In allen Farben

In Ratgebern heißt es neuerdings immer wieder, man solle häufiger aus seiner Komfortzone ausbrechen. Etwas tun, das man noch nie getan hat, weil man es sich nicht zutraut, weil man sich geniert, oder weil man einfach Angst vor Ungewohntem hat. Alles schön und gut, aber zwingen lasse ich mich nicht, nur weil etwas gerade Mode ist. Dabei wohnen zwei Seelen in meiner Brust: Die eine hat es sich gut eingerichtet, ist überzeugt von ihren Überzeugungen und redet mir ein, dass ich mit Anfang 50 nicht mehr alles mitmachen muss. Die andere Seele ist die, die mich anschubst und fragt: Warum eigentlich nicht? Was hast du zu verlieren? Mach mal, und schau, was es bringt. Oder, wie der Italiener sagt: Non si sa mai. (Man kann nie wissen.) So war ich skeptisch und hatte geglaubt, dass ein „Workout on the road“ unbequem und womöglich peinlich ist, ehe ich erlebte, dass gemeinsames Fitnesstraining unter freiem Himmel nicht nur dem Körper, sondern vor allem der Seele guttut. Unsere Große zeigte mir, dass es sich lohnen kann, einmal aufs Ausschlafen am Sonntagmorgen zu verzichten und spontan die Gipfel über dem Lago Maggiore zu erklimmen.

Neuerdings halte ich es einfach so: Schlägt mir jemand eine Unternehmung vor, die mich aus meiner Komfortzone herauskatapultiert, lasse ich mir die Entscheidung offen, wenn es zu einem spontanen „Ja!“ nicht reicht. Vielleicht, warum nicht? Eine Ausrede, um später abzusagen, fällt einem schließlich immer noch ein. (Das habe ich von den Italienern gelernt.)

Als vergangenen Samstag die Idee aufkam, bei „Varese Pride“ mitzulaufen, sagte ich zu und staunte anschließend selbst über meine Entscheidungsfreude. Da waren auch Zweifel und die Frage: Mache ich, cis-hetero, mich etwa kultureller Aneignung schuldig? Oder hatte meine Freundin recht, wenn sie erklärte, dass es richtig und wichtig sei, auch als Unterstützer*in mitzulaufen, Präsenz zu zeigen für Vielfalt und gegen jede Art von Diskriminierung? Denn es stimmt doch: Was manche Leute als Zirkuszelt verunglimpfen, ist in Wahrheit ein lebensfrohes Statement für Offenheit, Toleranz und Demokratie.

Der Vorschlag, in Varese dabei zu sein, kam übrigens von unseren Töchtern. Teenager begeistert die bunte Welt der Regenbogenfarben, schließlich sind sie selbst noch auf der Suche nach sich und ihren (Vor-)Lieben. Und wie auf Konzerte geht man auch zu Manifestationen als Mutter lieber mit, solange die Kinder noch nicht erwachsen sind. Vielleicht, weil ich am Tag zuvor im Internet nach Informationen zu der Pride-Demo in Varese gesucht hatte, spielte mir mein Nachrichten-Feed einen Artikel der TAZ aus. Die Redakteurin bereute es, in einer Brandenburger Kleinstadt mit ihrer Tochter zum CSD gegangen zu sein. Es gab eine Gegendemo, die Neonazis waren da, um Angst zu machen. Sie fragt in ihrem Text, wie es so weit kommen konnte. Ein weiteres Argument für mich, in Varese dabei zu sein und Farbe zu bekennen. Gerade deshalb, weil es Leute gibt, für die die Welt schwarz-weiß ist und die am liebsten braun sehen. Auch wenn die in Varese diesmal nicht wie jene im Land Brandenburg sichtbar und mit Drohgebärden auftraten.

