Bahne frei, Kartoffelbrei!

Während ich aus Deutschland Lamenti über den Winter und seine naturgegebenen Begleiterscheinungen wie Schnee, Eis und Glätte höre, denke ich an Gleitschuhe und frage mich, was dieser Dauer-Katastrophenmodus eigentlich zu bedeuten hat.

Kennt ihr Gleitschuhe? Das waren so metallene Kufen mit Riemen, die wir Kinder uns unter die Winterstiefel schnallten, um über den verharschten Schnee zu rutschen. Keine Schlittschuhe fürs Eis und keine Schneeschuhe. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob ich selbst welche besaß oder sie mir nur von Freundinnen borgte. Ich weiß jedoch, und das hat sich mir eiskalt eingebrannt: Gleitschuhe waren cool! Ein Must-Have, aber diesen Begriff kannte man damals noch nicht. Was jede Familie hatte, war ein Schlitten im Keller. Und der kam regelmäßig raus und zum Einsatz: um die Spielkameraden den Gehweg entlangzuziehen oder gemeinsam hinten auf dem Hof den Abhang hinunterzurodeln. Ich bin im brandenburgischen Flachland aufgewachsen.

Nun lebe ich schon länger als damals in Brandenburg in Norditalien. Als unsere Kinder klein waren, hofften sie in den kalten Monaten immer sehnsüchtig auf einen Morgen, an dem sie aus dem Fenster schauen würden und alles weiß wäre. „Quando nevica?“, wann schneit es, fragten sie mich hoffnungsvoll. „Wird es schon noch“, antwortete ich und dachte dabei: Aber bitte nicht unter der Woche. „Aber wann, morgen?“, ließen sie nicht locker. Dann verwies ich auf das Wochenende. „Vielleicht am Sonnabend oder Sonntag, wenn wir nicht raus müssen.“ „Aber natürlich wollen wir raus, wenn es schneit“, protestierten sie dann. Ich meinte den Straßenverkehr, den ich gern vermeiden würde. Sie meinten das Spielen im Schnee vorm Haus. Bei uns schneite es in den vergangenen zehn Jahren ein- oder zweimal pro Winter, und selten blieb die schüchterne weiße Pracht länger als ein paar Stunden liegen. War die Landschaft am Morgen verheißungsvoll mit weißen Flocken überzogen, lag am Mittag, als die Kinder aus der Schule kamen und darauf hofften, endlich Schneebälle zu werfen oder gar einen Schneemann zu bauen, nur noch brauner Matsch am Straßenrand.    

Als ich Kind war, gehörte Schnee zum Winter wie die Zeugnisse zum Schuljahresabschluss. Wir bauten Iglus und ganze Schneemannfamilien. Die überlebten Tage oder, leicht ramponiert, sogar ein paar Wochen. Neben Schnee gab es auch Eis. Oder es war einfach so, dass man Schnee, der lange liegen blieb, durch kontinuierliches Schlittern zu Eis verwandeln konnte. So entstanden gefährlich schnelle Schlitterbahnen. Bahne frei, Kartoffelbrei! Auf dem Hof vor unserer Schule gab es jeden Winter mehrere Schlitterbahnen nebeneinander, einen kleinen Abhang hinunter. In jeder Hofpause begann das Gerangel ums Rutschvergnügen. (Oder stellten wir uns brav an, wie wir es vom „Obst, Gemüse, Südfrüchte“-Laden gewohnt waren?) Es gab die leichten, kurzen Bahnen für die Kleinen der ersten und zweiten Klasse und in der Ecke, zwischen Hort und Hauptgebäude, die gefährliche, breite Buckelpiste. Die war reserviert für die Großen aus der dritten und vierten Klasse. Ob die Jungs die Mädchen auch rutschen ließen? Als ich vor fünf Jahren anlässlich eines Klassentreffens meine alte Schule besuchte, war von dem Hang nichts mehr zu sehen. Oder er war schon damals so flach gewesen. In meiner Erinnerung sehe ich eine olympische Bobbahn, welche wir uns stehend (die Obercoolen) oder hockend (ich) hinuntertrauten.

