Ende September, irgendwo, irgendwann

„Kennst du diese Momente im Herbst, in denen man plötzlich meint, es sei Frühling?, fragte ich, als wir wieder aus dem Wald traten. Ich weiß nicht, woran es liegt, an einem Geruch, dem Zwitschern der Vögel, dem tiefen Stand der Sonne. Es ist ein Gefühl des Übergangs, das ganz plötzlich auftaucht und gleich wieder verschwindet.“

Peter Stamm

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt*, Roman, S. Fischer, 5. Auflage Dezember 2018. Seite 117.

Es war im September 2020. In jenem Jahr, in dem gar nichts mehr war. In einem lichten Moment jedoch, nicht mehr Sommer und noch nicht Herbst, fand in Bellinzona im schweizerischen Tessin das Babel „Festival di letteratura e traduzione“ (Festival für Literatur und Übersetzung), statt. Bellinzona liegt mit ein wenig Gutem Willen praktisch vor unserer Haustür, und so buchte ich kurzentschlossen eine Eintrittskarte für die Veranstaltung mit Peter Stamm. Von dem hatte ich schon viel gehört aber bis dahin nichts gelesen. Sein Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ war gerade von Gabriella de’Grandi für den Tessiner Verlag Edizioni Casagrande ins Italienische übersetzt worden (Titel: „La dolce indifferenza del mondo“). Mit ihr plauderte der Schriftsteller auf der Bühne aus dem Leben, von der literarischen Arbeit und über die gemeinsame Erfahrung mit der Übersetzung. Für Stamm, deren Werke in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden sind, fast schon Routine, aber doch jedes Mal spannend. Das Thema Literaturübersetzung fasziniert mich, nachdem ich einmal selbst die Übertragung eines Romans aus dem Italienischen ins Deutsche gewagt hatte und meine Version anschließend mit der veröffentlichten vergleichen konnte. Es ist ein weites Feld! Es braucht Technik und sprachliche Kreativität, und es braucht den Mut zu Kompromissen. Jede Version soll für sich brillant sein und funktionieren, ohne sich von den Intentionen des Ursprungstextes zu weit zu entfernen. Dabei gibt es einfach Dinge, die man in einer Sprache auf eine andere Art versteht und interpretiert als in der anderen, in der man nur annähernd auf denselben Punkt kommt. Hut ab vor all denen, die sich der unsagbar schwierigen Kunst der Literaturübersetzung widmen.

Auf der Bühne v.l.n.r.: Moderatorin und Übersetzerin Marina Astrologo, Autor Peter Stamm und Literaturübersetzerin Gabriella de’Grandi. Foto: eigene Aufnahme.

Wir wenigen Gäste der Veranstaltung am 19. September 2020 saßen mit Mund-/Nasenschutz und in großen Sicherheitsabständen voneinander in den Reihen des Teatro Sociale von Bellinzona. Das gab dem Ganzen etwas Exklusives und ich war dabei. Welch ein Glück, denke ich im Nachhinein, wo ich weiß, dass im Herbst und Winter 2020 wieder absolut nichts ging in Sachen Kultur.

Nach dem Bühnengespräch signierte der Schriftsteller neben dem Theater seine Bücher. Zu meiner Freude gab es den besprochenen Roman auch im deutschen Original. Stolz trug ich ihn heim und stürzte mich sofort in die Lektüre, die anregend und verwirrend zugleich war. In Erinnerung ist mir vor allem das oben genannte Zitat geblieben. Weil ich schon beim Lesen wusste, dass ich diese Momente kannte. Und weil mir flugs in jenen Tagen genau solch ein Moment wieder passierte, ein paar Schritte vor der eigenen Haustür. Das konnte geschehen, weil die Szene Ende September spielt, genau zu der Jahreszeit, in der ich den Roman las.

