Undercover

oder: Die Seitenstraßen-Touristin

Ich denke, man sieht mir an, dass ich keine Italienerin bin. In Orten, wo im Sommer auch viele Deutsche Urlaub machen, bin ich eine von denen. Oder doch nicht? Ich schummele mich undercover unters italienische Volk. Gerade ging es mir in meinem Lieblingsferienort Alassio so.

Wenn ich morgens nach dem Frühstück ein Plätzchen im Schatten suche, teile ich diesen Wunsch mit Einheimischen. Kein Tourist setzt sich am Meer in einer Seitenstraße auf eine Bank in den Schatten, jedenfalls nicht morgens um zehn. Ich schon, denn der Tag in der prallen Sonne wird noch lang. Den gehe ich gerne ruhig an. Ich habe mein Buch dabei und lese ein paar Seiten. Mit einem Ohr höre und mit einem Auge beobachte ich nebenbei das Leben, das sich um mich herum abspielt. Ich lausche den Alltagsplaudereien der beiden Herren auf der Nachbarbank, drehe mich um, weil ich wissen will, welchem Ladenbesitzer die Dame auf dem Rad im Vorbeifahren etwas zugerufen hat. Ich erfahre, was es bei Antonio gestern Abend zu essen gab und dass die Enkel von Giovanna noch ein paar Tage länger bei ihr bleiben. Ich tauche ein, als würde ich hier leben, nehme Anteil an den Gesprächen, fühle mich gleichzeitig dazugehörig und fremd. Fremd allein schon deshalb, weil ich noch gut zwanzig Jahre jünger bin als der durchschnittliche Banksitzende zu dieser Tageszeit. Aber auch, weil ich die Einzige bin, die liest. Ein Buch. Viele schauen aufs Handy, andere nur in die Gegend.

Ich muss wieder an meinen ersten Tagesausflug in einen italienischen Aquapark denken. Der war für eine Gruppe der Kinderferienspiele organisiert. Mein Freund und ich durften mitfahren, da seine Mutter die Kinder begleitete und noch Plätze im Reisebus frei waren. Wir gehörten früh am Morgen zu den ersten Gästen, als der Vergnügungspark mit verschiedenen Schwimmbecken und Wasserrutschen gerade seine Tore öffnete. Ich sah mich kurz um, fand ein ruhiges Plätzchen und legte mich auf mein Handtuch. Dann cremte ich mich sorgfältig mit Sonnenmilch ein und holte mein Buch heraus. Ein unverzeihlicher Fauxpas in Kalabrien (und sicher, eventuell abgeschwächt, in ganz Italien). Damit handelte ich mir einen saftigen „Ehestreit“ ein. Wir wären schließlich gekommen, um uns zu amüsieren. Was ich mir einbildete, ein Buch zu lesen. Er, als mein Freund, würde eine Brutta Figura machen mit einer wie mir, die nicht sofort zu den Rutschen rannte und bei der ersten Runde Balli di Gruppo im Wasser mithüpfte.

Diesmal bin ich allein im Urlaub und tue und lasse, was mir gefällt. (Keine Sorge, auch unterwegs mit meiner Familie darf ich lesen, während die anderen sich amüsieren. Zumeist amüsieren wir uns aber gemeinsam.) Für meine Tage in Alassio habe ich mir einen dicken Wälzer mitgebracht. Auch der verrät mich, würde sich einer für das Buchcover interessieren, als eine fremde Einheimische. Ich lese Alle, außer mir, die deutsche Übersetzung von Francesca Melandris „Sangue giusto“ (deutsch: Richtiges Blut). Keine leichte Urlaubslektüre. Der Roman behandelt ‒ detailgetreu recherchiert und meisterhaft erzählt ‒ dunkelste Aspekte der italienischen Geschichte (Stichwort: Abessinienkrieg). Ich lese ihn wissensdurstig, ist er doch „eine Reise in die italienische Seele“* und reflektiert aktuelle Gesellschaftsprobleme vor dem Hintergrund unzureichend aufgearbeiteter Historie. Eine komplexe Familiengeschichte über drei Generationen spannt die Fäden. Für mich, die ich seit mehr als zwanzig Jahren in Italien lebe, ein spannender Stoff.

Obwohl ich mit sechshundert Seiten anspruchsvoller Lektüre ausgestattet bin, betrete ich irgendwann doch die kleine Buchhandlung in der beliebten Shoppinggasse Budello di Alassio. Mehrmals war ich an ihr vorbeigeschlendert und hatte dem verführerischen Duft von druckfrischen Büchern nur schwer widerstehen können. Als ich jetzt ‒ ganz unverbindlich auf Touristenart ‒ meinen Fuß in den Laden setze, ist er gut besucht. Offensichtlich von Einheimischen oder italienischen Langzeiturlaubern, denn ich höre, wie eine Kundin der Verkäuferin von ihren zuletzt gelesenen Büchern erzählt und sich wieder eins empfehlen lässt, weil sie beide doch ähnliche Vorlieben hätten. Eine nette Art, auch neuen Besuchern Tipps zu geben, sind die kleinen gelben Post-its auf einigen Buchcovern. Darauf steht dann „Letto e consigliato da Sabrina“ (Gelesen und empfohlen von Sabrina), oder der gleiche Text mit einem anderen Namen, zum Beispiel dem von Marco. Ich nehme an, es sind die Angestellten des Ladens, die ihre persönlichen Lieblingswerke anpreisen. Als ich einen Titel sehe, von dem kürzlich eine italienische Freundin gesprochen hatte und an dem auch so ein Post-it hängt, kaufe ich ihn mir. Im Koffer ist noch Platz und ein Buch kann ich irgendwann im nächsten oder übernächsten Jahr lesen. Bücher kommen zum Glück nicht aus der Mode. Im Gegensatz zu manchen Glitzer-Sandalen, die in den benachbarten Boutiquen zu Sommerschlussverkaufspreisen angeboten werden und die Touristinnen magisch anziehen. Ich werde nachher im Hotel mit Marcella sprechen, die als Gastgeberin immer zu einem Schwätzchen aufgelegt ist, und mir ein gutes Schuhgeschäft in einer Seitenstraße empfehlen lassen.

