Vom Kugelschreiber, den es nicht gibt

Morgen beginnt in Italien das neue Schuljahr. Ehe man sich versieht, sind auch drei Monate Ferien plötzlich um. Bereits seit der zweiten Ferienwoche, also mitten im Juni, versucht unser Supermarkt, den kleinen Geschäften das Geschäft mit Schreibwaren streitig zu machen. Ich kann nur müde lächeln, wenn ich in sommerlicher Urlaubsvorfreude meinen Wagen voller Obst, Grillgut, Bier und Eis an den Auslagen mit Heften, Ordnern, Stiften und Co. vorbeischiebe. Das ist doch noch sooo lange hin. Es muss sich ungefähr so anfühlen wie in Deutschland Ende August, wenn die ersten Lebkuchen und Schokoladenweihnachtsmänner Einzug in die Regale halten. Und während ich Woche für Woche die immer aufdringlicheren Angebote ignoriere, ist es plötzlich so weit, und ich kann dem Unausweichlichen nicht mehr ausweichen. Ein paar einfache Dinge wie Fünferpacks kleinkarierte Hefte oder ein Set Filzstifte kaufe ich schon mal im Supermarkt. Für die speziellen Dinge gehe ich zum Spezialisten. Zu unserem Schreibwarenhändler des Vertrauens, um es auf italienische Art auszudrücken. Der versteht auch die ausgefallensten Begriffe auf der Materialliste, die für aus anderen Welten stammende Mütter wie mich böhmische Dörfer sind. Unser Schreibwarenhändler, einer von dreien im Ort, ist der Netteste von allen. Wir nennen ihn Signor Gentile. Seine aufopferungsvolle Geduld ist in meinem Fall, die ich nicht alles verstehe, und im Fall meiner Tochter, die sich schwer entscheiden kann, von klarem Vorteil. Neulich wünschte sie sich einen Kugelschreiber mit drei Farben. Kein Problem, dachte ich, als wir einen solchen verlangten. Signor Gentile holte zwei aus dem Regal und legte sie vor uns hin. Natürlich führte er sie auch vor. Einer schrieb blau, rot und schwarz. Das war die Kombination, die ich erwartet hatte. Der andere war eine Sonderedition und schrieb lila, pink und grün. Für mich war die Sache klar: Ein Kugelschreiber sollte blau, rot oder schwarz schreiben. Meine Tochter allerdings starrte die beiden Stifte an und war offensichtlich unentschlossen.

„Na, welchen möchtest du?“, fragte Signor Gentile geduldig.

Kein Wort kam über ihre Lippen, nur ein genuscheltes „Boh …“, was so viel bedeutet wie „Keine Ahnung.“

„Nun sag schon“, drängelte ich, „welche Minen brauchst du?“

Signor Gentile lächelte wissend, spannte mich noch einen Moment auf die Folter, dann erklärte er: „Sie braucht die klassischen Kugelschreiberminen. Aber ihr gefällt das lila Gehäuse der Sonderedition besser als das blaue.“

Bingo. Meine Tochter nickte schuldbewusst. Da gab es keine Lösung. Oder doch?

Wieder lächelte Signor Gentile. Er griff zu dem Stift mit lila Gehäuse, drehte es ab, tat das gleiche mit dem Gehäuse des anderen Stifts, und setzte beide neu zusammen.

Töchterlein strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Sie hatte jetzt die klassischen Minen im feschen lila Gehäuse.

„Aber verrate es nicht deinen Freunden“, flüsterte Signor Gentile augenzwinkernd, „die kommen dann zu mir und wollen alle so einen Kugelschreiber, den es eigentlich gar nicht gibt.“

