Mailand, du schöne Nervensäge

„Nie wieder Milano!“, schimpft die Tochter. „Berlin, Dresden, Amsterdam, Bologna … überall ist es besser als hier bei uns in Mailand.“ Dabei war sie es gewesen, die mich ein paar Tage zuvor vor vollendete Tatsachen gestellt und diesen Sonntagsausflug in die Landeshauptstadt auf den Plan gesetzt hatte.

Mamma, non ho più vestiti.” (Mama, ich habe keine Klamotten mehr.)

Da hilft nur ein Shoppingtrip in die Modemetropole, in dem es andere als die üblichen zwei oder drei Läden gibt, in denen unsere Große in Varese gewöhnlich fündig wird. Also gut, Mailand. Sie hat recht, dass wir viel zu selten hinfahren. Aber Mailand kostet Geld und Nerven. Egal! Ich bin guter Dinge und voller Elan. Wir fahren mit dem Zug. Am Wochenende ‒ ohne Berufs- und Universitätspendler ‒ reist es sich angenehm. Zu zweit bleiben auch die Kosten im Rahmen. Ja: Wir lassen den Rest der Familie daheim, weder der Papa noch die kleine Schwester könnten uns bei der Klamottenjagd behilflich sein. Im Gegenteil. Ich als Mutter bin geduldig und leidensfähig, wenn es heißt, sich durch Reihen von Kleiderständern zu schieben, an Umkleidekabinen und Kassen zu warten. Ich freue mich, wenn wir hübsche Sachen finden und meine Große glücklich ist. Selbst würde ich in keinen der Läden gehen. Pures Windowshopping wäre perfekt, das mag ich sehr. Vor allem nach so langer Abstinenz. Ich war doch tatsächlich zuletzt im März 2021 in Mailand. Meinen „verbotenen“ Bummel genoss ich damals besonders. (Wer gerne nachlesen will, bitte hier entlang!)

Als wir am frühen Sonntagnachmittag an der Stazione Milano Cadorna aus dem Zug steigen, präsentiert sich die lombardische Hauptstadt von der besten Seite. Die Sonne wärmt die kalte Januarluft gnädig an, und ich strahle mit ihr um die Wette. Ich freue mich, wieder hier zu sein. Den Weg ins Zentrum kenne ich gut, vorbei am imposanten Castello Sforzesco bis hin zum Mailänder Dom mit der goldenen Madonnina. Immer geradeaus. Ganz einfach. Ich renne nicht, ich bummele, will die Stadt, die Stimmung aufsaugen. Laufe langsam, um die eleganten Auslagen zu betrachten, die Werbespots an den großen Leinwänden anzusehen, hübsche architektonische Details an den Gebäuden zu bestaunen. Hin und wieder bleibe ich stehen, um zu fotografieren. Meiner Begleiterin dauert das alles zu lange. Sie will in die Geschäfte, die sie sich zuvor im Internet ausgeguckt hatte. Vor dem Dom, der unter azurblauem Himmel weißer als sonst strahlt, diskutieren wir laut und gestenreich. Ich will links an ihm vorbei, den Corso Vittorio Emanuele II entlang, die Tochter setzt auf ihr Smartphone und schlägt eine andere Richtung vor. Nach ein paar Schritten zögert sie, geht zurück, dann wieder anders. Endlich ist sie sicher: „Da geht’s lang!“ Wir laufen also in eine andere Geschäftsstraße als die, die ich im Sinn hatte. Aber wo waren die gewünschten Läden? Schönen Dank ans Navigationssystem! Wir sind jetzt schon anderthalb Stunden unterwegs, eine Kaffeepause wäre nett. Leider gibt es mehr Geschäfte (nicht die, die wir suchen) als Bars. Und die wenigen Bars sind rappelvoll. Wir möchten uns hinsetzen, eine Toilette wäre auch nicht schlecht. Nein, eine Toilette müssen wir sogar dringend finden, verlangt die Tochter. Ich hatte extra wenig getrunken und bin wild entschlossen, notfalls durchzuhalten. Meine gute Laune lasse ich mir nicht verleiden. (Wie es nerven konnte, mit kleinen Kindern und ungeduldigen Begleitern unterwegs zu sein, wenn es immer nur darum geht, etwas zu essen oder eine Toilette zu finden. Mit meiner Großen wäre das entspannter. Hatte ich gedacht.) Wir ziehen notgedrungen weiter, finden auch endlich die richtigen Geschäfte (nämlich dort, wo ich ursprünglich langwollte), doch es ermüdet auch mich zusehends, keine Pause einzulegen. Noch dazu sind viele Läden hoffnungslos überheizt. „Alla faccia del risparmio!” (So viel zum Thema Sparen!), protestiere ich gut hörbar vor mich hin. Dabei hängen überall die Plakate der Stadt Mailand in den Schaukästen, die ihren Bürgern vor dem Hintergrund der hohen Energie- und Benzinkosten Verhaltensempfehlungen geben. Neben hilfreichen Tipps, öffentliche Verkehrsmittel sowie Treppen (anstelle von Aufzügen!?) zu benutzen, gibt es auch den Hinweis, die Temperatur auf 19 Grad zu regulieren. Gefühlt sind es zehn Grad mehr in den Klamottenläden, in denen uns noch mit der Jacke über dem Arm schlecht ist vor Hitze.

