Neuer Blick auf alte Mauern

Es ist ein altbekanntes Phänomen, dass die heruntergekommensten Gebäude in Italien südländischen Flair und einen unwiderstehlichen Charme ausstrahlen. Natürlich gilt dies besonders für Betrachter mit gutgelauntem, von Italienverliebtheit verklärtem Blick. Aus Urlaubsperspektive. Wenn man in Italien lebt, zumal in einer touristisch weniger reizvollen Gegend, kann diese Betrachtung schnell anders ausfallen. Und doch passiert es auch mir, solange ich nicht von A nach B hetze, sondern einen entspannten Spaziergang unternehme, dass ich alte Mauern in einem besonderen Licht sehe. Es sind Mauern, die ihre beste Zeit schon hinter sich haben. Der Lack oder besser gesagt der Putz ist ab. In einem besonderen Moment, vorzugsweise kurz vor Sonnenuntergang, bleibe ich plötzlich verzückt stehen und mache ein Foto. So entstand irgendwann auch das Titelbild zu diesem Beitrag, beim Aufstieg zum Sacro Monte. Ich wette, an einem verregneten Tag hätte ich nicht einmal den Blick gehoben, wäre das Gelbgold der Hauswand nur ein schmutziges Ocker gewesen. Dass man freilich auch bei schlechtem Wetter etwas Zauberhaftes entdecken kann, erlebte ich auf unserem Neujahrsspaziergang am vergangenen Sonntag. Kommt doch einfach noch einmal mit, so kann ich es euch zeigen:

Weil wir das Auto nach Silvester lieber stehen lassen, und auch, weil das Wetter grau und trübe ist, begnügen wir uns am ersten Tag des Jahres mit einem Spaziergang bei uns um die Ecke. Wer sagt, dass es inmitten von Altbekanntem langweilig ist? Manchmal lohnt es sich, genau dort einmal näher hinzuschauen, wo man viele Male achtlos entlanggelaufen ist. Eines der alten Häuser in der Siedlung gegenüber hält ein nettes Detail für mich versteckt. Auch diesmal bin ich beim Laufen vertieft in fantasievolle Vorstellungen, was man aus den recht hinfälligen Gebäuden renovierungstechnisch herausholen könnte. Oder doch gleich abreißen und etwas Neues errichten? Um ein Geschäft zu eröffnen. Oder ein Café. Wer hier regelmäßig mitliest, erinnert sich vielleicht an meinen Text über das Fehlen von urbanen Anlaufpunkten in unserer kleinen Siedlung. Ich würde gern bis hierher, in den anderen Ortsteil spazieren, in der Aussicht auf einen guten Espresso und ein nettes Gespräch. An diesem ersten Tag des Jahres laufen wir sogar bei Nieselregen hierher. Und das, obwohl ich erst am Vortag meinen Termin bei Rosi hatte. Als der Niesel plötzlich zu Regen wird, bestehe ich darauf, uns einen Moment lang unterzustellen. Und so geschieht es, dass ich die Inschrift über der Tür des kleinen Häuschens entdecke. Sie ist bestimmt für mich angebracht worden, denn da steht in Deutsch:

„Ich tauschte es nicht mit dem schönsten Schloss.“

Es wird vermutlich einige Überzeugungsarbeit kosten, hier etwas Neues zu bauen. Ich versuche es lieber erst gar nicht, sondern laufe schmunzelnd und mit einem Anflug schlechten Gewissens nach Hause.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

27 Kommentare zu „Neuer Blick auf alte Mauern

    1. Und man muss auch mal näher herantreten. Der Regen war eine gute Gelegenheit dazu. So war er zu etwas nütze (wenn er mir schon die Frisur ruiniert hat 😂). Liebe Grüße an dich!

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  1. Mhm ja, ich mag solche Geisterhäuser auch und stelle mir vor, wer/was da wohl mal so war, aber wenn sie 20/30 Jahre unbewohnt sind, ist das kein schöner Anblick mehr. Die Inschrift sollte man konservieren, den Rest weghauen und was Neues bauen, was Sinn macht

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    1. Es kommt oft auch auf die eigene Verfassung an, wie man die alten Mauern betrachtet. Und auf das Licht, die Atmosphäre, die Begleitung, mit der man unterwegs ist. Jedenfalls ist es nie verkehrt, das Schöne am Alten zu sehen. Renovieren kann man dann immer noch. 😉

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  2. Ich komme etwas spät mit meinem Kommentar, na ja, aber ich muss ihn schreiben, denn mir hat dein Text zum Neujahrstag so gut gefallen und auch das, was du zur morbiden Schönheit der italienischen Städte schreibst. Ich habe ja auch diese Italienverliebtheit und nehme nur selten den kritischen Außenblick ein – nur manchmal, und das ist tatsächlich dann, wenn das Wetter mich nötigt und ich einfach nicht am schlechten Zustand von Gebäuden vorbeisehen kann. Bei vielen dieser Häuser würde mich interessieren, wie die Bewohnerinnen und Bewohner das sehen – ob sie auch verliebt sind in ihr Haus, ob es ihr persönliches „Schloss“ ist oder ob sie darunter leiden, dass es in die Jahre gekommen ist.
    Ich wäre allerdings sehr traurig, wenn dieser Häuser und der besondere Charme verschwinden würden.
    Ich wünsche dir einen guten Start ins neue Jahr.
    Roswitha

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    1. Vielen Dank, Roswitha, ich freue mich auch über „verspätete“ Kommentare. Stimmt, die Sache hat immer zwei Seiten, je nachdem wer sie aus welcher Perspektive betrachtet, welches Wetter ist und in welche Stimmung herrscht … Leider ist die Restaurierung alter Gebäude oft teurer, als neue zu bauen. Schön, dass es doch enthusiastische Eigentümer gibt, die sich um die alte Bausubstanz kümmern und instand setzen, auch wenn es womöglich länger dauert, weil nicht sofort das Geld da ist. Danke, liebe Grüße nach Berlin und dir auch einen guten Start! (Im Januar kann man den auf jeden Fall noch wünschen.😊 )

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