Theaterluft

Im Herbst beginnt die neue Theatersaison, wie ausgehungert stürze ich mich auf den neuen Spielplan. Leider werden in Varese fast nur noch Musicals (die ich mag, aber oft schon kenne), Konzerte (wenn es doch mehr von meiner Musik wäre) und Comedy (kann ich im Fernsehen schauen) gespielt. Erstmal habe ich nur Karten für einen Sänger geholt, den mein Mann und ich mögen. Musica Italiana aus den Achtziger/Neunziger Jahren, mit der wir beide Erinnerungen an verflossene Lieben verbinden. So what? Das ist das Leben. Wogegen ich mich verzweifelt wehre, ist, dass meine Liebe zum Theater verfließt. Das wird sie auch nicht, ich kann sie derzeit nur nicht liebevoll pflegen, mit neuen Anregungen bei Laune halten. Beinahe ein Argument, nach Deutschland zurückzukehren, wäre da nicht all das andere, das Italiengefühl, von dem ich im letzten Beitrag schrieb. Als ich neulich das Foyer unseres Vareser Theaters in der Hoffnung betrat, doch noch ein Schauspiel-Event zu finden, per Aushang womöglich und online nicht verfügbar, blieb ich einen Moment länger dort. Es roch so gut. Ein Duft, der mich in die intensivste Zeit meiner Liebe zum Theater zurückversetzte. In Leipzig war es, im Herbst 1998, da stand ich selbst auf der Bühne, als Autorin und Vortragende. Wenn ich möchte, war es gestern. Die Erinnerung ist irritierend präsent. Insbesondere der allabendliche Moment vor dem Auftritt hat sich über diesen besonderen Duft in mein Gedächtnis gebrannt.

Theater! Ich kann nicht genug davon kriegen, und jetzt bin ich Teil davon. An sechzehn Abenden, nach Monaten des Schreibens, Diskutierens und Probens. Die kleine Bühne des großen Schauspielhauses ‒ für mich in diesen Tagen die Welt. Da ist dieser Geruch, ich vermag kaum zu sagen, was ihn ausmacht. Er ist noch stärker, wenn ich ihn als Vortragende (Schauspielerin wage ich nicht einmal zu denken) einatme. Ich schließe die Augen und weiß, dass genau dieser Geruch von pudriger Theaterschminke, vielgetragenen Kostümen, Holzbrettern und Bühnenbildfarbe, vermischt mit abgestandenem Parfüm der Besucher ‒ vielleicht sind das die Ingredienzen ‒ das höchste Glück auf Erden ist. Den Moment vor meinem Auftritt genieße ich in aller Stille, ich habe ihn sicher. Er kann nicht misslingen wie mein Vortrag, von dem ich mir wünsche, dass er die Menschen im Saal erreicht. Die letzten Minuten verbringe ich mit dem Platzanweiser, ein hagerer Mann mit graumeliertem Haar, hinter der geschlossenen Tür zum Zuschauersaal. Er wird es sein, der sie mir im richtigen Moment öffnet. Alles ist einstudiert, auch der Platzanweiser spielt seine Rolle. Für den Abschlussbeitrag des Abends komme ich nicht wie die anderen von hinten auf die Bühne, ich betrete den Saal durch den Publikumseingang. Jetzt! Die schwere Tür fällt hinter meinem Rücken fast geräuschlos ins Schloss. In der Dunkelheit arbeite ich mich mit leisen Schritten an den Sitzreihen vorbei nach vorne. Dort warte ich, bis der Applaus für das letzte Stück verebbt. Während die Blicke aus dem Saal denen folgen, die die Bühne verlassen, steige ich die drei Stufen zu ihr hoch und schleiche mich unbemerkt auf meinen Platz. Noch wenige Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen, dann holt mich der Scheinwerfer aus dem Verborgenen. Mitten im Lichtkegel stehe ich, die Zuschauer bemerken mich erst jetzt. Der Saal ist gut besetzt, das spüre ich, während ich ins schwarze Nichts starre und nur hier und da ein Hüsteln oder Räuspern höre. Ich schlucke, öffne die Lippen, atme noch einmal die pudrig-schwere Theaterluft ein, die sich hier oben mit dem Schweiß der vorher Aufgetretenen mischt und hoffe, dass meine Stimme gleich weniger beben wird als mein Herz.

