So ist es doch immer wieder. Wenn alles glatt laufen würde, würde außerdem weniger passieren, ist meine Devise – zumindest theoretisch.
Aber die Veranstaltung hätte mich trotzdem interessiert. Vielleicht im nächsten Jahr.
Ich habe deine Geschichte mit Vergnügen gelesen.
Liebe Grüße aus Berlin, heute hat es zum ersten Mal geschneit.
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Das freut mich, liebe Roswitha. Stimmt, immer nur Leben nach Plan hat wenig Reiz. Und manchmal sorgt auch ein Missgeschick für nette Abwechslung. Auch schon Schnee in Berlin? Ich habe heute Fotos aus Dresden gesehen, meine Schwester hatte ganz zauberhafte Eisblumen am Fenster. Dann hab ein schönes Wochenende und mach es dir drinnen warm!
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Danke schön, bin schon dabei.
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Manchmal ist es gut, wenn man ungeplant etwas Neues entdeckt. Das sind oft die schönsten Erlebnisse. Jedenfalls hat es sich nach deinem interessanten und schönen Bericht gelohnt. LG Marie
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Danke, liebe Marie, für deinen netten Kommentar. Hab eine angenehme Woche! Vielleicht mit etwas außerplanmäßig Interessantem! 😀
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