Leider aktuell

Rock- und Popmusik offenbart oft erst Jahre nach der Veröffentlichung ihre wahre Genialität. Gute Melodien sind zeitlos, starke Texte von unvergänglicher Poesie. Unterhaltungsmusik wird dann zu Kunst, wenn sie damals wie heute berührt, inspiriert, motiviert.

Als mir meine Schwester im Herbst in Dresden den Besuch eines Theaterabends vorschlug, bei dem „die größten AMIGA-Hits“ Revue passieren sollten, war ich skeptisch. Klar gab es gute Musik, damals in der DDR, ich besitze selbst einige CDs mit besonders schönen Songs. Aber mussten sie nun auf einer Theaterbühne nachgesungen werden? Auch der Titel der Aufführung, „Die Legende vom heißen Sommer“*, hat in diesem Jahr 2022 plötzlich einen bitteren Beigeschmack. Aber das Stück wurde bereits zum 30. Jahrestag des Mauerfalls inszeniert, kam im Herbst 2019 auf die Bühne. Wie anders war da noch unser Leben, unsere Welt. Vor gerade mal drei Jahren. Den zeitlichen Aufhänger nicht mehr vor dem geistigen Auge, irritierte mich das Entree mit „Looking for Freedom“. Ich mochte ihn nicht, den Amerikaner, der Silvester 89/90 mal kurz vom Strand aus nach Berlin geflogen war, um sich mit seiner Freiheits-Schnulze an der Mauer feiern zu lassen. Zum Glück wurde die Inszenierung schnell besser und dann sogar so gut, dass ich euch das Stück unbedingt empfehlen möchte. Gegen Ende standen die Zuschauer reihenweise auf, als einfaches Mitklatschen der Euphorie nicht mehr gerecht wurde. Die Interpreten spielten und sangen sich die Seele aus dem Leib, ganz besonders begeisterte Julia Henke als Helga. Gar nichts war peinlich, es gab viele großartige Interpretationen und rührende Momente. Und der Titel hat natürlich auch seinen Hintergrund. Das Wortspiel erinnert an zwei große Filmhits der DDR: „Die Legende von Paul und Paula“ (die Puhdys lieferten den Soundtrack) und „Heißer Sommer“, mit dem damaligen Traumpaar der ostdeutschen Schlagerszene Frank Schöbel und Chris Doerk.

Alles andere als leicht fiel die Auswahl der Stücke, an die auf der Bühne erinnert wird. Das berichtet der letzte AMIGA-Chef Jörg Stempel im Programmheft. Man musste sich auf 50 Titel beschränken. „Popularität, musikalische Vielfalt und dramaturgische Gesichtspunkte“ spielten eine Rolle, schließlich sollte mit Unterstützung der Musikauswahl auch eine Geschichte erzählt werden. Nicht fehlen durften die „Sieben Brücken“ und der klassische Streit, ob es nun ursprünglich Peter Maffays Titel war (falsch!) oder ein Song der DDR-Rockband Karat (richtig!). Von denen gab es auch den „König der Welt“ auf der Bühne des Boulevardtheaters, weil es in der Geschichte ‒ wie könnte es anders sein ‒ um Liebe geht. Karat, eine der erfolgreichsten Rockbands der DDR, hätte noch so viele Stücke beisteuern können. Mir kam beim anschließenden Stöbern in der DDR-Musikgeschichte ganz besonders ein Werk aus dem Jahr 1982 wieder in den Sinn. „Der blaue Planet“ schaffte es 2019 nicht in die enge Auswahl fürs Bühnenstück. Wäre die Wahl 2022 anders ausgefallen? Ich meine ja. „Der blaue Planet“ gehört unbedingt dazu, wenn es um Gänsehaut provozierende Aktualität der Musik aus einem Land geht, das es nicht mehr gibt. Auch wenn man sich wünschte, dass genau dieser Titel gar nicht mehr aktuell sein würde.

„Uns hilft kein Gott, unsere Welt zu erhalten.“

Mehr erfahren: Alles zum Theaterstück am Dresdner Boulevardtheater lest ihr hier. Interessante Hintergründe zum Erfolg des Titels „Der blaue Planet“ von Karat erfahrt ihr in diesem FAZ-Artikel.

*Werbung unbeauftragt und unbezahlt. Titelbild: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

15 Kommentare zu „Leider aktuell

    1. Oh ja, Udo Lindenberg hat auch viele zeitlose, geniale Titel. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber sein „Wozu sind Kriege da“ wurde auch in der DDR gespielt, ich weiß jetzt aber gerad nicht, ob auch offiziell im Radio. Wir sangen und interpretierten es als Kinder im Ferienlager, daran kann ich mich gut erinnern.
      Danke für den Link, das Video hatte ich natürlich nie gesehen.

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      1. Ja, und dieses Lied ist heute aktueller denn je. Und WIEDER geht es um einen Präsidenten….
        Ich finde, dass man das nicht oft genug hören, sehen, lesen,…. sollte. :-/
        Gerne & ganz liebe Grüße Bea ☮

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      2. Gerade Udos Titel eignet sich doch hervorragend, um ihn auch in der Schule mit den Kindern zu singen und zu besprechen. Erzählen, was damals war, und diskutieren, warum heute wieder die gleichen Ängste an der Tagesordnung sind. Dir auch liebe Grüße und einen schönen Abend! Anke

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    1. Du würdest sicher auch die meisten Titel kennen, die über die Bühne gingen. Selbst ich, aus der Generation, die Mitte/Ende der 80er lieber West-Mucke hörte, erinnerte mich mit Freude an Musik, die wir damals altersbedingt kaum wertschätzten. Danke und liebe Grüße nach Berlin!

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  1. In der DDR Musikszene habe ich mich nie ausgekannt und hatte auch damals wenig Interesse. Zu Unrecht! Das habe ich aber erst nach der Wende festgestellt, als ich zum Beispiel über die Entstehung des Liedes „Als ich fortging“ von Karussell hörte. Gisela Steineckert schrieb den Text. Einige Lieder höre ich wirklich gerne, auch die von dir genannten, liebe Anke. Natürlich kannte ich die Namen bekannter DDR Gruppen. Viel mehr aber nicht. Nachdenkenswerte Erinnerungen!
    Liebe Grüße Bettina

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    1. Da geht es uns ähnlich, liebe Bettina. Wir waren wohl zu jung und hatten musikalisch unsere Antennen eher gen Westen gerichtet.😉
      „Als ich fortging“, wunderbar. Es sind grad die Texte, die bei einigen Interpreten so reich und poetisch und voller Bedeutung waren, wie es bei Pop- bzw. Unterhaltungsmusik ja nicht unbedingt erwartet wird. Erinnerst du dich an Jürgen Walter? „Clown sein“, oder „Vorbei“ … auch unbedingt wert, wiederentdeckt zu werden.
      Danke und liebe Grüße nach Frankfurt/O. 😊

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      1. Ach nein, Jürgen Walter kannte ich gar nicht. Die Bedeutung mancher Texte wurde mir erst später klar. Tiefgründig und poetisch, ja. Schön, dass man das meiste noch auf YouTube findet. Einen schönen 3. Advent nach Italien.

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