Späte Tomate

Wir haben Mitte Oktober und teilen uns zu viert die letzte reife Tomate. Das kleine rote Prachtexemplar ist ein unerwarteter Nachzügler. Dabei hatten wir nie die Absicht gehegt, auf unserem Balkon Gemüse anzubauen. Aber manchmal wird man gar nicht gefragt. Es passiert einfach. Die Tomate kam zu uns. Lassen wir sie ihre Geschichte doch einfach selbst erzählen:

Ich habe mich hier eingeschlichen. Oder besser gesagt, eingesät. Zwischen Rosmarin und Salbei, im runden Kübel, wo letzten Sommer noch Ringelblumen um die Wette blühten, erblickte ich in diesem Frühjahr das Licht der Welt. Neben mir drängelten frech ein paar Nachfahren der Ringelblumenfamilie ans Licht. Es sah aus, als könnte es bald eng werden. Ob die Gärtnerin das auch bemerkte? Vielleicht war sie gar keine. Ich rede von der Frau, die einmal täglich gießen kam. Manchmal beugte sie sich zu uns runter und beäugte uns neugierig. Was wohl in ihrem Kopf vorging, fragte ich mich, während ich stolz meine zwei Keimblätter gen Himmel reckte. Hoffentlich erkannte sie mich und die Ringelblumenkinder. Aber ob uns das helfen würde? Sie hatte eine Rosmarin- und eine Salbeipflanze in die Erde gesetzt. Wir waren nicht vorgesehen. Sie würde uns hoffentlich nicht für Unkraut halten und … nein, an diesem Punkt wollte ich nicht weiterdenken. Vor Angst gerann mir der Saft im kleinen Stängelchen. Würde sie uns eines Tages kaltherzig ausreißen und in den Biomüll werfen? Schließlich waren wir weder gewollt noch gemeldet. Das Haus gehörte schon Salbei und Rosmarin. Wenn die so weiterwuchsen, würde für mich und die Ringelblumenkinder nicht nur der Platz fehlen, sondern auch die Sonne. Zumal das hier der Nordbalkon war. Nur frühmorgens und am späten Nachmittag konnte ich ein paar wärmende Strahlen Licht tanken. Das war mir zu wenig. Ich liebe die Sonne über alles. Ende Mai hatte die Frau, die immer mit der Gießkanne kam, obwohl sie nicht wie eine Gärtnerin aussah, die Faxen dicke. Ich zitterte am ganzen Stängelchen, als ich den großen Löffel sah, mit dem sie neben mir herumfuchtelte. Sie holte die Ringelblumenkinder aus der Erde. Die Armen! Aber: Würde sie so tief mit dem Löffel graben, wenn sie die Pflänzchen wegwerfen wollte? Ich schöpfte Hoffnung, dann schwanden mir die Sinne. Ich war dran. Als ich wieder zu mir kam, schaute ich mich vorsichtig um. Salbei und Rosmarin waren nicht mehr da. Ich sah ein paar Ringelblumenkinder neben mir, und über uns den Himmel. Und die Sonne. Wir hatten plötzlich viel Platz! Wir waren umgezogen. In ein neues Haus, das diesmal eckig war. Erleichtert, aber sehr, sehr müde von all der Aufregung, ruhte ich mich aus. Mir gefiel das neue Zuhause und vor allem der Platz auf dem Südbalkon. Endlich hatte ich vom späten Vormittag bis in den Nachmittag hinein Sonne. Und davon gab es genug im Juni. Ich wuchs zu einem stattlichen Pflänzchen heran. Die Frau mit der Gießkanne kam jetzt sogar zweimal am Tag, wenn es nicht regnete. Manchmal guckte sie immer noch kritisch. Besonders zu mir. Gefiel ich ihr nicht? Ich sah anders aus als meine Mitbewohner. Als die ersten Ringelblumen, dem Kindesalter entwachsen, schon eine gelbe Blüte ansetzten, war ich immer noch von oben bis unten grün. Da tauchte die Frau plötzlich nicht mit ihrer Gießkanne, sondern mit einem flachen schwarzen Ding in der Hand auf. Das hielt sie mir von drei Seiten aus vor die Nase. Dann schaute sie eine ganze Weile auf das Ding, wischte darauf herum und sah zufrieden aus. Kurze Zeit später kam sie zurück und fasste mich an. Sie tätschelte auf einem meiner Blätter herum, bevor sie an ihren Fingern roch. Ihre Züge wurden nachdenklich, als ob sie in sehr tief vergrabener Erinnerung buddelte, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte mich erkannt. Ich war eine Tomate. Das heißt, eine Tomatenpflanze. Sie konnte es vor Freude gar nicht glauben und hüpfte aufgeregt von dannen. Nur um kurz darauf wiederzukommen. Im Schlepptau andere Menschen. Alle wollten mich sehen. Natürlich bedeutet eine Tomatenpflanze noch lange keine Tomaten. Die Gieβkannenfrau beschloss, guter Hoffnung zu sein, und kümmerte sich regelmäßig um mich. Bis das Unwetter kam. Des Nachts zog es auf. Zum Glück hatte sie mich und andere Balkonbewohner vorsorglich vom Geländer weg und näher an die Hauswand geschoben. Aber der Wind, der dann anrückte, war so stark und kam immer von der gleichen Seite. Es war schrecklich! Mein Stängelchen, schon zu einem stattlichen Stängel herangewachsen, war doch kein Baumstamm! Warum hatte sie mir noch keinen Stab gesteckt? Einen Stab, an dem ich mich festhalten könnte. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass die Frau keine Gärtnerin sein konnte. Tapfer stemmte ich mich allein dem Wind entgegen. Am Morgen darauf hing ich erschöpft zu einer Seite. Erst am Nachmittag kam die Frau, die keine Gärtnerin war, zu mir gucken. Ganz langsam kam sie näher, mit traurigen Augen das Schlimmste befürchtend. Sie befühlte mich, richtete mich auf, und … begann, sich zu freuen. Ich war nicht gebrochen! Endlich hatte sie auch verstanden, was mir fehlte. Sie brachte mir einen schönen hohen Stab, an dem sie mich festband. Darauf hätte sie aber auch eher kommen können! Ich war nur knapp dem Sturmtod entkommen. Noch bevor ich die ersten Blüten hätte ansetzen können, wäre es aus und vorbei gewesen. Aber ich erholte mich schnell und wechselte in den folgenden Tagen und Wochen mehrmals meinen Platz. Bei gutem Wetter kam ich ans Geländer, wo viel Sonne schien, bei Gewitter vorübergehend auf den Nordbalkon, auf dem es eine geschützte Ecke gibt. Und gewittert hat es in diesem Sommer verdammt oft, hier, wo ich mich eingeschlichen habe. Heiliger Tomaten-Bimbam! Nach dem ersten Sturm, der mich beinah abgeknickt hätte, kümmerten sich Frau Gießkanne und sogar ihr Mann sehr fürsorglich um mich. Sie schüttelte an meinen Blüten, damit sie sich leichter befruchten konnten, und geizte ein paar überflüssige Triebe aus. Sie hatte sich offensichtlich informiert. Herr Gießkanne, von kräftiger Statur, schleppte meinen Wohnkübel von einem Balkon zum anderen. Ich ließ mich nicht lumpen und brachte Mitte August vier prachtvolle kleine Tomaten zur Reife. Die schmeckten hundertmal besser als die aus dem Supermarkt, hörte ich sie loben, obwohl meine Menschen dort auch nur italienisches Gemüse kaufen. Das ging mir runter wie Öl und ich beschloss, im Oktober noch eine Frucht auszutragen. Obwohl die tägliche Fürsorge stark nachgelassen hatte. Sie glaubten wohl nicht mehr an mich. Aber das spornte mich erst recht an: Wie ich sie im Frühjahr durch mein unangemeldetes Erscheinen überrascht habe, so verabschiede ich mich im Herbst gern mit einer späten Tomate. Wer weiß, vielleicht entschließen sich die beiden ja noch dazu, es im nächsten Jahr mal mit mehreren meiner Artgenossen zu versuchen. Sie diskutieren jedenfalls oft verräterisch und sehen dabei zu mir rüber. Ich jedenfalls habe mir alle Mühe gegeben, meine Gastgeber auf den Geschmack zu bringen.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