Der Nachmittag geht langsam in den frühen Abend über und das Gedränge nimmt noch zu. Schon dreimal waren wir an einer kleinen Bar vorbeigelaufen, die der Tochter nicht zusagte. Als wir keine Alternative finden, spreche ich ein mütterliches Machtwort. Wir kehren um, setzen uns an den letzten freien Tisch draußen auf der Straße. Mein Stuhl steht direkt unter einem Heizstrahler. Es ist ‒ ihr ahnt es ‒ zu warm. Egal! Mein Optimismus ist unerschütterlich. Guten Mutes bestellen wir etwas zu trinken, ich betrete den kleinen Innenraum, bezahle und frage nach dem stillen Örtchen. Es geht eine schmale, steile Treppe in den Keller hinunter, zwischen Vorratsregalen und Pappkartons warten bereits eine ältere Dame und ein junger Mann vor einer Toilettentür. Ich habe Geduld, notgedrungen. Doch dann geht alles schneller als gedacht. Als ich endlich an der Reihe bin, reicht mir ein Blick in die Örtlichkeit und ich wasche mir lediglich die Hände, bevor ich protestierend das Lokal verlasse. Es war ein „WC alla turca“ (Stehklo oder Hocktoilette). Man führt hier in Italien gern das Argument einer vorteilhafteren Hygiene im Vergleich zum Sitzklo an. Dem kann ich wenig Glauben schenken, in Anbetracht des verschmutzen Bodens, den man betritt und möglicherweise mit Rockzipfeln und Hosensaum streift. In historischen Ortskernen und entlegenen Bergdörfern sind wir auf Stehklos gefasst, aber im Zentrum einer der teuersten Metropolen Europas? Bei solchen Preisen im Lokal? Ich bin entsetzt und nahe daran, meinen guten Willen zu verlieren. Verzweifelt geht meine Tochter ins Fastfood-Restaurant nebenan, auch sie kommt augenblicklich zurück. Kein Klopapier, keine Seife. Ich statte sie mit Papiertaschentüchern und Feuchttüchern aus und warte geduldig vor dem überfüllten Lokal. Mittlerweile stehen auch unsere Rückfahrpläne in den Sternen. Wir beschließen, nun gleich noch früh zu Abend zu essen und finden zwei Ecken weiter, direkt neben dem Dom in einer Querstraße, ein modernes Lokal. Es ist nicht nur hübsch eingerichtet und führt eine ansprechende Auswahl netter Speisen. Nein, es verfügt auch über mitteleuropäischen Hygienestandards entsprechende Sanitäreinrichtungen. Na also! Wir genießen diese letzte Etappe unserer Mutter-Tochter-Tour, snacken, plaudern, gucken Leute und schicken dem Rest der Familie dekorative Food-Fotos nach Hause. Ende gut, alles gut. Zwei Tüten voll Einkäufe für das arme Kind ohne Klamotten haben wir auch ergattert.

Auf dem Rückweg im Dunkeln ist es die Tochter, die fasziniert vor den angestrahlten Gebäuden zum Fotografieren stehenbleibt. Jetzt muss ich drängeln, damit wir die Abfahrt nicht verpassen. Später im Zug schläft meine kleine Shopping-Queen erschöpft ein. Auch ich kämpfe mit der Müdigkeit. Es ist die übertriebene Heizung (!) im Abteil, die mich ins Delirium versetzt. Und doch: Alles in allem würde ich es wieder tun, an einem Sonntagnachmittag nach Mailand fahren. Jetzt wissen wir, wo es langgeht und wo man eine gepflegte Pause einlegen kann. Sagt Bescheid, wenn ihr einmal durch die Mailänder Geschäfte toben wollt, ich nenne euch gern die Namen der beschriebenen Lokale. Die zum Vermeiden, und die zum Besuchen.

