Sonderwünsche

Zum Sommerausklang haben wir uns im Familienrat geeinigt, dass es am Abend noch einmal Prosciutto e Melone geben dürfe. Ich stehe also an der Gastronomietheke und bin gleich an der Reihe. Plötzlich weiß ich nicht mehr genau, wieviel Gramm Prosciutto Crudo ich für uns vier holen soll, wenn tatsächlich einmal alle mitessen. Also texte ich meinem Mann diese Frage, der es vorzieht, mich zurückzurufen. Telefonate im Supermarkt würde ich lieber vermeiden und flüstere verschämt mein „Pronto!“ ins Smartphone.

Abbonda pure, prendi almeno due etti e mezzo!“ (Nimm reichlich, mindestens 250 Gramm!)

Das hätte er auch tippen können. Doch dann fügt er eilig den Wunsch hinzu, den er mir fernmündlich mitteilen wollte.

Ma fattelo iniziare, mi raccomando, prendilo dall’inizio!“ (Aber lass dir einen neuen anschneiden, nimm vom Anfang!)

Stimmt, mein Mann bevorzugt die ersten, kleinen Scheiben eines neu angeschnittenen Schinkens. Sie hätten weniger Fettanteil und seien würziger.

Adesso vediamo“, antworte ich zerknirscht. Ich werde sehen.

Es ist mir – im Gegensatz zu meinem Mann – peinlich, Sonderwünsche vorzubringen. Wenn nun alle Kunden nur die ersten Scheiben haben möchten, was wird dann aus dem Mittelstück? Ich handele einen Kompromiss mit mir aus. Ich werde es der Bedienung überlassen, ob sie mir vom Parma oder San Daniele gibt, so ist es mir weniger unangenehm, im Gegenzug auf ein Anfangsstück zu bestehen. Schließlich gehe ich mit Prosciutto Crudo di Parma nach Hause, 250 Gramm von den ersten Scheiben. Der Verkäufer hatte bei meiner eigensinnigen Bestellung nicht mit der Wimper gezuckt.

Was ist es, das mich als Kundin so kleinlaut auftreten lässt? Nicht, dass wir uns falsch verstehen. Ich bestehe sehr wohl darauf, überhaupt bedient zu werden. Beispielsweise am Postschalter, wenn die Angestellten dahinter gerade ein Schwätzchen halten und mich nicht zu beachten scheinen. Aber eine bevorzugte Behandlung oder das sahnigste Stück der Torte zu verlangen, das kommt mir nicht in den Sinn. Wenn wir ein Restaurant betreten, gebe ich mich mit dem einen oder einem der Tische zufrieden, die uns angeboten werden. Vielleicht rührt das noch von meiner ostdeutschen Sozialisation her, wo einem beim Restaurantbesuch ein Schild „Sie werden platziert“ den Weg versperrte. Mein Mann hat oft einen Blick dafür, welcher der ruhigste Tisch oder der mit der besten Aussicht ist und fragt nach ihm, selbst wenn er uns nicht angeboten wird. „Der ist bestimmt reserviert!“, möchte ich ihm zuflüstern und schaue verlegen zu Boden. Dabei ist er das in der Hälfte der Fälle nicht, oder es wird kurzerhand umdisponiert, und wir dürfen an dem „besten“ Tisch Platz nehmen.

Womöglich gibt es aber auch einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Mir fallen gerade nur Männer ein, die ihre Sonderwünsche regelmäßig vorbringen und sich nehmen, was ihnen vermeintlich zusteht. Bei uns im Büro ist es üblich, am Geburtstag zum Caffè eine Runde Brioche zu spendieren. Diese auch als Croissant oder Cornetto bekannten Gebäckstücke gibt es in den klassischen Versionen mit Crema Pasticcera (Vanillecreme), Marmellata (meist Aprikosenmarmelade), Cioccolato (Schokocreme) oder aber Vuoto, ohne Füllung. In der Regel bringen die Geburtstagskinder ein paar von jeder Sorte. Ich habe einen Kollegen, der mag nur Schokocroissants. Was macht er also, wenn er am Morgen am Kaffeeautomaten vorbeigeht und das Tablett mit Croissants sieht? Er sichert sich eins. Wenn wir dann zwei Stunden später in die Pause gehen, packt er triumphierend sein in eine Serviette geschlagenes Teilchen aus und zuckt bedauernd mit den Schultern, wenn ich kaum noch Auswahl habe und eins mit Marmelade abbekomme. Ich mag auch Schoko am liebsten, meistens jedenfalls. Neulich brachte ich meinen Unmut über sein egoistisches Verhalten auf den Tisch. „Warum musst du immer eine Extrawurst bekommen?“, warf ich ihm an den Kopf. Er schaute mich entgeistert an, und das nicht nur, weil es sich schließlich um ein Gebäckstück handelte und keine Wurst. „Mach es doch genauso, wenn du eine Vorliebe hast!“, schlug er mir vor. Als ich mich weiterhin skeptisch zeigte, versuchte er es mit wort- und gestenreichen Erklärungen. Sein Verhalten würde sogar die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass am Ende alle zufrieden sind. Wer eine Vorliebe hat, soll sich sein Croissant rechtzeitig sichern. Die anderen, denen es egal ist, wären mit den übrigen auch zufrieden. Würde er sich nicht das Schokocroissant beiseitelegen, riskierte er, keins zu bekommen. Und wäre enttäuscht. Womöglich hätte einer, der lieber Marmelade wollte, Schoko erwischt und wäre ebenfalls unglücklich. Jeder sollte sehen, dass er sich das Gewünschte sofort verschafft, und alle sind am Ende zufrieden. Ich guckte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, während er sich zufrieden mit der Serviette die letzten Schokocremespuren aus den Mundwinkeln wischte.

