Sanremo, Made in Italy

Vor zwei Jahren berichtete ich an dieser Stelle von einem fünftägigen Ausnahmezustand: dem Phänomen „Festival della Canzone Italiana“, nach dem Festspielort auch einfach „Sanremo“ genannt. Damals befanden wir uns gerade im (dritten?) Lockdown und ich stellte fest, dass mir im Homeoffice die Pausengespräche mit den Kollegen zum besagten Thema fehlten. In diesem Jahr, in dem wir alle und momentan auch alternativlos im Büro sind, sprachen wir wieder über das Festival, das vom 7. bis 11. Februar über die Bühne ging. Weniger in der Kaffeepause als zwischendurch bei der Arbeit. Dabei hatte ich an den ersten vier Abenden nur jeweils zwei Stunden live mitgeschaut. Ich meine mich zu erinnern, dass die Sanremo-Abende einmal bis nach Mitternacht gingen. Jetzt sind sie noch nicht einmal nachts um eins zu Ende. Das macht aber nichts, denn man hört vom Rest des Abends am Morgen danach im Radio und bekommt die Höhepunkte auf allen Kanälen noch mehrmals um die Ohren geschlagen. Und da spreche ich nicht von der Musik. Die heiß diskutierten Höhepunkte sind Themen, Skandale und Gastauftritte neben den 28 (!) Canzoni im Wettbewerb. Gleich am ersten Abend war erstmals kein Geringerer als Präsident Sergio Mattarella persönlich zu Gast. Vor ihm und den Millionen Zuschauern am Bildschirm inszenierte Schauspieler und Komiker Roberto Benigni in gewohnter Theatralik ein Loblied auf die vor 75 Jahren in Kraft getretene italienische Verfassung. Große Teile seines Monologs widmete er dem Paragrafen 21 zur Meinungsfreiheit ‒ eine Art Leitmotiv für das Festival. Die wechselnden VIP-Moderatorinnen (u.a. Italiens einflussreichste Influencerin Chiara Ferragni und die italienische Nationalmannschafts-Volleyballerin Paola Egonu) brachten mit der Wahl ihrer Kleider und Accessoires sowie bedeutungsschweren Monologen gesellschaftliche Themen unserer Zeit ‒ Rassismus, Homophobie, Freiheit in Sachen Kinderwunsch, Respekt vor dem eigenen Körper u.a. ‒ zur Sprache. Der Wettbewerbsbeitrag des Rappers Rosa Chemical, sein „politisch inkorrekter“ Song gegen Bigotterie und für freie Liebe ohne Stereotypen mit dem werbewirksamen Titel „Made in Italy“, wurde bereits im Vorfeld im Parlament diskutiert. Die Anklage führte eine Abgeordnete von Giorgia Melonis rechtspopulistischer Partei „Fratelli d’Italia“, Maddalena Morgante. Mich beeindruckte besonders Morgantes Argument, dass man doch im öffentlichen Fernsehen, in einer Sendung, die sich Kinder im Kreis ihrer Familie ansehen, nicht solch unchristliches Zeug zeigen dürfe. Moment mal, Kinder? Zu nächtlicher Stunde vor dem Fernseher? Und am Morgen darauf früh zur Schule? Welch pädagogisch wertvolles Konzept. Complimenti! Auch die anderen rechten Bündnisparteien, namentlich die Vorsitzenden Berlusconi von „Forza Italia“ und Salvini von der „Lega Nord“, spürten während und nach dem Musikfestival den Drang, sich öffentlich den Mund zu zerreißen. Politik, zumal vermeintlich linksgerichtete, Genderthemen und neben Amore auch Sesso thematisierende Liedtexte hätten auf der Bühne des Festivals, das einmal Symbol der „christlichen italienischen Hochkultur“ (sinngemäß) war, nichts zu suchen. Tja, der „kulturelle Verfall“ ist wohl nicht aufzuhalten, ihr lieben konservativen Politiker. Der Chefmoderator und künstlerische Leiter Amadeus reagierte auf die Kritik des Lega-Chefs im Rahmen einer Pressekonferenz, Salvini bräuchte Sanremo ja nicht zu gucken, wenn es ihm nicht zusage. Bingo, sage ich. Zur Meinungsfreiheit gehört die freie Wahl des Fernsehprogramms. Die Italiener haben unbeeindruckt von aller Polemik und öffentlichem Gezeter vor den Bildschirmen abgestimmt. Den Finalabend am Samstag sahen über 12 Millionen Zuschauer, was einem Marktanteil (Share) von 66 Prozent entspricht (meine Wenigkeit hielt bis Mitternacht durch, der Sieger wurde um halb drei (!) Uhr nachts gekürt). Mit einem Mittelwert von 63 Prozent über alle fünf Abende lag damit 2023 der Marktanteil der Show so hoch wie seit dreißig Jahren nicht mehr (Quelle: rainews.it). In meinem Morgenradio äußerte ein Journalist an einem dieser Tage die originelle Vermutung, dass es sich beim Festival um ein einziges großes, raffiniert ausgeklügeltes Ablenkungsmanöver handelt. Man müsse aufpassen, dass nicht irgendwer profitiert und unpopuläre Regelungen einführt, die so gut wie unbemerkt passieren würden. Eine Woche oder länger ‒ die Tage vor und nach dem Festival mitgerechnet ‒ sprechen die Italiener von wenig anderem als Sanremo. Sei es am Stammtisch, bei der Arbeit, in den sozialen Medien. Ob die sehr niedrige Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen am Sonntag und Montag womöglich auch auf den Sanremo-Effekt zurückzuführen ist? Bei uns in der Lombardei nahmen diesmal nur knapp 42 Prozent der Wahlberechtigten den beschwerlichen Gang zur Urne auf sich. 2018 waren es 73 Prozent gewesen (Quelle: elezioni.repubblica.it). Meinen Mann konnte ich jedenfalls mit dem Argument der Wahl am späten Sonntagnachmittag vom Sofa zerren. Ratet, was im TV lief! Bei Rai1 sendete „Domenica In“ noch immer aus dem Ariston-Theater, um das Festival gebührend Revue passieren zu lassen.