Die Winter meiner Kindheit waren eine Jahreszeit wie die anderen auch und allgemein akzeptiert. Und das, obwohl sie für regelmäßige Arbeitseinsätze sorgten. Zwischen November und März machte bei uns im Haus ein graues Pappkärtchen die Runde. Es baumelte an einem Bindfaden und wanderte von Türknauf zu Türknauf: „Schneefegen“ stand darauf in dicken, schwarzen Lettern und eine Schneeschippe und ein Sandsack waren dazu gemalt, damit auch jeder die Aufgabe verstand und es hinterher keine Ausreden gab. Wer den Gehweg geräumt und Sand gestreut hatte, reichte das Schild an den Nachbarn weiter. Alte Leute wohnten nicht in unserem Haus, jeder kam dran. Mehrmals. Die Winter waren lang und es schneite oft. Ich half meinem Vater gern beim Räumen, auch wenn ich heute ahne, dass es mehr zu meinem Spaß als eine große Hilfe für ihn war, wenn ich mit meiner kleinen Schippe mitschaufelte. Links und rechts des Gehwegs lag der Schnee manchmal so hoch, dass ich Dreikäsehoch vermutlich Schwierigkeiten hatte, die Ladung meiner Schippe oben auf dem Berg abzuladen.

Kein Schnee, kein Weh? So könnte ich heute in Italien denken. Ein paar Mal war ich es in den letzten Jahren, die am Tag, nachdem es geschneit hatte, den Fußweg bis zum Gartentor vorsorglich freischippte. Ein Nachbar guckte manchmal interessiert vom Balkon und fragte süffisant, was mein Mann denn derweil täte. Und ob er mir helfen solle. Von allein wäre er nicht darauf gekommen. Italiener.

PS: An dieser Stelle möchte ich unseren Lehrern und Erziehern von damals danken, dass sie uns so gefährliche Pausenaktivitäten wie das Schlitterbahnbauen nicht verboten. Ich erinnere mich an keine ernsthaftere Verletzung als Banalitäten, die es nicht auch beim normalen Toben und Spielen gegeben hätte.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

33 Kommentare zu „Bahne frei, Kartoffelbrei!

  1. Ein bisschen ist es schon die (neue) Mentalität. Alles wird immer im Katastrophenmodus gesehen und teilweise auch von den Medien entsprechend angeheizt. Mein Schwiegervater war neulich ganz aufgeregt, dass es nachts ca. -10 Grad haben soll. Das ist doch im Januar eine völlig normale Temperatur und weit entfernt von einem Extrem. Ebenso verhält es sich im Sommer – Temperaturen über 30 Grad werden so lange panikartig verbreitet, dass es mir schon Tage vorher davor graut.
    Und genauso betrifft es auch z. B. die politische, gesellschaftliche etc. Lage. Alles wird möglichst schwarz gemalt, jedes Endzeitszenario wird denkbar. Hauptsache niemand denkt mal was positives.

    Das mit eurer Schlitterbahn ist aber auch ein Phänomen der „alten“ Zeit. Heute könntest du das gar nicht mehr erlauben, da ist man ja als Betreuer gleich dran wenn was passiert.

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    1. Ich hatte in der letzten Zeit oft das Gefühl, dass auf die Unwetterwarnungen der Apps gar nichts so Dramatisches folgte. Wenn es wirklich mal Schäden gab, war es nicht vorausgesagt worden. Was die Medien betrifft, meinen sie wohl, nur bedrohliche News sind klickgenerierende, also gewinnbringende News. Das Dilemma an allem ist immer das Geschäft dahinter. Ich selbst habe zwei „Good News“-Newsletter abonniert, muss aber selbst sagen, dass ich sie selten lese. Irgendwas stimmt nicht mit uns Menschen. 😕

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  2. Danke für diese Zeilen, die auch bei mir Kindheitserinnerungen an die langen und frostigen Winter hervorrufen. Wie ich so lange draußen im hohen Schnee spiele, bis meine Winterstiefel völlig durchnässt sind und meine Zehen in den nassen Socken vor Kälte brennen… ich fürchte, solche Winter werden immer rarer…

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    1. Gern! Es gibt sie nicht mehr, diese Winter. Zum Wintervergnügen müssen wir die Kinder während der Ferien chauffieren, aber das ist nicht dasselbe. Gar nicht. Und ich fürchte, auch die Natur fehlen Schnee und langer Frost.

