Änderung im Abendprogramm: Pfingsten 1982

Eigentlich sollte ich um diese Zeit bereits im Bett liegen, aber ich stehe im Schlafanzug in der Wohnzimmertür und ziehe meinen Abgang in die Länge. Schließlich muss ich am nächsten Morgen nicht in die Schule. Nur noch einen Moment, die „Aktuelle Kamera“ ist gleich zu Ende. Ich möchte noch allzu gern sehen, was es danach Spannendes für die Erwachsenen gibt. Bei der letzten Ansage des Nachrichtensprechers geht es nicht um die Planerfüllung der LPG-Bauern in der Landwirtschaft oder eine neue Friedens-Initiative der Werktätigen im Halbleiterwerk. Die Mitteilung lautet, dass eine bekannte Schauspielerin gestorben sei. Eine, von der ich noch nie gehört hatte. Sie sei in Paris gestorben, und sie war erst 43 Jahre alt. Wunderschön war sie. Man hatte kurzfristig das Abendprogramm geändert und würde im Anschluss an die Nachrichten einen ihrer Filme zeigen. „Ach Mami, darf ich noch ein wenig aufbleiben?“, versuche ich es mit zuckersüßer Stimme. Als die ersten Sequenzen über den Bildschirm laufen, schüttelt meine Mutter energisch mit dem Kopf. Da sonnt sich eine Frau nackt im Gras, bis ein Papierdrachen abstürzt und genau auf ihrem Hinterteil landet. Das ist kein Film für dich, mein Kind. Geh bitte ins Bett.  

Es war Pfingsten 1982 und ich mit den Eltern zu Besuch bei meiner Schwester, die damals in Cottbus wohnte. Ich war zehn Jahre alt, erinnere mich bis heute an diese Nachricht im DDR-Fernsehen und die ersten Szenen des Psychothrillers von Claude Chabrol „Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen“. Am 29. Mai 1982, vor vierzig Jahren, starb Romy Schneider in Paris. Vielleicht an zu vielen Tabletten und Alkohol, oder einfach an gebrochenem Herzen, knapp ein Jahr nach dem tragischen Tod ihres damals 14-jährigen Sohnes David. Als einige Jahre später das DDR-Fernsehen der Schauspielerin eine Mittwochsreihe widmete, durfte ich ihre Filme sehen. Ich weiß nicht mehr genau, welche Beiträge in der Reihe gezeigt wurden. „Die Dinge des Lebens“ sicherlich, und „Das Mädchen und der Kommissar“ ‒ ihre besten Filme mit dem Regisseur Claude Sautet. Vielleicht auch „Das alte Gewehr“ (hiervon gab es die in der DDR synchronisierte Originalfassung, während für die BRD unter dem Titel „Abschied in der Nacht“ unliebsame, zu brutale Stellen geschnitten und sogar extra anders gedreht wurden – interessanter Hintergrund dazu auf Wikipedia.) Ich bilde mir ein, dass auch der frühe bittersüße Film „Monpti“ mit Horst Buchholz dabei war. Eventuell auch „Der Swimmingpool“ mit Alain Delon, Romys spektakuläres Comeback nach der Geburt ihres Sohnes und dem Versuch, ein bürgerliches Hausfrauenleben an der Seite des deutschen Regisseurs Harry Meyen im Berliner Grunewald zu führen. In der Mittwochs-Filmreihe lief keiner der drei Sissi-Filme. Die sah meine Mutter erst in der Wendezeit nachmittags beim ZDF. Auch daran erinnere ich mich genau: Ich kam aus der Schule, und da liefen diese Schmonzetten. Wären sie nicht mit Romy gewesen, hätte ich meine arme Mutter, die nur krankheitsbedingt Zeit zum nachmittäglichen Fernsehen hatte, womöglich angepflaumt, dass sie sich so schnell von der platten westdeutschen Unterhaltung einlullen lasse. Irgendwann sah ich die Sissi-Trilogie auch, natürlich. Und ratet mal, mit welcher Rolle mein Mann in Italien meine Lieblingsschauspielerin verband, als ich sie ihm gegenüber erstmals erwähnte.

Ah sì, anche mia madre guardava sempre Sissi.“ Ach ja, meine Mutter hat auch immer Sissi geschaut.

