Vier Generationen und ein Einkaufswagen

Anders als bei einem Stadtbummel bin ich im Supermarkt nicht auf Begegnungen aus. Angestrengt auf meinen Zettel schauend, die Regale absuchend und zwischendurch auf die Uhr schielend, haste ich durch die Reihen. Ich hoffe, keinen entfernten Bekannten zu treffen, mit dem ich stehenbleiben und Smalltalk machen muss, obwohl ich mich nicht einmal an seinen oder ihren Namen erinnere. Ohne Zweifel bin ich eine unsympathische Einkaufende, nicht nur im Angesicht von Supermann. Sobald ich mich an die Kasse stelle, greife ich zum Smartphone und checke meine Chats, mit der inneren Ausrede, es könnte noch eine daheim Gebliebene einen dringenden Wunsch haben und dann beleidigt sein, wenn ich ihn nicht erfülle.

Heute, ich weiß nicht, was anders ist, huscht mir plötzlich ein Lächeln übers supermarktgeplagte Gesicht. Als ich um die letzte Ecke biege, da, wo Nüsse und Kartoffelchips Wand an Wand mit Spumante und Prosecco um Kundschaft buhlen, stolpere ich beinah über einen Buggy, der mir entgegenkommt und wie ich am Snack-Regal die Kurve sehr knapp umfährt. Also nicht der Buggy, sondern die Person, die ihn schiebt. In diesem Moment achte ich nicht auf sie, denn mein Blick hängt an dem niedlichen kleinen Persönchen, das durch die Gegend geschoben wird. Ein etwa neun Monate altes Kind strahlt mich an und ich kann nicht anders, als zurückzustrahlen.

Mit Kleinkindern bin ich kommunikativ aufgeschlossener. Ich mag es, sie anzustaunen, zu zwinkern, mit Blicken zu spielen. Ihre Reaktionen sind ungezwungen, ehrlich und immer positiv. Vielleicht will mein Unterbewusstsein sich damit rühmen, dass noch kein Kind geweint hat, weil diese komische Frau es angestarrt hat. Bei etwas älteren Kindern, die schon klar und deutlich sprechen können, bin ich nicht mehr so mutig. Das mag auch an der alten Geschichte aus meiner eigenen Kindheit liegen, die mir meine Eltern noch als Erwachsene immer wieder gern aufs Brot schmierten. Ich hätte meine Mutter im Supermarkt, der damals noch Kaufhalle hieß, an der Kasse stehend lauthals aufgefordert: „Gucke mal, eine Hexe!“ Meine Mutter, hochrot vor Scham, hätte mich leise, aber bestimmt zurechtgewiesen: „Was sagst du denn da, es ist nur eine Frau mit roten Haaren.“ Ich soll darauf geantwortet haben, wieder gut hörbar für die Betroffene: „Findet die denn rote Hexenhaare schön?“ Ja, rote Haare waren damals bei uns eine Ausnahme, und wer sie sich so auffällig färbte, musste in den Augen von Kindern einen an der Waffel gehabt haben. Es hieß schließlich: „Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Zeitgenossen.“ Nun trage ich derzeit keine feuerroten Hexenhaare, sondern ein edles Burgunderrot auf dem Haupt. Ob Kinder das auch so sehen?

Als ich später an der Kasse stehe und nachdem ich ein letztes Mal kontrolliert habe, dass keine Extra-Wünsche eingetrudelt sind, schaue ich mich um. Ein junges Mädchen beziehungsweise eine junge Frau, im Italienischen würde es Ragazza heißen, schiebt einen übervollen Einkaufswagen und unterhält sich dabei mit einer Frau, vielleicht ihre Mutter. Ja, ganz sicher ihre Mutter. Sie sehen sich unverkennbar ähnlich. Die gleiche Frisur, die gleiche Haarfarbe. Rotbraun. Plötzlich taucht der Buggy wieder auf, er wird hinter die beiden geschoben. Am Lenker eine ältere Frau, vermutlich die Großmutter des Kindes. Dann erkenne ich, dass alle drei Frauen und das Kind zusammengehören. Moment mal: Sollte das junge Mädchen, die junge Frau, etwa die Mutter des Kleinen sein? Ich schaue nochmal näher hin. Anfang, Mitte zwanzig könnte sie sein. Auch ihre Mutter und die ältere Dame, die das Kind bugsiert, sehen sich ähnlich. Wieder der fast gleiche Haarschnitt, nur dass die ältere der beiden in den Farbtopf gegriffen und ihren Schopf rotblond gefärbt hat. Nicht der feschen Frisur wegen, sondern ganz objektiv betrachtet, schätze ich sie auf höchstens siebzig. Vier Generationen und ein Einkaufswagen, so etwas sieht man nicht aller Tage. Ich ertappe mich dabei, wie ich nachrechne: Die Urgroßmutter könnte Anfang siebzig sein, ihre Tochter, also die Großmutter, fünfzig, deren Tochter, die Mutter des Kleinkindes, vielleicht fünfundzwanzig. Warum finde ich diese Konstellation so erstaunlich? Nur, weil ich selbst in Italien neben meinem Mann und unseren zwei Töchtern keine Familie habe? Oder weil ich als Mutter zweier Teenager bereits die älteste noch lebende Generation bin, die Urgroßmutter meiner Töchter heute 125 Jahre alt wäre und wenn sie noch lebte, garantiert nicht mit in den Supermarkt käme? Nein, was mich beindruckt, ist, dass die vier gemeinsam den Lebensmitteleinkauf bestreiten. Wohnte ich mit allen unter einem gemeinsamen Dach, würde ich allein zum Supermarkt gehen, meine Mutter mit dem Kind auf den Spielplatz schicken und die Omama dürfte sich erholen, es sei denn, sie hätte Lust, einen Kuchen zu backen. „Ottimizzare i tempi“, nenne ich diese Einsatzplanerei dann. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit meinem Mann gemeinsam einkaufen war. Zeitverschwendung wäre das!  

