Der Italiener und die Erreichbarkeit
Wenn ich in der Apotheke in der Schlange stehe und kein Rezept in der Hand halte, konzentriere ich mich darauf, was ich sagen oder fragen werde, wenn ich an der Reihe bin. In der Regel möchte ich nicht hören, welche Mittelchen die anderen suchen oder welche Leiden sie auskurieren möchten. Ich höre diskret weg. Genauso wenig möchte ich von meiner mentalen Vorbereitung auf das Verkaufsgespräch von einem Mitwartenden abgelenkt werden, der sich wie zu Hause fühlt und lautstark ein Telefonat annimmt. Kürzlich wurde ich unfreiwillig Mitwisserin der buchhalterischen Angelegenheiten einer Firma, deren Mitarbeiterin hinter mir stand. Es ging um Steuerpapiere und Jahresabrechnungen, die sie ihrem Gesprächspartner am nächsten Tag raussuchen würde. „Wissen Sie, ich muss mich kurzfassen, denn ich stehe gerade in der Apotheke an und kann nicht rausgehen zum Telefonieren, ohne meinen Platz zu verlieren. Das besprechen wir alles morgen.“ So ihre ersten Worte, dann ging es eine gefühlte halbe Stunde weiter, in der sie ihrem Chef (?) genau das erläuterte, was sie ihm am nächsten Tag sagen wollte, weil sie jetzt gerade nicht sprechen könne.
Nun mag der Anruf eines Vorgesetzten eine Störung sein, der man sich schlecht verweigern kann. Aber ich meine, den Italienern fällt es ganz allgemein schwer, jemanden auf später zu vertrösten. Ständig erreichbar zu sein, gilt als Zeichen der Höflichkeit. Ich muss in ihren Augen ein wahres Desaster sein, denn ich erlaube mir regelmäßig ‒ während des Autofahrens, des Anstehens in einem Geschäft oder in ähnlich unpassenden Situationen ‒ einfach nicht ranzugehen. Ich schaue, wer es war und rufe oder texte zurück.
Daheim bringt mich der Gatte regelmäßig auf die Palme. Ausgerechnet immer dann, wenn eine warme Mahlzeit auf dem Tisch steht, klingelt sein Handy. Selbstverständlich geht er ohne Zögern ran.
„Uella. Come va? No, no, non c’è problema. Raccontami tutto! “ (Hallöchen! Was gibt’s denn? Nein, nein, gar kein Problem. Schieß los!)
Könnte er nicht antworten, dass wir gerade essen und anbieten, gleich danach zurückzurufen? Der andere hat schließlich gefragt, ob es in diesem Moment passt. Mein Mann meint wohl, diese Frage sei nur eine Floskel und rhetorischer Natur. Wenn ich angerufen werde, dann gebe ich ehrlich zu, sollte es gerade ungelegen sein. Andersherum frage ich selbst und wäre nicht beleidigt, wenn der andere zurückruft.
In der Komödie „Viaggi di nozze” (Hochzeitsreisen) gibt Carlo Verdone in einer der drei Episoden den verwitweten Hausarzt Raniero Cotti Borroni, der sein ärztliches Pflichtbewusstsein auch außerdienstlich über alles stellt. Er lässt sich unter keinen Umständen, selbst in intimsten Momenten mit seiner neuen Braut davon abbringen, sich von Patienten Symptome schildern zu lassen und Einnahmeanweisungen für Medikamente zu geben. Vor dem Altar, in der Hochzeitsnacht, im Zugrestaurant hört die junge Gattin und hören die Gäste mit, welche Farbe und Konsistenz … ach, das erspare ich euch lieber.
Der Satz, mit dem Doktor Borroni sich am Telefon meldet, ist in Italien zum geflügelten Wort geworden: „Non mi disturba a fatto … mi dica!“ (Sie stören überhaupt nicht. Worum geht es?) Einen Zusammenschnitt der besten Szenen mit diesem Running Gag seht ihr hier.
