Jetzt muss ich mal ein großes Lob aussprechen: Mein News-Feed füttert mich sehr fürsorglich mit redaktionellen Beiträgen, die meinen Geschmack treffen. Danke an die Datenkrake, die da am Schaffen ist. Sie kredenzt mir thematisch immer besser werdende Menüs aus italienischen und deutschsprachigen Quellen. Und greift dabei nicht nur auf deutsche Medien, sondern auch österreichische und schweizerische zurück. Das finde ich nett, würde ich doch treu und brav Spiegeleier essen, ähem, Spiegel online lesen, und basta. So tauchen immer wieder neue journalistische Anbieter auf, die ich nie gesucht, geschweige denn gefunden hätte. Neulich traf die Berner Tageszeitung „Der Bund“ mit einer Kolumne „Umsteigen in Milano Centrale: In diesem Kopfbahnhof schaltet das Hirn in den Überlebensmodus“ bei mir direkt ins Schwarze. Sofort fühlte ich mich an eigene Erlebnisse erinnert. Als ich Anfang der Nullerjahre regelmäßig über Mailand nach Bologna fuhr, war das Umsteigen Routine und nicht chaotischer als an deutschen Verkehrsknotenpunkten. Anders in jüngster Zeit. In diesem Jahr hatte ich mehrmals das Vergnügen, in Mailand umsteigen zu wollen. Das Verb „wollen“ soll bereits andeuten, dass es in einem Fall bei der Absicht blieb. Bei der italienischen Bahn streikt man traditionell gern und wenn es keinen Streik gibt, dann sind es technische Probleme, die für Ausfälle oder Verspätungen sorgen. Auch mit meinem Kopf macht der Mailänder Kopfbahnhof etwas. Ich würde aber anders formulieren, als es die Schweizer Journalistin tat. Mein Kopf schaltet nicht in den Überlebensmodus, sondern in einen meditativen Ausnahmezustand, der nur ein Ziel hat: Ruhe bewahren. Tutto andrà bene, alles wird gut. Ich gehe in den „Om-Modus“. Ich lasse mir weder von drängelnden Menschenmassen noch von unverständlichen Durchsagen, schon gar nicht vom Fehlen meines Anschlusszuges an der Übersichtstafel, die Freude an meiner Reise verderben. Vielleicht kam mir dabei zuletzt zugute, dass ich keine knappen Anschlüsse, sondern immer genügend Zeit zum Umsteigen hatte. Zeit, draußen vor der Bahnhofshalle nach einem Schienenersatzverkehr zu suchen, der dann aber für andere Züge bereitstand. Zeit, beim Auskunftsschalter eine Nummer zu ziehen und mich geduldig in die wartende Menschentraube zu mischen. Zeit, noch einmal auf Toilette zu gehen.
Das Suchen und Finden der Toilette am Mailänder Hauptbahnhof ist allerdings ein Abenteuer für sich. Hoch die Treppen und wieder runter, nach rechts und wieder nach links. Irgendwann verliert man sich, obwohl man der Ausschilderung folgt, immer im Nichts. Nur der gute Glaube und die Erinnerung, das stille Örtchen jedes Mal gefunden zu haben, bewahrt vor Verzweiflung. Ständig wird gebaut und es scheint, dass die Toiletten dabei jedes Mal umziehen müssen. Als ich neulich endlich mein Ziel gefunden hatte, stand ich vor einer Art Durchgangssperre wie bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Nein, man musste nicht sein Bahnticket präsentieren, um die Notdurft verrichten zu dürfen. Es geht dabei um Geld. 1,20 Euro und dazu die klare Ansage, dass es kein Wechselgeld gibt. Frohgemut öffnete ich mein Portemonnaie und zählte das Kleingeld passend ab. Ich schaute, welche Schranke bei anderen Toilettenbesuchern funktionierte und warf dort meine Münzen ein. Es tat sich: nichts. Die Schranke blieb unten. Gleichzeitig lief eine Zeitanzeige zum Countdown. Da half kein Om mehr, ich versuchte es mit Winken und Fuchteln, um den vermeintlichen Bewegungsmelder zu aktivieren. Nichts. Time out. Kein Geld zurück. Ich fluchte in mehreren Sprachen, schaute, ob irgendwo doch ein Toilettenverantwortlicher zugegen war und den Vorgang beobachtet hatte. Natürlich nicht. Automaten erfüllen genau den Zweck, Personal zu sparen. Kurz überlegte ich, auf meine geplante Erledigung zu verzichten. Aber man weiß ja nie, wann der Zug geht und wie lang die Fahrt dauern wird. Oder ob die Zugtoilette nicht ebenfalls streikt, wie wir es bei Stromausfall in der 1. Klasse einmal erlebt haben. Ich kam zu dem Schluss, dass mein Trolley schuld war, den ich vor mir, also zwischen Geldeinwurf und Schranke, abgestellt hatte und der irgendwie mit dem Bewegungssensor interferiert haben musste. Beim zweiten Anlauf, zu dem ich mich wohl oder übel aufraffte, nahm ich die EC-Karte, blieb mit allem Gepäck in weitem Abstand vor dem Durchgang stehen und siehe da, es funktionierte.
