Luino, Lago Maggiore

„Der Frühling kam vorzeitig an den See. Die Tage wurden zusehends länger und die von heftigen Märzstürmen gereinigte Luft wirkte gegen Ende des Monats glasklar. Das Wasser des Sees änderte allmählich seine Farbe: vom winterlichen Stahlgrau hin zu einem hellen Himmelblau.“

„La primavera arrivò in anticipo sul lago. Si allungavano visibilmente le giornate e l’aria, ripulita dalle burrasche di marzo, divenne verso la fine di quel mese un lucido vetro. L’acqua del lago cambiava lentamente colore e passava dal grigio ferro dell’inverno a un celeste leggero.“

Piero Chiara

Eigene Übersetzung des italienischen Originalzitats aus: „La spartizione“*, Oscar Mondadori, 1. Auflage Oscar classici moderni April 2007. Seite 86.

Schöne Verhältnisse

Wer nach dem Eingangszitat glaubt, Chiaras Roman „La spartizione“ (deutsch: „Die Teilung“) sei eine endlose Huldigung des Lago Maggiore und seiner Naturschönheiten, dem kann ich Entwarnung geben. Es geht im Kern sogar um das Gegenteil von Schönheit oder vielmehr um die, die in den Augen des Betrachters liegt. In seinem 1964 publizierten Roman, der in den dreißiger Jahren in Luino am Lago Maggiore spielt, beschreibt und analysiert Chiara auf amüsante Weise das Seelenleben der drei Schwestern Fortunata, Tarsilla und Camilla Tettamanzi. Sie gehen auf die Vierzig zu, ohne ihre Leidenschaft ausgelebt zu haben, und sind ‒ das ist in ihren Augen und denen ihrer Mitbürger das eigentliche Problem ‒ noch unverheiratet. Bei einer Erbschaftsangelegenheit lernen die Schwestern den attraktiven Emerenziano Paronzini kennen, Kriegsinvalide und Erster Archivar des Amtes für Steuern und Staatsvermögen, seinerseits auf Brautschau und eine „Gute Partie“ anstrebend. Fortunata, Tarsilla und Camilla sind auf den ersten Blick unscheinbar, gar hässlich, aber jede von ihnen ist auch mit einer individuellen körperlichen Anziehungskraft gesegnet (Fortunata hat üppiges Haar, Tarsilla endlos lange Beine, Camilla feine Hände). Bald konkurrieren sie mehr oder weniger offenherzig um den zunächst zögernden Freier. Der erkennt die Gunst der Stunde und erläutert seine Erkenntnis beim sonntäglichen Mittagessen im Hause der Schwestern am Beispiel dreier Äpfel. Jeder einzelne hat einen Makel oder gar faulige Stellen. Säuberlich schneidet er von jedem Apfel das unversehrte Stück heraus und setzt damit aus drei Teilen eine perfekte Frucht zusammen.   

Der Titel des Romans steht für die Lösung, auf welche sich die drei nicht mehr taufrischen Jungfern mit dem an ihrem Haus, ihrem Vermögen und ihren verborgenen weiblichen Vorzügen interessierten Junggesellen nach ersten Verwicklungen und Verstrickungen einigen: Sie teilen sich den Mann. Die Gerüchteküche der Stadt brodelt. Die drei Schwestern sind gottesfürchtig und engagieren sich in katholischen Einrichtungen der Stadt. Sie sind hin- und hergerissen zwischen dem öffentlichen Anschein, den sie aufrechterhalten müssen, und privaten Wünschen, die sie befriedigen möchten und die Emerenziano offensichtlich befriedigen kann. Sollen die Leute reden! Es ist ein perfektes Arrangement für die Beteiligten. Und alle dürfen sehen, wie der Gentleman seine offizielle Angetraute genau wie seine Schwägerinnen abwechselnd an der Seepromenade spazieren führt. Nachdem ein unbequemer Nebenbuhler ausgeschaltet und die von ihm umworbene Tarsilla wieder mit Geist und Körper ins traute Heim zurückgekehrt ist, könnte für die Vier fortan alles nach der Formel „Und sie lebten glücklich und zufrieden …“ laufen. Doch leider hat Signor Paronzini die Rechnung ohne sein schwaches Herz gemacht. Drei Frauen, die ihre besten Jahre verpasst und einiges nachzuholen haben, mit bürokratischer Akribie und kalendermäßig organisierten nächtlichen Besuchen glücklich zu machen, übersteigt seine Manneskräfte.

Auch wenn die Geschichte im Luino vor fast einhundert Jahren angesiedelt ist, kann der Einheimische in Chiaras Beschreibungen noch heute viele Orte wiedererkennen: die Seepromenade, das Caffè Clerici, die Kirche San Pietro, die Via Dei Mercanti (heute Via Cavallotti), das Restaurant Elvezia. Selbst ich als Deutsche, mit rein touristischer und ein wenig kulinarischer Ortskenntnis, aber nach immerhin zwanzig Jahren, in denen ich hier in der Nähe der norditalienischen Seen lebe, konnte mir die beschriebenen Szenen und die gesellschaftlichen Verhältnisse sehr gut vorstellen. Auch ich habe die Lektüre dieses modernen Klassikers genossen. Ein amüsanter, nur einen Hauch frivoler Roman, der ein detailreiches Bild der italienischen Provinz in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zeichnet und in gewissen Punkten ‒ wage ich zu behaupten ‒ keineswegs veraltet ist, was Klatsch und Tratsch und Sein und Schein betrifft.

Piero Chiaras Roman wurde 1970 mit Ugo Tognazzi in der Hauptrolle verfilmt: „Venga a prendere il caffè da noi“, deutscher Titel: „Schwestern teilen alles“. Der Stoff wurde hierzu in die sechziger Jahre transferiert und das Ende abgewandelt. Leider geht, wie oft bei Literaturverfilmungen, viel vom Anspruch des Originals und speziell von Chiaras feinsinniger Ironie verloren. Sehenswert ist der Film allemal, allein schon wegen der großartigen Schauspielkunst von Ugo Tognazzi und Milena Vukotic. Fun-Fact am Rande: Der Schriftsteller Piero Chiara hat selbst eine kleine Nebenrolle übernommen.

Szenen der genannten und zwei weiterer Romanverfilmungen Piero Chiaras, gedreht vor dem Caffè Clerici in Luino.

*Werbung, wie immer unbezahlt.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

11 Kommentare zu „Luino, Lago Maggiore

    1. Liebe Elisa, sehr gern. Liest du auch in Italienisch? Leider finde ich das Buch in deutscher Fassung nur im Antiquariat, womöglich hatten es sogar meine Eltern mal. Aber damals ahnte ich nicht, wo es mich mal hin verschlägt, sonst hätte ich es mir gesichert.
      Einen schönen Abend dir!

      Gefällt 1 Person

      1. Schade. Aber vielleicht hat es jemand, oder du stößt mal im Antiquariat drauf. Oder es wird nochmal neu verlegt, wer weiß. Ich würde es unterstützen! 😊

        Gefällt 1 Person

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