35 Kommentare zu „Späte Tomate

  1. Was für eine schöne Geschichte. Ich werde sie meinen Tomatenpflanzen vorlesen, die immer noch tapfer gegen den Herbst ankämpfen. Heute habe ich nochmal ganze fünf rote Tomaten geerntet und dabei festgestellt, dass meine Paprikapflanzen, die den ganzen Sommer im Schmollwinkel verbracht hatten, jeweils eine kleine Frucht gebildet hatten.
    Aber am Wochenende soll es einen Temperatursturz geben. Dann ist bei uns auch endgültig Ernteschluss.

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    1. Danke, liebe Annuschka. Die Pflanzen sind oft tapferer als wir Menschen, könnte man meinen. Jedenfalls überraschen sie uns oft mit ihrer Resilienz. Auch bei uns ist in den nächsten Tagen Schluss mit Sommer. Lasst euch die letzte Ernte schmecken!

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  2. Toll geschrieben! Ich zitterte mit, ob die Tomate nicht doch noch dem Kompost zum Opfer fiel, aber die Überschrift gab mir Hoffnung. Ob ihr nächstes Jahr das tomatige Hobby ausweitet? Vielleicht auch ganz bewusst? 😃

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    1. Danke, liebe Eva! Aber sicher doch. Vielleicht nicht gleich mit einer ganzen Plantage (angesichts der Arbeit, die dranhängt), aber mit drei, vier Pflanzen werden wir es versuchen. Hab ein relaxtes Wochenende!

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  3. Das ist ja zu nett geschrieben, liebe Anke! Ich ahne, dass unsere ungeplante Tomatenpflanze wohl Ähnliches gedacht haben wird. Sie befindet sich in der Gesellschaft von Petersilie und Schnittlauch mit ihren letzten beiden Früchtchen 😉
    Warme Oktobergrüße von der Oder 😊

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  4. Sehr, sehr herzig geschrieben, liebe Anke! Ich habe sofort eine große Sympathie für eure Tomatenpflanze entwickelt, bitte grüß‘ sie doch recht freundlich von mir.
    Und herzliche Grüße an die Frau, die zwar keine Gärtnerin ist, dafür aber wahnsinnig gut mit Worten umgehen kann. 😉

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  5. Liebe Anke, das mit dem Perspektivwechsel hast du dir offenbar auch in deinem privaten Umfeld zu Herzen genommen. Ich habe deinen Beitrag mit großem Vergnügen gelesen!

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  6. Die kleine Tomatenpflanze hat definitiv schriftstellerisches Talent! Hoffentlich säen sich ihre Nachfahren im nächsten Jahr wieder von selbst aus und wir können an dieser Stelle abermals spannende Abenteuer über klammheimliches Sich-Verstecken und Sommer-Gewitter lesen 😉

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    1. Mal sehen, vielleicht halten die Tomatenpflanzen auch offiziell Einzug hier. Leider verrät uns die Schriftsteller-Tomate nicht, zu welcher Sorte sie gehört, ihre Früchte waren köstlich.😉

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