Da Capo

Das neue Jahrtausend hatte gerade begonnen, die Welt war nicht untergegangen, aber in meinem Leben ging es drunter und drüber. Ich hatte es so gewollt. Aus meiner beschaulichen Leipziger Zweizimmerwohnung war ich im Januar 2001 in eine chaotische Hamburger Studenten-WG gezogen, um bei einer Zeitschriftenredaktion ein Praktikum zu machen. Ich hatte bei der Bank unbezahlt freigenommen und nicht viel mehr als sieben Sachen in einen Koffer gepackt. Meine Musica Italiana musste mit! Es gab in dem Zimmer, in dem ich wohnen würde, ein Radio mit CD-Player.

Mein damaliger Fidanzato (fester Freund) hatte mir gerade zu Weihnachten eine CD eines italienischen Musikers geschenkt. Michele Zarrillo, der Name sagte mir damals so wenig wie euch vermutlich heute. Diese CD kam in den Koffer, genau wie die von Nek und Laura Pausini, mit deren Liedern ich mich in ihre wunderbare Sprache hineinhörte und von Italien und der Liebe träumte. In kalten Hamburger Nächten, in denen ich vor Aufregung nicht schlafen konnte, weil ich an meine journalistischen Rechercheaufgaben dachte ‒ Wann erreiche ich die Standesbeamtin in Las Vegas endlich am Telefon und wird sie mir Brauchbares erzählen und auch ein ordentliches Foto von sich schicken? ‒ hörte ich „La notte dei pensieri“ (Die Nacht der Gedanken). Von den Gedanken in Zarrillos Liedern verstand ich wenig, aber dass von Liebe, Schmerz, Sehnsucht, Hoffnung und Enttäuschung die Rede war, soviel schon. Musikalisch gefiel mir, was ich hörte. Wie poetisch die Texte waren, konnte ich damals nicht einschätzen. Jetzt, während Michele Zarrillos Konzert in Varese, kamen mir ein bisschen die Tränen bei „L’elefante e la farfalla“ (Der Elefant und der Schmetterling). Und zwar nicht, weil ich an ihn, meinen ersten italienischen Fidanzato, oder an meinen Mann, als er mir noch den Hof machte, oder an sonst etwas selbst Erlebtes dachte. Nein, dieser Song berührt, weckt Empathie über den eigenen Erlebnishorizont hinaus. Wie ein guter Film. Er erzählt von Gefühlen, die man nicht selbst erlebt haben muss, auf eine Art, dass sie nachvollziehbar werden. In diesem Fall ist es der Schmerz unerwiderter Liebe, den einer empfindet, der sich unzulänglich fühlt gegenüber der von ihm verehrten, in seinen Augen perfekten Person. Das ist kein Hitparaden-Pop, das ist zeitlose Kunst, verpackt in die Worte einer Fabel. Obwohl Zarrillo seine größten Erfolge vor dreißig Jahren feierte, legt er auch heute einen bravourösen Auftritt hin: allein am Klavier, inmitten der stimmungsvoll ausgeleuchteten Bühne und mit nach wie vor starker Stimme. Nein, damit hatte ich nicht gerechnet: dass an diesem Abend Emotionen hochkommen, einfach so und nicht aus selbstverliebter Nostalgie.  

Ich bin froh, dass ich das Konzert von Michele Zarrillo in unserem Stadttheater besucht habe. 2018 war bereits Nek in Varese zu Gast gewesen, mit dessen Liedtexten ich die ersten italienischen Worte und Redewendungen lernte. Jetzt fehlt mir aus der Reihe meiner frühen Idole nur noch Laura Pausini. Ich fürchte, dass die Diva der italienischen Popmusik nicht zu mir nach Varese kommen wird. Ich werde zu ihr, in eines der großen Stadien fahren müssen. Vor allem muss ich mich in ihrem Fall rechtzeitig um die Karten kümmern.

Im Jahr 2001 kehrte ich nach drei Monaten Praktikum in die Bank nach Leipzig zurück, aber nur für die vertragsgemäße Kündigungsfrist. Ich hatte meinen gutbezahlten, seriösen Banker-Job noch von Hamburg aus an den Nagel gehängt, denn ich wusste, dass ich meinem Herzen folgen musste. „L’amore vuole amore” (Die Liebe braucht Liebe). Auch die Liebe zum Schreiben braucht das Schreiben. Dass mein Weg ein halbes Jahr später nach Italien führte, war ein schöner Zufall und ein bisschen Schicksal. Und es war die italienische Musik, die mich dorthin begleitete.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

24 Kommentare zu „Da Capo

  1. Schön das zu lesen :). Du hast mich gerade zurück katapultiert in 2001 – da bin ich nach Italien gezogen und die CD´s von damals sind mir immer noch so vertraut. Wenn ich eines der Lieder heute höre, dann bin ich sofort wieder auf der Fähre nach Elba.

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    1. Nicht wahr, so funktioniert das, und ich finde es wunderbar. Schade nur, dass ich keinen (intakten) CD-Player mehr habe. Klar kann man heutzutage alles irgendwo abrufen und streamen, aber es ist nicht dasselbe.
      Herzliche Grüße nach München!

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      1. Absolut, ohne Zweifel. Ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich bei allen fremdsprachigen Songs immer die Texte verstehen will. Natürlich bleibt uns damit viel vorenthalten, aber stell‘ dir mal vor ab einem Tag X würden wir (z.B.) alle Texte synchron übersetzt bekommen. Darüber werde ich mal nachdenken …

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      2. Da habe ich ja was losgetreten … 😉 Och nö, lieber nicht. Allein schon, weil die wörtliche Übersetzung selten trifft, was gemeint ist oder es sowieso der eigenen Interpretation überlassen ist. Nächster Schritt: Dein persönlicher Synchronübersetzer kennt deine Situation, Interessen und Hirngespinnste längst und übersetzt dir das, was du verstehen willst. NEIN, STOOOPPP!

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      3. Mach das, du bist der Spezialist für Zukunftsentwürfe! 🤓 Gib Bescheid, wenn ich beitragen kann.
        Danke und Grüße zurück aus dem ebenfalls trüben, grauen, kalten Norditalien. (Und sowas nennt sich Feiertag bei uns!)

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  2. Man wird halt gemeinsam älter, das mag auch hinsichtlich der Musik gelten. Und wenn das Konzert nicht enttäuscht hat, desto schöner!

    Muss grinsen über Dein Praktikum und die Rückkehr zur Kündigungsfrist. Ich hatte damals mein Referendariat nach einer Woche Praktikum gekündigt, Schlüssel in die Post und gut war’s. 🙂

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