Signor Gentile weiß, was seine kleinen Kunden und Kundinnen wünschen. Und wenn nicht, dann ist er bereit, die notwendige Zeit und Mühe aufzubringen, um es herauszufinden. Steht man vor zwei oder drei Alternativen, holt er garantiert eine vierte aus der Ecke. Führt alle vor, erklärt, beschreibt die Unterschiede. Und wenn es zum Schluss ans Bezahlen geht, staune ich oft, wie günstig die Dinge sind. Sicher kann er bei Fünferpacks von Heften nicht mit dem Supermarkt mithalten, bei allem anderen schon. Wie er das macht? Ich weiß es nicht. Seine nette Art bringt ihm jedenfalls treue Kunden wie uns. Wann immer wir unterwegs an einer Cartoleria vorbeikommen und ich frage, ob jemand etwas braucht, fällt meinen Töchtern garantiert etwas ein. Doch ehe ich das fremde Schreibwarengeschäft betreten kann, höre ich: „Aber wir gehen zum Signor Gentile!“

Natürlich, das machen wir!

Titelfoto: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

36 Kommentare zu „Vom Kugelschreiber, den es nicht gibt

    1. Mit staatlicher Hilfe in Krisenzeiten und, das ist genau so wichtig, der treuen Kundschaft, sollte es möglich sein. Damit nicht alle Innenstädte Kopien der anderen sind, mit den gleichen anonymen Ladenketten. Danke, Bettina, liebe Grüße zurück und guten Start in die Woche.

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    1. Dolce far niente funktioniert immer gut hier. 😉
      Zum Glück gibt es zumindest bei uns auch viele gute Ferienspielangebote. Früher dachte ich, ich müsste meinen Job an den Nagel hängen.

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      1. Haha. Interessante Interpretation. Die langen Ferien sind ein Relikt aus alten Zeiten. Aber hätten die dann nicht eher im Frühjahr, zum Bestellen, oder im Herbst, zur Ernte, sein sollen? 🤔

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  1. Es sollte viel mehr Gentiles geben, liebe Anke. Denn sie erkennen nicht nur was die Kund:innen brauchen, sondern auch, was sie wirklich wollen. Wie schön, dass ihr den Laden mit einer ganz besonderen Sonderanfertigung von Herrn Gentile verlassen konntet. Deine Tochter ist damit sicher DER Star in der Klasse. 😃 Liebe Grüße, Eva

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    1. Liebe Eva, du hast Recht, es sind zu wenige, aber es gibt sie. Wir sind treue Kunden bei Signor Gentile, so, wie wir immer bei Signora Langsam unser Eis aßen. Da nimmt man auch einen kleinen Umweg gern in Kauf. Sicher habt ihr auch den ein oder anderen besonderen Nachbarschaftsladen. War es der Pizza- oder Döner-Mann, bei dem es zum Essen auch immer noch einen Alltags- oder Familientipp dazu gab? Du hattest auch mal so etwas geschrieben, erinnere ich mich. Liebe Grüße nach Francoforte!

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      1. Liebe Anke, du hast echt ein Wahnsinnsgedächtnis. Unser ehemaliger Döner-Mann war es, der uns immer mit Ratschlägen zur Seite steht. Immer, wenn wir im ehemaligen Stadtviertel sind, besuchen wir ihn natürlich und bestellen einen Döner. Wie sagt man so schön, man kauft nicht nur das Produkt, sondern auch den zuvorkommenden Service der wunderbaren Verkäufer:innen. Liebe Grüße nach Norditalien 💛

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      1. Natürlich weiß ich um deinen Lila-Tick. Aber die Farbe ist in der Geschichte ja nur ein zufälliges Detail, um das es gar nicht geht. Meine Tochter will immer gerade das andere. 😉

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  2. Ein Glück, dass ihr euren Signore Gentile habt. Ich hoffe er bleibt euch noch lange erhalten!

    In Italien gibt es noch mehr dieser kleinen Schreibwarengeschäfte als hier bei uns – bilde ich mir zumindest ein. Wenn ich in Italien bin, kaufe ich mehr Notizbücher als ich brauche. Ich kann einfach nicht widerstehen…

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  3. Ich muss jetzt grinsen. Der nächste Kunde bekommt den seriös aussehenden Stift und darf pinklilagrün schreiben. Das find ich schön.
    Wir haben das manchmal beim Büromaterial. Die neuen sind immer ganz erstaunt, dass sie bei uns zwischen liniert und kariert aussuchen dürfen.

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