Zum Weiterlesen: Ein früherer Blogbeitrag zum Leipziger Theaterprojekt trägt dessen Titel: „In Fahrt“.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

17 Kommentare zu „Theaterluft

  1. Theaterluft – ich weiß sehr gut, wovon du sprichst. Meine Mutter hat viele Jahre in der Produktionsleitung des Kleisttheaters in Frankfurt gearbeitet. Meine Schwester und ich gingen dort praktisch ein und aus. Eine ganz eigene Welt. Die Erinnerungen sind geblieben an die Werkstätten, die Schneiderei, die Maske, die für Haare/Perücken und Schminke verantwortlich war und natürlich an die Requisite und Fundus, die für mich den intensivsten Geruch hatten. Hier wurde gelagert, was in gelaufenen Stücken zum Einsatz kam und vielleicht umgearbeitet wieder eingesetzt werden würde. Heute hat Frankfurt das Kleistforum und das hat durchaus einen guten Ruf.

    Liebe Grüße

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  2. Die letzte Theaterluft, an die ich mich erinnere, war bei einem Abonnement meiner verstorbenen Schwiegermutter im Saarland, die ich begleiten durfte. Lang, lange her. Heute kann ich nur noch eine Dreiviertelstunde mit angewinkelten Beinen sitzen, was einen Besuch unmöglich macht. Leider!!!

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  3. Sehr schön geschrieben, liebe Anke – ich fühle mich, als hätte ich dich begleitet, so nah kommt mir deine Beschreibung der Situation, als du dich auf den Weg zur Bühne machst. Ich wünsche dir, dass du bald mal wieder Theaterluft „schnuppern“ kannst. Mit den Gerüchen ist es so eine Sache. Es ist schon verrückt, wie ein Geruch in der Lage ist, Situationen von früher ins Hier und Jetzt zu holen. Herzliche Grüße aus dem spätsommerlichen Herbst in Berlin.

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    1. Danke dir, liebe Roswitha. Ich bin auf der Suche und klappere jetzt auch kleinere Theater in der Umgebung ab. Mailand wäre ja eine Schatzkammer, aber leider beginnen alle Veranstaltungen erst um 21 Uhr, nachts nach Mitternacht zu uns rauszufahren ist eine Zumutung, da macht auch keiner mit. Das war damals in Berlin besser. Auch wenn ich in Strausberg wohnte, mit der S-Bahn war es kein Problem, zumal die Veranstaltungen früher begannen. Später in Leipzig war es am allerbesten. Da gab es die Straßenbahn, um alle Theater zu erreichen.
      Liebe Sonntagsgrüβe aus der verregneten lombardischen Provinz!

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  4. So schön reportagig geschrieben. Hach ja, Theater… ich war ewig nicht mehr. Während Studentenzeiten war ich regelmäßig, manchmal jede Woche hier irgendwo im Umfeld. Der Vorteil bespielter Bühnenhäuser ohne eigenes Ensemble. Und irgendwann, während des Jobs, waren diese Besuche nicht mehr so leicht planbar.
    Aber die Analogie zur Theaterluft ist die in den Katakomben von Sporthallen. Diese Mischung aus muffigen Klamotten, Schweiß und Duschgels aller Duftnoten. 🙂

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    1. Wo ein Wille ist, ist auch ein Theater. 😉
      Ohje, Turnhalle. Umkleide. Na eben. Aber wenn man den Sport mag, dann gehört der Geruch eben dazu, und dann weckt der auch gute Erinnerungen.😄

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      1. Ach, in die Umkleide brauchst Du nicht mal rein zu gehen. Und um es lediglich Erinnerungen sein zu lassen, ist es noch zu früh. 🙂 Ist halt Mixedzone abseits des großen Fußballs.

        Wille und Theater sollten da mal wieder zusammengeführt werden, in der Tat. 🙂

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  5. Theaterluft – den Geruch habe ich noch heute im Gedächtnis, denn meine Mutter ging mit uns Kinder kurz vor der Währungsreform immer in Theater und Kinos. Das Geld wäre sonst verfallen. LG Marie

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