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  3. Das hört sich nach einem Riesenspaß an, liebe Anke, und nach dem Wunsch, dass die große Pause am besten doppelt so lang dauern hätte sollen. 😉
    In der Grundschule gingen wir damals ganz offiziell im Sportunterricht Schlitten fahren. Da der Großteil der Grundschüler über die Dörfer verteilt waren und wir unsere Schlitten mitbringen musste, war unser grimmiger Busfahrer oft noch ein bisschen grimmiger, denn er musste unzählige Schlitten in den Laderaum räumen, was ein ordentlicher Zeitfresser war. 😄
    Hab’s fein (egal ob mit oder ohne Schnee), liebe Anke und liebe Grüße, Eva

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    1. Wow! Schlittenfahren als Sportunterricht, wie toll war das denn. Davon hatte ich nie gehört, das gab es vermutlich nur im Westen! 😉 Aber das Mitnehmen der Schlitten ist schon eine Herausforderung … vor allem für den Schulbusfahrer.😂
      Na, wenigstens konnte Signorino diesen Winter schon ein paar Mal per Schneeroller in die Kita geschoben werden. Und du hast dir an jenen Tagen das Fitnesstraining gespart.
      Danke dir, liebe Eva, für deinen informativen Beitrag zum Thema. Und: Nein, bei uns waren gestern in der Sonne bis zu 20 Grad. Ob das in diesem Jahr noch was wird mit dem Schnee?
      Komm gut in die neue Woche!

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      1. Bis zu 20 Grad? Das ist ja der Wahnsinn. 😃 Ich drücke euch dennoch die Daumen, dass der Schnee doch nochmal kurz vorbeischaut. Danke dir! Das wünsche ich dir auch. 😃

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  4. Hallo Anke. Ja, die Winter früher waren anders und schöner. Ich mag Schnee und wenn dann noch die Sonne drüber scheint, das finde ich herrlich. Letztes Wochenende wars hier so. Schon wieder vorbei die Pracht. Schön, dass du wenigstens für ein paar Stunden oder gar Tage Schnee genießen kannst.

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  5. Anke, am allerallerallerlustigsten finde ich, dass wir in Görlitz in mindestens einer Generation über dir auch aus vollem Hals gebrüllt haben: „Bahne frei Kartoffelbrei“ – viel idiotischer ging ja der Spruch kaum noch, aber wie man sieht, war er verbreitet und vielleicht sogar erfolgreich!

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  6. In Berlin freue ich mich auch über jede noch so kleine Schneeflocke, die vom Himmel herabrieselt. Dieses Jahr gab es schon Schnee und sogar den einen oder anderen zugefrorenen See. Dann muss man ganz schnell hinrennen und winterliche Fotos machen, bevor alles im Handumdrehen wieder vorbei ist. 😉

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    1. Genau. Da sprichst du die Kehrseite der Medaille an, die ich im Text gar nicht behandelt habe. Danke dir! Was bei mir hier von den Schneefällen in Deutschland ankam, waren Katastrophenmeldungen in den Medien einerseits und Instagram-reife Fotos mit Schneeflocken- und Herzchen-Emojis in den „Statussen“ andererseits. (Dativ Plural von „der Status“ ist gemäß Duden „den Status“, hättest du es gewusst? Das „u“ wird lang ausgesprochen, im Gegenteil zum Singular „Status“. Irre. Kann ich nicht so schreiben, sieht falsch aus. 😅)
      Sonnige Grüße aus dem Süden, ganz ohne Schnee!

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  7. Schlittenfahren war schön, aber, du hast recht, Gleitschuhfahren war am schönsten! Hin und wieder rissen die Riemen, dann musste der Schuster ran. Entweder zur Reparatur oder er konnte aus mitgelieferten Lederriemen Ersatz schaffen. Die Größe der Gleitschuhe war verstellbar, so wie die der Rollschuhe im Sommer. Wir hatten immer eine große Pfütze auf dem Schulhof auf der geschlittert wurde, wenn kein Schnee lag. Du hast recht, Anke, heute unvorstellbar! Liebe Grüße!