Wie der Ich-Erzähler im Roman rätsele auch ich jedes Mal, wie es möglich ist, dass für einen Augenblick dieser Hauch von Frühling da ist, obwohl der Herbst doch eigentlich so ganz anders, kaminverraucht und nebelig, daherkommt. Und ich gebe zu, dass sich die Empfindung Frühling für mich sehr konkret anfühlt. Ich rieche, sehe, fühle in diesem magischen Augenblick Ende September wie in jenen entfernten Tagen Ende März, als ich das erste Mal verliebt war. Vor mehr als dreißig Jahren, tausend Kilometer nördlich von hier. Es liegt ein Zauber in der Luft, ein Vorgeschmack auf etwas, das beginnt. Wo doch im Herbst der Sommer endet, die Natur ihren Rückzug in den Winterschlaf einleitet. Es bleibt ein unerklärliches Phänomen. Aber es widerfährt mir. In jedem verdammten September.

Zum Weiterlesen:

Eine Buchvorstellung zu „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ gab es unter anderem beim Deutschlandfunk Kultur.

Mehr über den Schweizer Schriftsteller Peter Stamm erfahrt ihr auf seiner Website.

*Werbung, wie immer unverlangt und unbezahlt.

Titelbild: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

10 Kommentare zu „Ende September, irgendwo, irgendwann

  1. Ein wunderbarer Moment im Herbst, den ich auch schon erlebt habe, liebe Anke. Bei dir ist er natürlich besonders verbunden, mit dem schönsten Gefühl, das ein Mensch wohl haben kann.
    Liebe Grüße aus dem sonnigen, aber doch schon ziemlich herbstlichen Osten Deutschlands, Bettina

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    1. Danke, liebe Bettina. Da habt ihr es gut. Bei uns zeigt sich der Herbst gerade von der ungemütlichsten Seite. Es regnet und ist gefühlt hundekalt. Aber was den Regen betrifft, wollten wir ja nicht meckern. Gut so. Hab ein schönes Wochenende, womöglich mit dem ein oder anderen Frühlingsgefühl! 😉

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  2. Danke für den kurzen Ausflug in die Literaturübersetzung und in den Herbst 2020. Die Erinnerungen an diesen Herbst mit dem vielen Alleinsein lösen bei mir ein seltsam ungutes Gefühl aus. Es war die Zeit, in der sich eine ungekannte Schwere über das gesamte Leben legte und ich merke, dass ich diese Erinnerungen weit weg schieben möchte. Neulich war ich im Popsalon im Deutschen Theater. Eric Pfeil war eingeladen, Thema war die Musica leggera. An diesem Abend war ich so beglückt, inmitten von Menschen zu sitzen. großartige Musik zu hören und mich inspirieren zu lassen.
    Dem Frühlingsgefühl im Herbst bin ich noch nicht begegnet, würde ich aber gern.
    Hab Dank für deinen wunderbaren Text.

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    1. Danke dir, liebe Roswitha. Du machst mich aber auch neidisch, wie gerne würde ich mal wieder ins Deutsche Theater! Als ich noch in Strausberg wohnte, als Jugendliche bis Anfang zwanzig, war ich dort hin und wieder zu Gast. Natürlich gab es keinen Popsalon, die Zeiten ändern sich. Mir fehlt das deutschsprachige Theater sehr. Schön, dass du den Abend zu dem Buch über italienische Popmusik, von dem du bereits schriebst, erleben und genießen konntest. Saluti da Italia! Anke

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  3. Das ist bestimmt eine tolle und spannende Erfahrung, wenn man ein Buch aus einer anderen Sprache übersetzt. Diesen Herbstfrühling spüre ich auch manchmal. Schade, dass der Sommer schon wieder fort ist. Wo ich mich jedes Jahr so auf ihn freue!

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    1. Herzlich willkommen zurück, liebe Marina! Es schien, dass er dieses Jahr ewig dauern würde, also bei uns war seit Mai durchgängig Hochsommer. Die Umstellung ist immer hart, aber sie gelingt auch durch diese zauberhaften Momente im Herbst. Das Buch, das ich übersetzt habe, hieß übrigens wörtlich „Die letzte Woche im September“ im Original, passt! 😉

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