Mit der Mittwochsreihe ohne Sissi-Filme entflammte Ende der 80er-Jahre in der DDR mein Romyfieber. Mein Vater besorgte mir ‒ über gute Beziehungen zu den Angestellten in der Buchhandlung ‒ das große, reichbebilderte Buch „Romy Schneider Bilder ihres Lebens“*, das in der DDR anlässlich ihres fünften Todestages 1987 erschienen war. Im Laufe der Jahre sah ich nicht nur fast alle ihre Filme, bis auf zwei oder drei, die ich nirgends auftreiben konnte. Ich las dutzende Bücher, besuchte Ausstellungen, das Haus ihrer Kindheit im Mariengrund in Schönau bei Berchtesgaden, vertiefte mich in das Leben dieser einmalig begnadeten Schauspielerin, die im Privaten vom Pech verfolgt war und an ihrem übergroßen Glücksanspruch und der Suche nach immerwährender Intensität scheiterte. Als ich auf einer Parisreise in den 90er-Jahren den Ausflug nach Versailles verpasste, überzeugte ich meinen bedauernswerten Begleiter, stattdessen die Straße und das Haus aufzusuchen, in der Romy zuletzt gewohnt hatte und am Morgen des 29. Mai 1982 im Wohnzimmer von ihrem Lebensgefährten Laurent Pétin tot aufgefunden worden war. Die Adresse hatte ich vor der Reise vorsorglich aus meinem Romy-Buch* herausgeschrieben. Was mir noch fehlt, ist die Villa am Luganer See, wo Romy und Delon ‒ auf Anordnung von Romys Stiefvater Hans-Herbert-Blatzheim ‒ am 22. März 1959 eine Verlobung feierten, um ihre Beziehung dem deutschen Anstand gemäß zu legalisieren. Ob die Villa Maro in Morcote bei Lugano, deren Adresse ich nie ausfindig machen konnte (wer da etwas weiß, der melde sich bitte bei mir), noch existiert? Überhaupt: Lugano in der Schweiz. Als ich als Teenager in der DDR die schwarz-weißen Aufnahmen des Traumpaares anhimmelte, hätte ich wer weiß was gegeben, um einmal dort in dieser Gegend sein zu können. Lugano war so unerreichbar für mich wie der Mond. Jetzt lebe ich in Norditalien und arbeite im Tessin ganz in der Nähe, aber wir fahren trotzdem nur alle Jubeljahre mal hin. So ist das.

Romy Schneider Denkmal in Schönau am Königsee. Bis zu ihrem 19. Geburtstag lebte Romy Schneider mit ihrer Mutter Magda im Haus „Mariengrund“ in der Schönau.

In den letzten Jahren, nach unserem Urlaub in Schönau, habe ich es mit Romy und ihrem Andenken etwas schleifen lassen. Heute Abend schicken wir unsere Kinder ins Bett, und ich werde mir mit meinem Mann „Gli innocenti dalle mani sporche“ (Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen), eine französisch-italienisch-deutsche Koproduktion (FSK 16) ansehen.

Filmen – das ist für mich das wahre Leben … Ich kann nichts im Leben, aber alles auf der Leinwand.

Romy Schneider

* Zitiert aus: „Romy Schneider Bilder ihres Lebens“, entworfen von Renate Seydel und gestaltet von Bernd Meier, Henschelverlag Berlin 1987.

Romy Schneider im TV: Der ORF III widmet der 1938 als Tochter des österreichisch-deutschen Schauspielerehepaares Wolf Albach-Retty und Magda Schneider in Wien geborenen Künstlerin den heutigen Samstagabend mit zwei Dokumentationen. Und bei arte gibt es am Mittwoch „Die Spaziergängerin von Sans-Souci “, Romys letzten Film an der Seite von Michel Piccoli, der 1982 ein halbes Jahr nach ihrem Tod in die Kinos kam. Noch mehr aktuelles Programm mit und über Romy findet ihr hier und hier.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

21 Kommentare zu „Änderung im Abendprogramm: Pfingsten 1982

  1. Ein ganz wunderbarer Beitrag, liebe Anke. 😃 Ich wuchs ganz klassisch mit den Sissi Filmen auf, die meist an Weihnachten liefen. Erst danach beschäftigte ich mich mit Romy Schneider etwas intensiver. Ihre bildhübsche Tochter schrieb vor nicht allzu langer Zeit ein Buch über das Leben ohne ihre Mutter „Die Schönheit des Himmels“. Viele Grüße aus Frankfurt und ein angenehmes Wochenende, Eva

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  2. Liebe Anke, ja – Romy Schneider – was für eine Frau, was für eine Tragödie. Wieviel Schmerz musste sie verkraften. Sie war und ist auch für mich der Inbegriff einer schönen Frau.