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    1. Liebe Bettina, so genau im Detail erinnere ich mich gar nicht mehr. Dass sie größenverstellbar waren, leuchtet aber ein! Warum gibt es keine Gleitschuhe mehr? Sind sie mit der DDR untergegangen? Vielleicht, weil sie fürs Flachland funktionierten, wo es jetzt nur noch so selten scheint und der Schnee noch seltener liegen bleibt. Liebe Grüße an dich!

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  8. Oh ja Schlitterbahnen habe ich auch genossen, selbst wenn sie etwas verschneit waren, haben wir die mit Handschuhen und Schuhsohlen wieder freigerubbelt … und dann gings ab!

    Bahne frei, Kartoffelbrei … irgendwas mit Osterei. Toll.

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  9. Meine Kinder hatten auch Gleitschuhe und die habe ich tatsächlich aufgehoben. Ich glaube, das liegt daran, dass ich auch Gleitschuhe hatte und die schönsten Erinnerungen damit verbinde. Vielleicht erleben sie demnächst ein Revival. Verdient hätten sie es. Ich war in diesem Winter übrigens schon zweimal Rodeln. Es gibt wunderbare Hänge in Berlin – für Vorsichtige, Pragmatische und Tollkühne. Schlittenfahren sorgt einfach für gute Laune.

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    1. Oh, na da drücke ich die Daumen! Wir brauchen uns keinen Schlitten in den Keller stellen, das wäre vergebliche Vorfreude. Wir müssen schon in die Berge, und da scheut der Gatte immer die Autofahrt, nachdem wir auf der Rückfahrt aus der Schweiz mal ganz schön zu kämpfen hatten. Liebe Grüße nach Berlin!

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  10. Oh ja, ich kenne Gleitschuhe. Es muss Weihnachten 1971 gewesen sein, as ich welche bekam und die damalige Freundin meines großen Bruders mit mir Sechsjährigem durch die Schneelandschaft hinter dem Haus in Strausberg Vorstadt stiefelte, um mir das Gleiten beizubringen.
    Das Schönste daran, war vielleicht die Tatsache, dass mein großer Bruder ein paar Stunden abgemeldet war 🙂 und zwar meinetwegen.
    So richtig zu Einsatz kamen sie aber dann erst in den folgenden Wintern, wenn es mal Schnee und Kälte gab.

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    1. Was für eine schöne Erinnerung. Danke fürs Erzählen! Du hast also auch viel ältere Geschwister. Ich kann mich ebenfalls daran erinnern, meinen Schwestern die Freunde für meine Spiele „ausgespannt“ zu haben. Ein Schwager erzählt mit heute noch von der Tortur, dass er immer bei mir im Kaufmannsladen einkaufen musste, statt mit meiner Schwester auf der Couch zu lümmeln. 😉

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      1. Ja, die Christine. Ich weiß nicht mehr wie sie aussah, aber sie war dem kleinen Bruder ihres Freundes so zugewandt. Aber das mit den beiden ist halt nichts geworden. Sonst hätte ich jetzt ne Schwägerin, die sicher wie ne große Schwester wäre … Es war einer unserer letzten Winter in Strausberg.
        Im Frühjahr 74 sind wir dann nach Potsdam gezogen. Dort gab es im Wald zwischen Potdam West und Werder (Havel) auch einen richtigen Berg (im Gegensatz zu Strausberg-Vorstadt), wo im Winter, als es noch Schnee und Eis gab, die Post abging auf den Gleitschuhen … was waren wir cool damals!

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  11. Ach ja, Schlitterbahnen… Wenn es mal schneite, war das so ziemlich das erste, was wir draußen anlegten. Da kamen alle Kinder aus dem Haus zusammen, auch welche, die sonst nie miteinander spielten. Heute macht das irgendwie kein Kind mehr. Vielleicht haben die Eltern das nicht weitergegeben? Überhaupt schlittert auch niemand mehr so als Fortbewegungsart, wenn die Straße oder der Weg glatt sind. Eine verlorene „Kunst“…
    Und ja, ich hatte auch Gleitschuhe und habe sie so oft benutzt, wie es ging.

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    1. Wenn es ohnehin glatt ist, ist Schlittern die beste Fortbewegungsart. Das hast du schön gesagt. Ob Schlitterbahnen jetzt verboten sind? Auf den Spielplätzen haben sie doch ihre Berechtigung, meine ich. Haben die Kinder das wirklich verlernt? Das wäre schade.

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