Geschichten auf dem Balkon

Es ist einer dieser milden Tage, an denen es mich am Nachmittag raus auf den Balkon zieht. Ich habe nichts zu tun (oder vielmehr, keine Lust), auch keine Inspiration zum Schreiben. Also greife ich mir das Strickzeug, setze mich auf einen Stuhl und lege die Füße auf einen zweiten, atme den Frühling ein und schaue abwechselnd auf meine Handarbeit und in die Natur. Diesmal überrede ich meine Kleine dazu, mir Gesellschaft zu leisten. Ich erkläre ihr, dass sich Hausaufgaben an der frischen Luft viel leichter erledigen lassen. Ich würde ihr helfen oder einfach nur zuhören, wenn sie etwas liest oder auswendig lernen muss. Da kommt es mir nicht ungelegen, dass sie Hausaufgaben in Antologia (bei uns hieß das früher Literatur) aufhat. Mir etwas vorlesen zu lassen und dann darüber zu sprechen, das traue ich mir zu. Auch in Italienisch. (Bei Naturwissenschaften mit vielen Fachbegriffen sieht das schon anders aus.) Ich schaue versonnen zwischen dem Geländer unseres Balkons hinaus ins Grüne, das vor meinem geistigen Auge zum himmelblauen See verschwimmt. „Mama“, unterbricht meine Tochter ihre Lektüre, „hörst du mir eigentlich zu?“ Ich nicke eifrig. „Ja doch, Mäuschen, schön ist das. Man kann es sich richtig gut vorstellen, hm?“ „Was, sich vorstellen?“, nörgelt die Tochter gelangweilt. „Na, den See und das alles. Weißt du, wer das geschrieben hat?“, frage ich sie. „Nö.“ „Das steht doch bestimmt unten drunter, schau doch mal!“ Doch bevor sie meiner Bitte nachkommen kann, halte ich sie auf: „Nein, warte mal. Den Schriftsteller kennen wir.“ Sie rollt mit den Augen. „Wieso? Ach, du meinst den aus Ligurien?“ (Wir hatten uns mal mit Lorenzo Licalzi getroffen.) Ich muss schmunzeln. Das ist nun schon sieben Jahre her. Ich staune, dass ihr diese Begegnung im Gedächtnis geblieben ist, sie war damals erst fünf Jahre alt. „Nein, nein, ich meine nicht, dass wir ihn persönlich kennen, er lebt ja gar nicht mehr. Aber wir sind schon oft dort gewesen, in diesem Ort, von dem er schreibt. Und das Haus, in dem er als Kind wohnte, haben wir auch gesehen.“ „Ach ja? Wo denn?“ Ich lege noch eine Kunstpause ein, bevor ich siegessicher herausposaune: „In Luino! Der Text ist von Piero Chiara, oder nicht?“ Die Spannung steigt wie beim Bingo Spielen, aber ich bin mir meiner Sache so gut wie sicher. Ihr Blick sucht die Buchseite ab. „Hier steht: Peh Punkt Chiara.“ „Siehst du!“, rufe ich triumphierend. Die Tochter scheint meine Begeisterung nur bedingt zu teilen, aber ich bin stolz, dass ich richtig gelegen habe. Welche ausländische Mama kann schon von sich behaupten, einen im Schulbuch zitierten italienischen Schriftsteller zu erraten, wenn es nicht gerade um eine berühmte Szene aus Manzonis I Promessi Sposi oder einen Vers aus Dantes Divina Commedia geht.