Fotos: Eigene Aufnahmen vom 22. Januar 2023. Titelfoto: Piazza del Duomo.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

36 Kommentare zu „Mailand, du schöne Nervensäge

  1. Schön, dass es doch noch zu einem HappyEnd kam, liebe Anke. Toller Bericht über Mailands Sitten & Bräuche und ja, wenn ich mal in Mailand shoppen gehen möchte, werde ich auf deine Tipps sicher zurück kommen! 🙂
    Viele Grüße Bea

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    1. Danke, liebe Marie! Fahr nicht im Hochsommer, der Asphalt heizt so sehr auf. Am schönsten ist es, denke ich, im Frühjahr. Oder im Winter an einem so sonnigen, trockenen Tag.

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  2. Danke für das virtuelle Mitnehmen. Ich war selbst drei Mal in Mailand, aber nur wegen Bruce Springsteen. Zum Shoppen haben mir nur das Hoepli und Alessi (letztere aber nur als Mitbringsel für meine Eltern gedacht) gereicht. Herzliche Grüße aus Wien!

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    1. Hallo und herzlich willkommen auf dem Blog. Bist du etwa im Juli auch wieder hier zum Konzert? Ich weiß noch nicht, ob meine Bekannten eine Karte für mich abzweigen können. Liebe Grüße ins schöne Wien!

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      1. Danke für den Willkommensgruß. Ich bin schon früher hin und wieder über Deine Beiträge „gestolpert“ und liegen geblieben, indem ich sie gern gelesen habe.

        In diesem Jahr werde ich auf Bruce in Italien verzichten, weil er nicht im San Siro spielen wird und… mich hat das schon sehr mitgenommen, als ich im vergangenen Jahr in den Nachrichten über die extreme Trockenheit in Italien lesen musste und es erscheint mir einfach nicht passend, dort im Sommer einen Städteurlaub zu verbringen.

        Umso mehr habe ich die Fotos genossen und konnte in Erinnerungen schwelgen.

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      2. Stimmt, das stundenlange Stehen im Hochsommer bei einem Konzert „auf freiem Feld“ gibt mir auch zu denken. Ich hoffe noch, dass es dieses Jahr nicht wieder so schlimm wird mit der Trockenheit. Neue Rekordhitze wird aber schon prognostiziert. 😒

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    1. Liebe Bettina, ja, solche Touren hast du sicher auch so einige hinter dir. Fahrt ihr dazu nach Berlin? Nur meinte meine Tochter eben (und gefühlt hatte sie recht), dass wir „nirgends“ ähnliche Probleme hatten, irgendwo kurz einzukehren oder ordentliche Toiletten zu finden, wie hier bei uns in der „Internationalen Modemetropole“. Liebe Grüße an dich!

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      1. Ja, Berlin ist in diesem Fall die richtige Adresse. In Frankfurt gibt es praktisch nichts. Inzwischen bin ich als Begleitung aber nicht mehr gefragt. Mir geht es ähnlich wie dir. Ich kaufe selten für mich ein und halte es in den letzten Jahren so: einmal im Jahr ordentlich shoppen in Berchtesgaden. Danke, liebe Grüße an dich zurück!

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    1. Liebe Hanne, vor dem Mailänder Dom steht man jedes Mal wieder mit offenem Mund. Wenn es noch dazu einen so schönen blauen Himmel gibt, muss man auch jedes Mal wieder fotografieren. Danke fürs Lesen und liebe Grüße an dich!