2,40 Euro nur für die Toilette! Ich tröstete mich damit, dass ich für so wenig Geld am Bahnhof der italienischen Modemetropole sowieso kein Getränk, geschweige ein belegtes Brötchen bekommen hätte. Zum Überleben und für lange Wartezeiten empfiehlt es sich, eigenen Proviant dabeizuhaben. Mit dem stellt man sich in eine Ecke, fern vom Gedränge aber nah genug zu einer Anzeigetafel. Irgendwann wird das Gleis zum Zug bekanntgegeben. Im Artikel heißt es, das geschehe 20 Sekunden vor Abfahrt. Ich kann euch beruhigen: Es sind mindestens zwei Minuten. Wenn man sich in der Mitte des Bahnhofs aufhält, schafft man es bis zur Abfahrt in beide Richtungen, auch wenn das Gleis ganz weit draußen liegt.
Reisen ist Kopfsache. Ihr dürft einfach nie vergessen: Tutto andrà bene. Sogar am Mailänder Hauptbahnhof.
Oh, und ich dachte, das Kunstprojekt Stuttgart 21 wäre schon ziemlich schlimm.
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Genau das fiel,mir beim Lesen auch ein 😂
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Da kann ich nicht mitreden und Vergleiche anstellen, hatte noch nicht das Vergnügen.
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Ich bin da heute wieder. Immerhin den Ausgang gefunden (war nicht allein).
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🙈😂
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Liebe Anke, witzig beschrieben, und ich gratuliere dir zu deiner Gelassenheit. Aber wirklich nichts für uns ungeduldigen Schweizer! 😁😏 Liebe Grüsse, Elisa PS. Ich habe besagten Artikel ebenfalls gelesen.
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Ich schätze, ich habe mich schon angepasst. Als geborene Preußin war ich auch anders eingestellt.😉
Liebe Grüße an dich!
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Balsam auf die Seelen gequälter „Deutsche Bahn“-Reisender😅
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Eben. Die Welt ist ein Dorf. Und überall ist Baustelle.😂
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Kommt oder kommt nicht, fällt aus, der Ersatzverkehr wartet nicht auf den Zug… inzwischen alles normal hier. Meine Frau und ich spielen Bahnhofslotto. 🙂
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Bahnhofslotto, klasse. Ich hoffe, es gibt auch was zu gewinnen hin und wieder. 😉
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Da ist leider kein Personal mehr da, um die Gewinne auszuschütten. 🙂 Sind alle weggespart.
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Hallo Anke, ich habe eine schöne Erfahrung gemacht mit der Bahn in Italien: wir waren in Cremona. 2 Leute wollten nach München. Und ihre beiden Fahrräder mitnehmen. Möglichst wenig umsteigen. Können kein Italienisch. Die Dame in der Auskunft hat sich viel Zeit für uns genommen um den richtigen Zug zu ermitteln. Sie ist dann sogar mit uns zum Schalter gegangen und hat dafür gesorgt, dass wir die richtigen Fahrkarten bekommen. Hat alles wunderbar geklappt.
Ich glaube nicht, dass das hier in D so abgelaufen wäre.
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Liebe Gretl, sehr schön, habt ihr in Englisch kommuniziert? Ja, die Angestellten sind meist sehr nett, es ist das System, das fehlt.
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Yes dear
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Liebe Gretl, sehr schön, habt ihr in Englisch kommuniziert? Ja, die Angestellten sind meist sehr nett, es ist das System, das fehlt.
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… ich hätte den Beitrag besser erst Montag lesen sollen, denn ich fahren morgen von Nord nach Süd mit vielen Baustellen unterwegs. Wobei- die Chance ist groß, etwas zu erleben und mit Fremden ins Gespräch zu kommen!
LG, Jutta
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Liebe Jutta, ich wünsche dir eine gute Reise ohne Zwischenfälle oder nur mit solchen, aus denen sich nette Gespräche ergeben.
Herzliche Grüße, Anke
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