Ich werde weiterhin darauf verzichten, mir ein bestimmtes Teilchen vor der Kaffeepause zu sichern. Manchmal, wenn mein Kollege einen guten Tag hat und mich unzufrieden sieht, bietet er mir an, sein Schokocroissant zu teilen. Von wegen Egoismus! Er meint es gut mit sich und den anderen.

Um auf das Eingangsthema Prosciutto Crudo zurückzukommen: Es gibt auch viele Kunden, die das Mittelstück bevorzugen. Die größeren Scheiben sind mit einem Hauch Fett oft zarter und milder. Das werde ich mir beim nächsten Schinkenkauf ins Gedächtnis rufen und meine Bestellung selbstbewusster aufgeben.

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

29 Kommentare zu „Sonderwünsche

  1. So siehts aus, liebe Anke! Wer nicht für sich sorgt, sorgt für die Anderen. 😀 Ich sehe das genauso, wie dein männlicher Kollege, auch wenn ich dadurch wahrscheinlich deine private Statistik durcheinander wirbele. 🙂
    LG Bea

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  2. Wenn ich dort arbeiten würde, wo Du arbeitest, würde ich eine Liste erstellen, wer was am liebsten isst. Dann ist für alle gesorgt. Aber das ist wohl typisch deutsch und passt wahrscheinlich nicht ins wundervolle, freie italienische Lebensgefühl.

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  3. Ach, liebe Anke, die Lektüre deines neuen Beitrags hat mir gerade das Frühstück versüßt (übrigens kein Schokocroissant!). Herrlich! Mir würde es genauso gehen wie dir, ich bin auch eher zurückhaltend mit Sonderwünschen, obwohl ich mir innerlich natürlich schon immer das Stück Torte mit der meisten Sahne wünsche. 😉
    Ich musste an eine Geschichte aus meiner Jugend denken: Mein Bruder und ich saßen uns am Esstisch gegenüber, meine Mutter legte zwei Hälften eines Baguettes darauf. Vor mich ein Stück, das eher dünn und knusprig war, vor meinen Bruder eines, das eher rundlich und hell war. Jeder wollte sich das „bessere“ Stück sichern, deshalb griffen wir im gleichen Moment blitzschnell zu: Er nahm das, was in meiner Nähe lag, ich das, was vor ihm lag. Manchmal kommt man sich mit seinen Vorlieben eben nicht in die Quere! Und wahrscheinlich freuen sich andere wirklich, wenn sie das Mittelstück vom Schinken bekommen! 😉
    Einen schönen sonnigen Tag für dich und euch!

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    1. Genau! Es gibt doch auch die Fabel von den Eheleuten, die erst am Ende feststellen, dass sie all die gemeinsamen Jahre dem anderen zuliebe auf die favorisierte Unter- oder Oberseite des Brötchens verzichtet haben und dabei beide immer das „falsche“ gegessen haben. Einfach mal ansprechen, und dann kann man notfalls immer noch verhandeln. Im besten Fall passt es bereits.
      Danke für diese nette ergänzende Geschichte aus deiner Erinnerung!
      Habt auch ihr ein schönes Wochenende! 🌞

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  4. Liebe Anke, ich kenne tatsächlich einige Frauen, die auf eine, relativ schonende Weise, auf ihren Vorteil bedacht sind. Ich folge gerne im Kielwasser dieser Ladies und nehme mir vor, viel zu lernen 🙂

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    1. Solange der eigene Vorteil nicht der Nachteil eines anderen ist … Vorlieben soll man ruhig zum Ausdruck bringen dürfen. Das Leben ist zu kurz für falsche Schüchternheit! Ich wünsche dir gute Lernerfolge, liebe Sybille! 🙂

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  5. Ehrlich gesagt bin ich da auch eher wie du. Mir käme es auch nie in den Sinn mir vorher das Croissant zu sichern – im Gegenteil finde ich das sogar egoistisch.
    Bei einem Tisch im Restaurant hätte ich auch kein Problem nach einem anderen zu fragen. Aber nach einem bestimmten Teil vom Schinken wäre mir wiederum unangenehm – wahrscheinlich weil ich denke, dass halt gerade das Stück kommt, was eben gerade kommt und es umständlich wäre, wenn ich dann plötzlich irgendein Teilstück verlange.