Geburtshaus von Piero Chiara in Luino

In der Erzählung „Il balcone barocco“ (Der barocke Balkon) beobachtet der kleine „Pierino“ Piero Chiara die Ankunft des Frühlings in seinem Heimatort Luino am Lago Maggiore. Auf dem Balkon, der zur Piazza hin liegt und durch die Häuser hindurch auch ein Stück des Sees erblicken lässt, wird er vom morgendlichen Spiel mit Karten und Zinnsoldaten durch diese spannende Aussicht abgelenkt. Der kleine Junge ist fasziniert vom Farbenschauspiel der Natur, die zu neuem Leben erwacht:

„Il lago è chiuso fra due case e tagliato dalla muraglia grigia del molo, aperta in mezzo verso una distesa d’acqua celeste che sale lentamente fin sotto i monti dell’altra sponda. Nello specchio del porto l’acqua è più scura; è del colore delle pietre fra le quali si allungano le barche, bianche gialle e rosse.“

„Der See liegt zwischen zwei Häusern und wird von der grauen Mauer der Seebrücke geteilt, bevor er sich zu einer himmelblauen Wasserfläche öffnet, die bis zu den Füβen der Berge am anderen Ufer reicht. Wo sich der Hafen spiegelt, ist das Wasser dunkler; es hat die Farbe der Steine, zwischen denen die Boote liegen, weiße, gelbe und rote.“

Piero Chiara

Eigene Übersetzung, italienisches Originalzitat aus: „Il balcone barocco“ in „Dolore del tempo”, Racconti, Mondadori

Titelbild: Illustration zu Chiaras Text aus dem Schulbuch der Tochter: Nuovi compagni di viaggio, Loescher Editore, Torino 2020.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

14 Kommentare zu „Geschichten auf dem Balkon

    1. Das glaube ich dir gern, liebe Bea. Hier in Italien ist er schon bekannt, das geht in der Schule los, wie man sieht bzw. liest. 😀 Ich selbst bin auf Chiara durch eine Lesung gestoßen, bei der ein Schauspieler einige amüsante Episoden sehr eindrucksvoll vortrug. Der Aspekt, dass dieser Schriftsteller hier um die Ecke gelebt und geschrieben hat und seine Texte das Milieu am Lago Maggiore beschreiben, reizte mich, so dass ich mich mit ihm befasst habe. Danke und liebe Grüße an dich!

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      1. Sehr interessant und ja, Künstler die gleich ums Eck wohn(t)en, geben nochmal einen weiteren Reiz, sie näher zu beleuchten. 🙂
        Viele Grüße zurück und hab einen schönen Abend. 💫

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  1. Liebe Anke, schöner Text. Mir hat gefallen, wie deine Freude am Frühling sich trifft mit der Lektüre deiner Tochter. Ich frage mich, ob der Text in der Schule bewusst für diese Jahreszeit ausgewählt wurde. Das wäre besonders. Der kleine P. scheint die Schönheit der Natur wahrgenommen zu haben. Besonders kleine Kinder haben diesen Blick, das berührt mich immer wieder – aber wir Erwachsenen schaffen es oft nicht, uns dem Tempo der Kinder anzupassen und so den kindlichen Blick für die kleinen Dinge zu bewahren und ihn zu teilen. Aber das ist ja kein Wunder bei all dem, was man zu bewältigen hat als Eltern. Danke für diesen Text, diesen Reminder. Liebe Grüße aus dem kühlen und gleichzeitig frühlingshaften Berlin. Roswitha

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    1. Es war das perfekte Match, noch dazu auf dem Balkon. Gern habe ich das Erlebnis mit euch geteilt. Ob es von der Schule beabsichtigt war, dass dieser Text zum Frühling passte? Ich glaube nicht, denn sie hatte auch eine Geschichte zu lesen, in dem das Haus eines Mannes und seiner Söhne im Ural unter einer Schneelawine verschüttet wurde. (Sie lebten aber glücklich und zufrieden weiter.) Es ging allgemein um das Thema genaues Beschreiben von Wahrnehmungen. Sonnige Grüße nach Berlin!

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  2. Ein berühmter Sohn unserer kleinen Stadt Lebus ist Günther Eich. Eine Straße ist nach ihm benannt, obwohl er rechts der Oder, also in Polen geboren wurde. Erwähnt wurde er zu Schulzeiten unserer Kinder jedoch nie. Ich habe jedenfalls nichts davon mitbekommen.

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