Wie es sich anfühlte, in dem bunten Zug mitzulaufen? Anfangs ein wenig befremdlich, trug ich doch nur eine Blumengirlande über meinen Stino-Kleidern und kam mir ein bisschen langweilig vor. Auch roch es leicht nach Schweiß in der Nähe von denen, die ihre Spruchbänder hochhielten, sowie hier und da nach Gras. Aber die Gerüche verflogen schnell und bald auch meine Unsicherheit. Was blieb, waren positive Vibes. Ich genoss es, Varese und bekannte Gebäude aus einer ganz neuen Perspektive zu sehen: Fröhliche, friedlich demonstrierende Menschen füllten die Straßen der Innenstadt wie ein Fluss, und wir schwammen mittendrin. Zu Beginn Musik der 80er-Jahre, Titel, zu denen ich einst in der Diskothek tanzte. Immer noch gehen die „Sweet Dreams“ von den Eurythmics in die Beine und dann nicht mehr aus dem Kopf. Everybody is looking for something. Das war zu unseren Zeiten so und ist heute nicht anders. Wie schön wäre es, wenn man nicht mehr fordern und protestieren müsste, sondern einfach Feste feiern könnte. Feste auf das Leben und die Freiheit, zu suchen und zu finden, was einen glücklich macht.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

17 Kommentare zu „In allen Farben

    1. Liebe Elke, ja, an den CSD in Berlin habe ich gedacht, als ich mich entschied, meinen Beitrag zu Varese gestern zu veröffentlichen. Ich fühle mich schon noch sehr verbunden mit meiner alten Heimat. Danke dir fürs Lesen und herzliche Grüße an dich!

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  1. Mit meiner Entschlussfreudigkeit, was Unternehmungen außerhalb meiner Komfortzone betrifft, tue ich mich mit zunehmendem Alter ebenso schwer. Man kann sich fast gar nicht mehr vorstellen, dass das vor etwa 35 Jahren anders gewesen ist.Wie du dich entschieden hast zur Pride-Parade zu gehen, so habe ich an verschiedensten Friedenkundgebungen teilgenommen. Als sonst doch eher  zurückhaltender Mensch, habe ich es sogar mit einem eigenen Plakat mit einer Zeile aus Psalm 34 darauf „gewagt“. Wird man als Vertreter für Frieden heutzutage in eine bestimmte Ecke gestellt, kommt bei einem christlichen Spruch noch hinzu, dass man vollends als unzurechnungsfähig belächelt wird.Aber Befürworter und Gegner gibt es ja bei allen Arten von Demos.Eingängige Musik und ausgelassene Freude fehlen natürlich auch. Vielleicht ein Fehler. So ist die Zahl der Teilnehmer erheblich kleiner.Grüße von Nord nach Süd 😉

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    1. Liebe Bettina, was du schreibst, ist ja Ausdruck dieser inneren Zerrissenheit, sich nicht zu trauen aber dann eben doch zu fühlen, dass man etwas tun muss, für das, was einem wichtig ist. Ich weiß von deinem Blog, dass du zu entsprechenden Anlässen auch mit deinem Mann auf der Straße stehst und das Gespräch mit anderen suchst, denn ohne einen offenen vertrauensvollen Austausch geht es nicht. Zu schnell wird vorverurteilt und „in die Ecke gestellt“. Für den Frieden zu demonstrieren, das darf nicht falsch sein, aber der Frieden muss sich auch verteidigen können gegen seine Feinde, die Krieg als Mittel ihrer Politik nicht nur in Betracht ziehen, sondern bereits anwenden. Ich weiß, das ist ein heikles Feld und da kommen die Gemüter schnell in Rage. Deshalb weiter Flagge zeigen und miteinander reden. Liebe Grüße in den Norden, meine alte Heimat!

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      1. Du hast vollkommen recht, liebe Anke, der Frieden muss sich auch verteidigen können. Und weiterhin – wenn man auf der Straße steht mit seiner Auffassung und mit anderen spricht, von ihren vielfältigen Sorgen und Problemen erfährt, merkt man, wie gut man sich in den meisten Fällen verständigen kann. Ja, man bewegt sich manchmal auf dünnem Eis. Wichtig ist, dass man sich dessen bewusst ist und entsprechend sorgfältig agiert. Dann ist viel gewonnen.
        Danke für deinen angenehmen Kommentar. Einen schönen Sonntag mit lieben Grüßen aus deiner alten Heimat!