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    1. Danke für deinen Kommentar! Wir teilen also unsere Unsicherheiten und Überzeugungen. Zur Fleischtheke muss ich erklären: Sie haben tatsächlich mehrere Schinken gleichzeitig angeschnitten, es ist ein großer Markt.

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  6. Deine Bedenken am Fleischstand verstehe ich vollkommen, sowohl wegen des Telefonates, als auch wegen des Sonderwunsches. Ein wenig liegt es am Menschen selbst, seiner Erziehung zur Bescheidenheit, aber sicher auch an den Verhältnissen und Gegebenheiten in Ostdeutschland, dem Land, in dem wir aufgewachsen sind. Liebe Grüße und ein schönes Wochenende aus dem sonnigen Osten Deutschlands, Bettina

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    1. Liebe Bettina, da hast du absolut recht, Prägung und Erziehung sind der Grundstein für unsere Sicht der Dinge, die eine bescheidenere ist. Ich lese übrigens gerade „Diesseits der Mauer“: hoch interessant, mit vielen spannenden Hintergründen. Da werden historische Fakten und Geschehen auf politischer, gesellschaftlicher und privater Ebene in ein ausgewogenes, kritisches Licht gerückt. Ich wünsche dir ein entspanntes Wochenende im schönen Osten Deutschlands!

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      1. Das hört sich interessant an. Balance ist im Moment das Lieblingswort meines Mannes. Und darauf kommt es sicherlich an im Leben, nicht nur im Umgang miteinander. Danke nach Italien und beste Wünsche zurück!

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  7. Hallochen,
    ich vermute auch, es ist die ostdeutsche Prägung. Und es scheint dazu ein weibliches Phänomen zu sein. Sehr komische Kombination. Ich habe eine Weile gebraucht, beim Bäcker ausdrücklich den helleren Plunderkranz zu bestellen. Einige der (älteren) Verkäuferinnen gucken dann sehr komisch, während der jüngere Verkäufer noch genauer fragt, welchen der beiden helleren. Und es ist wie du schreibst, andere Menschen bevorzugen genau die andere Variante, also alles ok.
    Liebe Grüße
    Ilka

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    1. Liebe Ilka, danke für dein Beispiel. Ich finde es immer wieder schön, dass wir hier unsere Erfahrungen teilen. Deine Szene beim Bäcker sehe ich auch genau vor mir. Die älteren Verkäuferinnen waren es vermutlich noch gewohnt, dass die Kunden doch froh sein sollten, wenn der Plunder noch nicht aus war. Also das Gebäck. 😉
      Liebe Grüße und ein sonniges Wochenende in Potsdam!

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  8. Ich bin da voll bei Dir: Mir ist es auch nicht angenehm, solche Sonderwünsche zu äußern. Wenn jeder nur einen Anfang oder ein Mittelteil von etwas wollte, was wird dann aus den nicht so beliebten Teilen? Ich finde es auch nicht gut, wenn sich einer schon vor den anderen etwas nimmt, nur weil er unbedingt eine bestimmte Sorte haben muss. Das würde ich allerdings zu verhindern suchen, indem ich den Kuchen (oder was auch immer) erst aufstelle, kurz bevor alle kommen. Dann haben alle eine Chance und sehen es wenigstens, wenn einer sofort zuschlägt.

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    1. Die Kaffeepause machen die Kollegen zeitversetzt, zu zweit und in kleinen Gruppen. Da wird auch an Geburtstagen keine Ausnahme gemacht. Aber wo du das so schreibst, fällt mir wieder ein, dass es im Büro, in dem ich vor vielen Jahren in Deutschland arbeitete, so war. Wenn jemand etwas ausgab, zum Geburtstag oder Urlaub (!) oder Hochzeit oder sonst was, wurde eine kurze Pause für alle organisiert, und man stand nett zusammen, um zu essen und zu trinken. Das war immer schön.

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  9. Das hat ganz sicher mit Sozialisation zu tun. Ich tue mich da auch schwer und könnte im Boden versinken, wenn das jemand in meinem Umfeld tut. Zum Beispiel die eindeutig „studentische“ Kellnerschaft mit Fragen zu den Speisen löchern.

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    1. Stichwort: Individualisierungswahn. Ich, ich, dann eine Weile nix.
      Man sollte seine Ansprüche unbedingt den Gegebenheiten anpassen. Wer im Detail zu den Speisen plaudern will, der gehe gefälligst in ein gehobenes Lokal, wo die Klenner instruiert sind oder gar der Chef persönlich rauskommt, um Fragen zu beantworten. Aber da müsste man ja tiefer in die Tasche greifen, das will mancher Großkotz dann womöglich auch wieder nicht.

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      1. … und ich würde mal wetten, dass so manch Großkotz auf einmal ganz kleinlaut wird, wenn da auf einmal der Chefkoch an den Tisch käme 😉

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