Auch der italienische Gatte gibt seine Schwäche, selbst in unpassenden Situationen immer sofort ans Telefon zu gehen, ungeniert zu und bringt mich wieder von meiner Palme, indem er diesen berühmten Satz zitiert. So sind sie nun mal, die Italiener: immer erreichbar, immer disponibel. Jederzeit bereit für ein freudig klingendes „Pronto!“
(Was der Angerufene im Anschluss an das Telefonat vor sich hin brummelt oder vor den physisch Anwesenden kommentiert … Ach, egal, darum geht es hier nicht.)
Titelbild: Symbolbild von Openverse.
Ich musste sehr lachen, liebe Anke. 😄 Du hast es wunderbar in Worte gefasst. Die wortwörtliche Übersetzung von “raccontami tutto” bringt mich jedes Mal aufs Neue an meine Grenzen. “Wenn der Anrufer jetzt ALLES erzählt, dann kann ich das Essen gleich in die Tupperdose verfrachten.”, denke ich mir dann und sehe das entspannte Familienabendessen schon davon schippern. Meist reicht bei uns ein strenger Blick oder ein höfliches “Ist das jetzt dringend?”. Danach wird der Anrufer auf später vertröstet. Aber nach all den Jahren haben wir auch immer wieder diese Situation. 😄
In der Frankfurter S-Bahn ist es übrigens auch Usus, besonders bei den jüngeren Mitfahrern, alles haarklein am Telefon zu erzählen. Immerhin wissen alle Zuhörer dann ganz genau, was beim Gynäkologen herausgekommen ist… 😄 Hab einen entspannten Donnerstag und liebe Grüße, Eva
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Hach, die öffentlichen Verkehrsmittel fehlen mir schon ein bisschen. Da kann man so viel aus dem prallen Leben aufschnappen. 😂
Dass du mit dem Römer ähnliche Situationen durchleidest, dachte ich mir schon beim Schreiben des Textes.
Danke, liebe Eva, hab noch einen entspannten Abend und liebe Grüße nach Francoforte!
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Da knüpfe ich gleich an und gebe zu, dass ich schon sehnlichst einen Konsulatstermin deinerseits erwarte. Die Geschichten, die du auf dem Weg dorthin und vor Ort erlebst, geistern mir immer noch ab und an im Kopf herum. 😄
Viele Grüße in den Süden!
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Du glaubst es nicht, wir haben tatsächlich wieder einen Termin im Juni, ich denke seit Wochen an nichts anderes. 😂 Ob der Besuch wieder so aufregend wird wie damals im März 2021, als Mailand Rote Zone war?
Danke und liebe Grüße aus dem kalten nördlichen Süden! Ich drücke die Daumen, dass ihr es in Frankfurt angenehmer habt!🌞🙋♀️
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Hoffentlich geht alles gut – ganz ohne zona rossa und Feueralarm! Alle Daumen sind gedrückt! 😃
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Grazie, liebe Eva!
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Absolute (und verzweifelte) Zustimmung!
Insbesondere in einem Gespräch mit einer anwesenden Person den Anruf oder eine der vielen anderen fiependen Nachrichten von einer nicht anwesenden Person anzunehmen, das ist für mich der Gipfel der Unhöflichkeit.
Nicht viel anders, als wenn ich plötzlich die Tageszeitung aus der Tasche zöge und zu lesen begänne.
Ich selbst kann in solchen Situationen mein Handy total ignorieren, sehe nicht einmal nach, wer anruft, weil ich sowieso nicht antworten würde.
Das Lustige ist, dass dann das körperlich anwesende Gegenüber oft voll nervös und kirre wird: „Geh doch endlich ran!“
Da haben sich die Kommunikationsprioritäten schon vollkommen verschoben.
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Stimmt, auf diesen Extremfall bin ich hier gar nicht eingegangen, weil ich da auch regelmäßig nervös werde. Vor allem als Angerufener. Ich möchte mich auch viel lieber dem körperlich Anwesenden Gesprächspartner widmen.
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Ich hatte mal eine Freundin, die hat regelmäßig Eifersuchtsszenen gemacht, weil ich in ihrer Anwesenheit nicht ans Telefon gegangen bin.
Sie dachte, ich würde irgendwas oder irgendwen verbergen.