Eine „meiner“ Seitenstraßen an einem Morgen, an dem leider schon alle Bänke im Schatten (rechts im Bild) besetzt waren.

*Zitat aus La Repubblica auf dem Buchdeckel. Wer mehr zum Roman erfahren will, dem empfehle ich die hier verlinkte Rezension beim Deutschlandfunk.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

25 Kommentare zu „Undercover

  1. Dein neuer Text hat mich wieder einige Male zum Schmunzeln gebracht. Danke dafür. Zum Beispiel habe ich mich erst gefragt, ob das Eincremen mit Sonnenmilch den Streit vom Zaun gebrochen hat! Irgendwie scheint mir das auch so typisch für uns Deutsche zu sein. Lustig, dass du dich mit deiner Lektüre unbeliebt gemacht hast!
    Was mir bei deinen Texten auch immer wieder sehr gut gefällt, sind die Aussagen, die manchmal eher in Nebensätzen versteckt sind, an denen ich dann aber gedanklich hängen bleibe. Diesmal zum Beispiel die Formulierung der fremden Einheimischen. Du lebst seit mehr als 20 Jahren in Italien, schreibst du. Ist man das dann immer noch: die fremde Einheimische? Wenn ich darüber nachdenke, scheint mir das total plausibel. Das finde ich interessant. Macht das etwas mit dir? Sitzt du manchmal zwischen den Stühlen?
    Herzliche Grüße! Sophie

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    1. Danke, liebe Sophie, für deinen lieben Kommentar und die Fragen dazu. Das Eincremen tolerieren die Italiener übrigens gut, solange man sie (Männer) nicht auch davon überzeugen will.
      Ja, dieses zwischen den Welten leben, ein wenig hier, aber auch da, mit Gedanken wie mit Gefühlen, ist spannend, deshalb schreibe ich auch oft darüber, manchmal expliziter, manchmal in Nebensätzen. Gerade im Urlaub kommt das heftig zum Tragen, eben weil man da als Gast und Tourist in so eine Zwischenrolle gerät. Zwischen die Stühle, was als Bild ja eher negativ belegt ist, gerate ich aber zum Glück fast nie. Es sei denn, ich schaue mit meinem Mann ein Fußballspiel der beiden Nationalmannschaften. Herzliche Grüße an dich!

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  2. Urlaubsstimmung pur, was ich hier lese. Bücher reisen bei mir auch immer mit, auch wenn die anderen mir sagen, ein E-Book-Reader sei doch viel praktischer. Praktischer vielleicht, aber nicht für mich. Ich will Bücher📚, gerade im Urlaub!

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    1. Da bin ich komplett bei dir, liebe Regine! Ich habe es noch nicht einmal versucht mit dem Reader. Genauso wenig wie die Automatik beim Autofahren. Hat jetzt nur indirekt miteinander zu tun, aber vielleicht doch irgendwie. Danke und schöne Grüße!

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  3. Sehr schön beschrieben. Wenn ich in Italien war, habe ich mich sicher wie eine typische Touristin benommen.
    Aber ich denke eher an mein Dasein hier im österreichischen Wien. Wobei Wien nicht mit Restösterreich zu vergleichen ist. Aber in den 20 Jahren, seit ich hier lebe, komme ich manchmal als typische Wienerin durch.

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    1. Tatsächlich? Und sprichst du auch perfekt den Dialekt? Dass die Wiener im Vergleich zu Österreich allgemein ein Völkchen für sich sind, bestätigt mir auch immer meine Wiener Freundin.
      Danke und Baba 🙋‍♀️

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  4. Meistens habe ich im Urlaub zwei Bücher dabei. Eines, das mich fordert und zum Denken bringt, eines, was ich nur genießen kann. Mein Mann hatte sich zwei dicke Wälzer mitgenommen und darüber essentielle Kleidungsstücke vergessen, d.h., sie passten nicht mehr in den Koffer und wir mussten in Salzburg nachkaufen 🤭
    Nächstens kontrolliere ich wieder sein Gepäck 😉

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  5. Allein reisen. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Ich habe es genossen, dich dabei zu begleiten. Wie du dich treiben lässt und gleichzeitig das Leben im Ort aufsaugst, das hat mir gefallen und es ist schon der zweite Text, der in Alassio spielt und mich neugierig auf diesen Ort macht. Der Text kommt gerade zu rechten Zeit. Vielleicht werde ich einen Abstecher dorthin unternehmen. Liebe Grüße Roswitha

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    1. Danke, liebe Roswitha. Ich wünsche eine gute Reise und bin gespannt, wo du überall vorbeischaust. Und ob dir Alassio auch so gut gefällt wie mir. Sonnige Sonntagsgrüβe!

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