Das Viererteam im Supermarkt zeigt mir, dass es anders geht. Während ich angesichts der Menge meiner Einkäufe auf dem Band schon vor dem Einpacken und Zahlen in Hektik gerate, stapeln Mutter und Großmutter ihre hundert Sachen in Seelenruhe gemeinsam in die mitgebrachten Kisten. Urgroßmutter nimmt derweil lässig das Baby aus dem Buggy, hält es mit geübtem Arm vor dem Bauch, so dass es den anderen beim Einpacken zusehen kann. Ich mustere es neugierig: Hat er oder sie auch rötliche Haare? Das bleibt ein Geheimnis, denn die stecken unter einer weißen Mütze mit Hasenöhrchen. Das Kleine sieht so zuckersüß damit aus, dass ich wieder lächeln muss, und dieses Lächeln bleibt mir noch ins Gesicht gemeißelt, als ich längst mit meinen sieben Einkaufsbeuteln bepackt und behangen allein zum Auto trabe.    

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

16 Kommentare zu „Vier Generationen und ein Einkaufswagen

  1. Es sind doch immer wieder die alltäglichen Dinge, die uns zum Nachdenken bringen. Ein schöner Gegenentwurf, den du da beobachtet hast. Und eine Seltenheit, das finde ich auch. Zu sehen, dass dies ganz entspannt funktionieren kann, ist doch sehr schön. Ich gehe übrigens auch ab und zu mit meinen Töchtern und den Enkelinnen einkaufen. Da fehlt allerdings eine Generation. Damit kann ich nicht mehr dienen. Dir einen schönen Abend.

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    1. Ja, es ist heute schon selten, dass alle vier Generationen überhaupt zusammentreffen. Meist ist dann die älteste schon nicht mehr fit für gemeinsame Unternehmungen.
      Danke und hab einen guten Start in die Woche!

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  2. Was für eine spannende Beobachtung, liebe Anke. 4 Generationen auf einen Streich. Das sieht man auch nicht alle Tage, besonders fernab von Familienfeiern. 😃 Da wird der Einkauf doch beinahe zum Vergnügen! Komm gut in die Woche und liebe Grüße, Eva

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    1. In Italien stehen die Chancen sicherlich besser als in Deutschland, dass alle auch zusammen oder ganz in der Nähe wohnen. Stimmt, mein Einkaufserlebnis war von guter Unterhaltung geprägt, einfach dadurch, das nette Gespann zu beobachten. Danke und dir auch einen guten Wochenstart, liebe Eva!

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  3. Die Wochenendeinkäufe mache ich immer zusammen mit unserer Tochter. Was meinen Mann betrifft, so denke ich wie du, Anke: ein gemeinsamer Einkauf wäre Zeitverschwendung und am Ende würde die Hälfte wegen seiner Ungeduld fehlen. Wenn ich zurück denke, war ich jemals mit meiner Großmutter zusammen einkaufen? Ich glaube nicht. Sie würde übrigens am 27.04. einhundertdreißig Jahre, meine Omi. Liebe Grüße, Bettina.

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    1. Wenn ich eine Tochter mitnehme, was selten vorkommt, da sie im Allgemeinen nicht am Supermarktgedränge interessiert sind, dann gebe ich viel mehr Geld für ihre Sonderwünsche aus und vergesse meist im Gegenzug auch Dinge von meiner Liste. Nicht effizient, gar nicht!😉
      Das ist ja ein noch größerer Altersunterschied bei euch. Meine Berliner Großmutter, 1899 geboren, war sehr stolz: „Ich stamme aus dem vergangenen Jahrhundert“, sagte sie immer.
      Danke und liebe Grüße nach Frankfurt/Oder!

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  4. Nette Geschichte, ich hatte zweimal im Leben die Gelegenheit beim Schaffen von 4-Generationen-Fotos dabei zu sein. Einmal weil der Bruder sehr jung Vater wurde und der Opa noch lebte und dann noch mal, mit meinen Kindern, weil meine kleine Omma steinalt wurde.

    Rein rechnerische müsste dass sogar häufiger gehen mittlerweile, nur die Jugend lässt sich mehr Zeit

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    1. In unserer Familienkonstellation habe ich, die ich ein extremer Nachzügler war, die Bekannten meiner Mutter schüttelten den Kopf, mir auch schon zu viel Zeit gelassen … Obendrein ins Ausland gezogen. Und mit Italien in ein Land, wo es immer noch eher normal ist, bei seiner Familie zu bleiben. Wie die das machen, einen ansprechenden Job im Umkreis von 50 Kilometern zu finden und neue Erfahrungen zu machen, keine Ahnung. Irgendwie scheint es unvereinbar: Familien-Idylle über Generationen oder unabhängig und individuell zu leben.🙁
      So ein schönes Vier-Generationen-Foto mit vier Frauen konnte meine Schwester noch mit unserer Mutti machen: ihre Tochter hat eine bereits vierzehnjährige Tochter.

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    1. Liebe Marie, ich wünsche uns viele so nette Begegnungen und sympatische Momente. Vielleicht hilft es ja, einfach immer einen Tick offener zu sein, auch oder gerade weil man gerade gedanklich in seinem eigenen Alltag gefangen ist. Herzliche Grüße an dich!

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