Als ich das Telefon dann auch noch in der gemeinsamen Wohnung ließ, während ich zum Joggen ging (denn was brauche ich dabei ein Telefon?), hat sie mich verlassen.
Begründung: Sie könne niemandem vertrauen, der sein Telefon nicht mitnimmt, sondern es offen (und ohne PIN-Abfrage) herumliegen lässt. Das sei so abnormal, dass ich sicher im Wald ein zweites Telefon vergraben habe, mit dem ich während des Joggens Geheimtelefonate führe.
Und dabei war sie nicht einmal Italienerin.
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Haha, das ist doch mal eine originelle Begründung! Aber es liegt nahe, so zu denken. Wenn man sieht, dass der Durchschnittslebensgefährte das Handy immer bei sich hat, selbst auf dem Klo. 😉
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😄😄
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😅😆😆
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Zu deiner letzten Bemerkung fiel mir sofort Eugen Roths Ferngespräch ein:
„Ein Mensch spricht fern, geraume Zeit,
Mit ausgesuchter Höflichkeit,
Legt endlich dann, mit vielen süßen
Empfehlungen und besten Grüßen
Den Hörer wieder auf die Gabel
-Doch tut er nochmal auf den Schnabel
(Nach all dem freundlichen Gestammel)
Um dumpf zu murmeln: Blöder Hammel!
Der drüben öffnet auch den Mund
Zu der Bemerkung: Falscher Hund!
So einfach wird oft auf der Welt
Die Wahrheit wieder hergestellt.“
Liebe Grüße von der Oder 😉
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Herrlich, das kannte ich nicht. Vielen Dank! Liebe Grüße an dich!
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Ich habe mal in Italien bei einem Tisch voller Männer beobachtet, wie einer telefonierte und zwar recht lang und keiner am Tisch in dieser Zeit sprach.
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Da waren die Tischgenossen sehr rücksichtsvoll und wollten das Gespräch nicht stören. Oder sie waren selbst interessiert daran, es zu verfolgen. Vielleicht war ja der gemeinsame Chef am anderen Ende? 😉
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Na das kann ich ja leiden. Zum Glück wissen die meisten, dass ich ein Telefon-Muffel bin und probieren es gar nicht erst.
Die Telefon-Kultur verändert sich ja auch gerade. Es gibt viel mehr Text-Kommunikation (vorab) als nervende Kaltanrufe.
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Das stimmt natürlich. Und deshalb meint man, wenn einer doch eiskalt direkt anruft, ist es nicht nur wichtig, sondern auch absolut dringend. 😅
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Am wenigsten mag ich Anrufe aus der Schule … das ist meist nichts gutes
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Stimmt. Na bei uns ist bald wieder Sommerpause, also keine Anrufe aus dieser Ecke zu befürchten.
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Wunderbar. Ich habe mich köstlich amüsiert beim Anschauen des Zusammenschnitts. Und ich habe mich an einen Urlaub in Italien vor vielen Jahren erinnert. Es war die Zeit, in der noch nicht jeder ein Handy hatte. Wir waren in Italien in einem Restaurant, in dem mehrere Personen ununterbrochen telefoniert haben, während andere in Ruhe essen sollten. Ich fand das unverschämt und finde es heute immer noch ziemlich ignorant, wenn Leute keine Rücksicht darauf nehmen, was um sie herum passiert und die intimsten Dinge lautstark zum Besten geben. Aber ich muss auch zugeben, dass es mir selbst schwerfällt, nicht aufs Handy zu schauen, wenn ich eine Nachricht bekomme. Jetzt habe ich auch noch eine Uhr, die anzeigt, wenn eine Nachricht reinkommt. Das macht es nicht besser.
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Mit dieser Uhr hilft es also auch nicht mehr, das Handy in der Tasche zu lassen? Da lobe ich mir meine kleine, mechanische Armbanduhr, ein Erbstück der Schwiegermutter und mehr Schmuck als Zeitmesser. Für die Uhrzeit schaut man schließlich aufs Handy! Ja, liebe Roswitha, es ist ein Fluch. Wenn früher Anrufer nervten, sind es jetzt die Nachrichtenschreiber. 🙈 Aber letztlich sind es immer wir, die wir erreichbar sein wollen.
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