Nun habe ich euch hier mit der neuen gesellschaftspolitischen Dimension des italienischen Songfestivals gelangweilt, dabei geht es in meiner Beitragskategorie doch um die berühmte Musica Italiana. Die hat mit dem diesjährigen, nach 2013 bereits zum zweiten Mal triumphierenden Gewinner Marco Mengoni und seinem Song „Due Vite“ wieder eine klassische Ballade in bester italienischer Pop-Tradition aufs Siegerpodest gebracht. So gehen Tradition und Zeitgeist beim Festival in Sanremo eine spannende Verbindung ein. Ich freue mich auf einen neuen Show-Marathon im nächsten Jahr.

Der Festival-Sieger 2023: Marco Mengoni
Rosa Chemical performte sich auf den 8. Platz

Zum Titelbild: Im Sommer waren wir einen Tag in Sanremo, wo ich unserer jüngsten Tochter, der kleinen Sängerin, das berühmte Ariston-Theater zeigte. „Ein Kino, und?“, meinte sie enttäuscht. Ich musste ihr recht geben: Unter der sengenden Mittagshitze im August und jenseits des großen Events im Februar präsentiert sich der Ort des Spektakels nicht halb so glamourös. Im Fernsehen ist eben mehr Lametta.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

13 Kommentare zu „Sanremo, Made in Italy

  1. Ein erfrischend geschriebener Beitrag. Ein wenig kenne ich die italienische Mentalität (ich war vor der Heirat so oft dort, auch in italienischen Familien) und genieße sehr Deine Schilderungen.

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    1. Das freut mich, Marie. Schön, wenn du das Beschriebene von heute mit deinen Erinnerungen abgleichen kannst. Ich danke dir wie immer sehr für deinen Kommentar und sende liebe Grüβe!

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  2. Anche mio marito si meraviglia tutti gli anni di quanta visibilità abbia Sanremo. Potenza della pubblicità. Sembra comunque che le case discografiche ci campino un anno intero, sui proventi del festival. In fondo sono anche tanti posti di lavoro… Personalmente non lo seguo, ma siccome ascolto Rai Radio2, praticamente sono al corrente di tutto. 😄😄

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    1. È vero, tantissimi posti di lavoro. E va be, ci sta. Un po’ di distrazione, una volta all’anno. E poi la musica mi piace, anche la “mia” radio RTL 102.5, la fa ascoltare tanto.

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  3. Danke für diesen schönen Beitrag! Bei „Sanremo 2023“ fand ich auch sehr gut, dass sich der Wettbewerb nicht politisch vereinnahmen ließ, ich beziehe mich da auf eine Agenturmeldung, in der berichtet wurde, man verwehrte sich erfolgreich gegen den Wunsch von Selenskyj, zugeschaltet zu werden.

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    1. Wie diese Idee ursprünglich aufkam, weiß ich gar nicht, aber es wurde zuletzt ein Kompromiss gefunden. Der Moderator Amadeus las anstelle der Videoansprache einen Brief vor, in dem der ukrainische Präsident sich für die Unterstützung durch Italien bedanken konnte und den Gewinner des Festivals zur Feier nach dem Krieg nach Kiew einlud.

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