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  2. ups… so wenig Kommentare. Liegt vielleicht an der Komfortzone. Liebe Anke, ich kenne das Gefühl, das du beschreibst, wenn man sich seltsam vorkommt und nicht zugehörig fühlt, aber das geht vielen Leuten ständig so. Das selbst zu erleben, macht mich nachdenklicher, als wenn ich mich nur theoretisch mit dem Thema Diskriminierung auseinandersetze oder einfach mal meinen Horizont ganz lebensnah erweitere. Viele Grüße aus Berlin

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    1. Liebe Roswitha, nun sind es doch schon ein paar mehr. Den deiner Mitbloggerin musste ich aus dem Spam fischen, der war zunächst nicht sichtbar gewesen.
      Stimmt, Empathie muss man lernen. Es fällt leichter, sich solidarisch zu zeigen, wenn man ähnliche Probleme ‒ sei es Diskriminierung, Anfeindung, oder einfach nur sich ausgeschlossen fühlen ‒persönlich erlebt hat, vielleicht in einem anderen Zusammenhang.
      Liebe Grüße nach Berlin!

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  3. Liebe Anke, alles richtig gemacht! Ich bin letztes Jahr in Minden beim CSD mitgelaufen und hatte auch als cis-hetero-Frau viel Spaß mit lauter gut gelaunten bunten Leuten.
    Ja, es gab auch ein paar befremdliche Momente, denn die Typen mit den Hundemasken und Stachelhalsbändern fand ich schon etwas schräg, meiner Meinung nach haben sexuelle Praktiken auch nicht unbedingt etwas mit der Identität zu tun. Aber was weiß ich schon und jeder, wie er oder sie mag. Ich muss es ja nicht mitmachen.
    Der unangenehmste Augenblick hatte außerdem nichts mit Lack, Leder und Fetischen zu tun, sondern mit einem stadtbekannten A*D-Mann, der am Rande der Demo gefühlt jede einzelne Person filmte, die mitlief. Unangenehm, weil wir uns unwillkürlich fragen, ob eine bestimmte Partei Daten über „unwerte“ Mitbürger sammeln will, da macht man sich als Mutter einer queeren Person so seine Gedanken.
    Ich mag die Atmosphäre der Lebensfreude sehr gern, gerade im Angesicht der vielen Rückschritte, die zurzeit in Sachen gesellschaftlicher Toleranz gemacht werden.
    Liebe Grüße
    Anja

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    1. Liebe Anja, danke für das Teilen deiner persönlichen Gedanken und Erlebnisse, die sich ja voll mit meinen decken. Zum Glück gab es in Varese nicht diese dunklen Randfiguren. „Nie wieder still“ war ein starkes Motto gestern beim CSD in Berlin, jetzt, wo für bereits Erreichtes offenbar wieder gekämpft werden muss. Liebe Grüße an dich!

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  4. Hallo Anke, danke für beides. Fürs Mitlaufen und fürs Schreiben. Es ist mir auch wichtig, das Bunte zu verteidigen.
    Die Komfortzone zu verlassen. Ja, immer wieder. Sie wird mit dem Alter eh immer enger. Konnte ich mir als junge Frau nicht vorstellen.
    Deswegen erfülle dir deine Wünsche jetzt.
    Schön dass es dich gibt

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    1. Hallo Grretl, sehr gern. Dazu ist so ein Blog ja auch da, Gedanken und Erlebnisse zu teilen, die einem wichtig sind. Ich lese auch sehr gerne deine Tipps und Tricks, wie man im Alltag und ohne großes Brimborium nachhaltiger leben und wirtschaften kann. Und zwar mit Freude, ohne Verzicht. Dafür danke ich dir.😊
      Liebe Grüße!

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