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  3. Liebe Anke, ich hatte wieder eine Menge zum Schmunzeln beim Lesen deines Beitrags. Das ist immer leicht, wenn man selbst gerade nicht von mangelhaften Hygienestandards und überheizten Einkaufsläden betroffen ist. 😉 Beides ist übrigens auch mir ein Graus! Wir haben da auf unseren Reisen auch schon Abenteuerliches erlebt. Herzlichen Dank auch für die Eindrücke aus Mailand. Falls wir es mal dorthin schaffen, würde ich gern auf deine Tipps zurückkommen. Herzliche Grüße, Sophie

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    1. Liebe Sophie, das glaube ich gern, dass du da auch mitreden kannst! 😀 Ich sage mal, als Betroffener freut man sich, dass man im Nachhinein etwas Lustiges zu schreiben hat. Diesmal war ich tatsächlich ziemlich stur und wollte den Ausflug genießen. Bis zu einem bestimmten Punkt klappt das auch, mit der richtigen Einstellung. Mailand ist auch außerhalb der hier beschriebenen zentralen Touristen- und Einkaufszone einen Besuch wert! Ich würde so liebend gern das vielfältige Theaterangebot nutzen, aber es geht immer alles so spät los, erst gegen 21 Uhr. In der Woche dann noch bequem nach Hause zu kommen, ist leider ein Problem.
      Liebe Grüße nach Berlin!

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      1. Ich verstehe ganz genau, was du meinst! Seitdem ich blogge, kommen mir manchmal auch Erlebnisse ganz gelegen, die mich früher nur Nerven gekostet hätten. Jetzt denke ich oft: Ach, naja, nicht so schlimm. Haste wenigstens etwas erlebt. 😉
        Das mit den späten Aufführungen ist wahrscheinlich typisch für Italien, oder? In Deutschland wäre das undenkbar! 😉

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      2. Stimmt, auch im italienischen Fernsehen beginnen die Filme am Abend um 21.30 Uhr, dann haben sie noch Werbepausen, vor Mitternacht ist keiner aus. Ein Glück, dass man jetzt praktisch alles auch „on demand“ schauen kann. Nur eben leider das Theater nicht. 🤷‍♀️

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  4. Liebe Anke, wunderbarer Text – ich fühle mich mittendrin und muss an ähnliche Erlebnisse in anderen Städten denken. Besonders die Toilettensuche ist ein Thema für sich. Das kann so nervig sein, und ich wundere mich immer wieder über den abstoßenden Zustand von Toiletten, der ja von Menschen verursacht wurde – na ja, manchmal auch durch die Toiletten selbst. Ist eine Toilette in einem guten Zustand und es sind schöne Räumlichkeiten, dann werden sie vielleicht auch besser behandelt. Na ja, ist ein andere Thema. Es ist ein Thema für meine Blog-Partnerin E., die schon immer etwas über Toiletten schreiben wollte. Ich werde sie erinnern. Übrigens, deinen Mailand-Text habe ich auch deshalb mit besonderem Interesse gelesen, weil ich im Juni eine Woche mit meinen Enkelkindern in Mailand verbringen werde . Falls du auch Tipps für „Mailand mit Kindern“ hast, abseits des Shoppings, wäre ich sehr interessiert. Herzliche Grüße Roswitha

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    1. Danke, liebe Roswitha, für deinen netten Kommentar. Und ja, ich trage mal ein paar Vorschläge zusammen und melde mich dazu direkt bei dir. Liebe Grüße!

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  5. Mein Enkel – hatte ich ja schon mal gesagt – war ja ein Schuljahr in Mailand. Er hätte mir danach sicher nicht eines dieser Geschäfte zeigen können, aber vom Dom und den anderen Kunstwerken in der Stadt hat er sehr geschwärmt. – Da hätte ich jetzt also schon zwei Stadt-Kundige, die mich führen würden.
    Liebe Grüße

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    1. Stimmt, ich erinnere mich. Der Musiker. Da fällt mir ein, ich war noch nie in der Scala zu einer Veranstaltung, aber mal reingeschaut habe ich wohl. Von außen ist sie ja lange nicht so pompös wie der große Name verspricht.
      Liebe Grüße nach Berlin!
      Und wenn du eine Reise planst, sag rechtzeitig Bescheid!

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      1. Der LIeblingsbengel studiert doch schon im zweiten Studienjahr hier an der Kunsthochschule Berlin – Klavier UND Tonmeister, das letztere ist das anspruchsvollere Studium. – Und allein verreisen ist nicht mehr so mein Ding, Hören und Sehen sind mir zu schlecht dazu.

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  6. Ich vermute, das reicht dann erst einmal wieder ein Weile, oder?
    So sehr ich die Kulissen in der Stadt mag, beim zielgerichteten Shoppen, bin ich letzterzeit oft enttäuscht worden …

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