    Vor kurzem hat ein befreundeter Fotogalerist in Berlin – Norbert Bunge – eine Ausstellung über den US-amerikanischen Fotokünstler Will McBride gezeigt. Dort waren auch private, sehr besondere Fotos von Romy Schneider zu sehen. Will McBride hatte im Jahr 1964 einen Auftrag des Magazins TWEN, damals sehr angesagt. Er reiste nach Paris und portraitierte Romy Schneider privat in ihrer Wohnung. Es war gerade keine ganz leichte Zeit für sie. Hinter ihr lag die Trennung von Alain Delon und wohl auch ein Suizidversuch.

    Die Fotos von Will McBride kann ich insgesamt sehr empfehlen und auch das wunderbare Buch I, WILL McBRIDE, mit Fotos der 50er- bis 70er Jahre. Es erzählt so viel über die bundesrepublikanische Geschichte und die Veränderungen insbesondere in den späten 60er-Jahren.

    Er hatte übrigens auch eine besondere Beziehung zu Italien. Siehe auch mein Blogbeitrag.

    https://mitstiftundtastatur.wordpress.com/2022/02/18/fotos-die-geschichten-erzahlen/

    Ganz liebe Grüße Roswitha

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  3. Am meisten mag ich die Filme aus Romy Schneiders jungen Jahren, genau wie unsere Tochter, die mich inzwischen in Wissen und Leidenschaft für sie weit überflügelt hat. Wir hatten uns schon darüber ausgetauscht, dass auch wir mit unserer Vorliebe für das Berchtesgadener Land, Orte ihrer Kindheit und Gedenkorte immer wieder gern besuchen. Dazu gehört auch das Grab ihrer Mutter in Schönau.
    Liebe Grüße Bettina

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    1. Liebe Bettina, ich hatte an dich gedacht, als ich den Beitrag schrieb. 😊 Bist du eigentlich auch schon zu DDR-Zeiten auf Romy gestoßen? Wie schön, dass du dein Interesse deiner Tochter vererben konntest. Hab einen schönen Sonntag!

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      1. Mein Interesse für Romy weckten meine Großmutter und meine Mutter, die sich immer wieder, soweit es möglich war, die Filme „Die Deutschmeister“ oder „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ u.a. ansahen. Meistens Sonntags Nachmittags, wenn die ganze Familie vor dem Fernseher saß. Wenn wir im August wieder nach Berchtesgaden fahren, werde ich an dich denken, liebe Anke. Danke, auch dir noch einen schönen Sonntag!

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  4. Wie schön du das geschrieben hast! Ganz viele erinnert mich dabei auch an mich. Ungefähr gleich alt wie du bin ich auch irgendwann auf all die alten Filme von ihr gestoßen. Meine Mutter hat sie sehr gemocht, was wahrscheinlich auch daran lag dass auch meine Mama ein paar Jahre in Frankreich gelebt hat und den Verlust des Kindes sehr gut nachempfinden konnte. Eine ganz wunderbare Schauspielerin und ich werde mir jetzt einen Bildband von ihr ansehen. Liebe Grüße

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    1. Hallo Mitzi, es freut mich, dass ich auch bei dir Erinnerungen wecken konnte und du mal wieder zu einem Bildband von Romy gegriffen hast. Liebe Grüße zurück!

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    1. Gerne, liebe Marie. Die heile Welt wollte man den Menschen nach dem Krieg vorspielen. Irgendwo auch verständlich, dass die Sehnsucht danach bestand. Danke fürs Lesen und einen schönen Sonntag dir!

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  5. Danke für den Beitrag, nun war Romi als Kind nicht ganz so mein Fall, aber ich kann mich gut an das Gefühl erinnern, noch etwas von den Filmen im limitierten Fernsehen „mitschauen“ zu dürfen. Rühmann, Gelentano, Louis de Funes, etc

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    1. Und wir hatten es gut insofern, dass die „richtigen“ Filme schon um 20.00 Uhr begannen, wenn ich mich nicht täusche, nach der halben Stunde Aktuelle Kamera. Hier in Italien schaue ich selten einen Film live am Abend, die beginnen erst 21.30 Uhr, das ist selbst Erwachsenen zu spät.

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  6. Das hast Du richtig schön geschrieben, auch für Nicht- Fans. 🙂 In Lugano haben doch seinerzeit viele aus Film und Fernsehen gewohnt, da müßte vielleicht sdogar was über ein Tourismusamt in Erfahrung zu bringen sein, kann ich mir vorstellen. Vielleicht bieten die sogar Promi- Touren an?
    Liebe Grüße!

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    1. Na klar, ich muss mich mal aufraffen und Erkundungen anstellen. Von einer Romy-Tour in Berlin habe ich gerade online aus der Zeitung erfahren. Vielen lieben Dank, Herr Ballblog, fürs Lesen und dein Interesse, auch als Nicht-Fan! 😉

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