Provinz ohne Vaterland

„Allerdings irrten die Italiener, wenn sie glaubten, sie würden von manchen Südtirolern grantig behandelt: Tatsächlich verspottete man hier auch die Bayern als Saufbrüder, die Wiener als Schnösel und die Preußen als Angeber. Doch egal wie, Fakt blieb, und nur darauf kam es an: Die Touristen brachten das Geld, und Geld scherte sich nicht um Sprachen, um Grenzen, um die Historie.“

Francesca Melandri

Eva schläft*, Roman, Verlag Klaus Wagenbach, Wagenbachs Taschenbuch 805, 11. Auflage 2022. Seite 313.

Als ich mich Anfang des Jahrtausends mit der Idee befasste, in Italien nach einer Arbeit Ausschau zu halten, kreisten meine Gedanken auch um diese Gegend im äußersten Norden. In Bozen hätte ich als Deutschsprachige bessere Chancen gehabt, so dachte ich, als im Rest des Stiefels mit meinem noch sehr abenteuerlichen Italienisch. Damals ahnte ich nicht, dass ich viel größeres Glück in der Lombardei haben würde. Dort fand ich einen kreativen Job als deutsche Texterin und lernte „richtiges“ Italienisch wie nebenbei. Nach Südtirol kam ich trotzdem viel öfter als in andere Regionen, und das hat auch wieder ein bisschen mit der Sprache zu tun. Südtirol, was Alto Adige heißt, wenn man es vom Süden aus betrachtet, ist das Mekka der deutschen Italienurlauber, die es nicht allzu ausländisch haben wollen. Zu denen gehören auch meine Schwester und ihr Mann, und so kam es, dass ich in meinem allerersten Italienurlaub, der uns bis auf die Insel Elba führte, im schönen Südtiroler Land Zwischenstopp einlegte. Dort war es leicht gewesen, telefonisch ein Zimmer zu reservieren. Während wir auf dem Hinweg in Kaltern übernachteten, war es auf dem Rückweg ausgerechnet Dorf Tirol. Jeschesna!** Ich werde nie diesen bilderbuchähnlichen Ort vergessen, mit all den Rüschen und Dekorationen und mit diesem wie gebügelten, vermutlich grün angestrichenen Rasen. Dort schwante mir, dass es nicht nur die Zweisprachigkeit war, die den Norden vom übrigen Land trennte, sondern vor allem die Kultur. Später, als ich selbst schon eine italienische Familie gegründet hatte, fuhren wir immer mal wieder auf ein paar Tage hoch in die Gegend um Bozen und den Kalterer See, um uns dort mit Verwandten aus Deutschland zu treffen. Das tun wir auch weiterhin. Mein Mann frotzelt immer, dass ich mich um die Buchung kümmern und mich als deutsche Touristin ausgeben solle. Wenn er als Italiener anriefe, würde man womöglich eine Ausrede finden oder gleich auflegen. Vor unserem Südtirol-Ausflug im letzten Mai bestand ich darauf, dass er telefonierte. Mein italienischer Gatte ist, was geschicktes Verhandeln und Vorteile herausschlagen betrifft, il furbo, der Clevere. Nein, man legte nicht auf. Der Gastwirt verwies freundlich auf seine italienisch viel besser als er sprechende Frau, und als die zurückrief, war sie froh, dass sie am Ende mit mir sprechen konnte. Auf Deutsch. Sonderbehandlung gab es also nicht, und die pünktliche Abreise bis allerspätestens zehn Uhr am Sonntagmorgen wurde mir freundlich, aber bestimmt mitgeteilt. Es muss eben alles seine Ordnung haben, und was Ordnung ist, bestimmt der Gastgeber. Dafür würde man uns in der Früh die Brötchen an die Tür bringen. „Nein danke, Frühstück ist uns nicht so wichtig“, sagte ich höflich und dachte, dass es auch viel zu stressig wäre, wenn wir so früh raus müssten. Wir gingen dann zu meiner Schwester, die uns um zehn Uhr in ihrem Apartment ein zünftiges deutsches Frühstück servierte. So werden Kulturunterschiede durch Familienbande einfach ausgeglichen.

Nun habe ich vor lauter Plauderei noch gar nichts über das wunderbare Buch von Francesca Melandri geschrieben. „Eva schläft“ war ihr erster Roman und ist bereits 2010 erschienen. Wie ihr oben seht, habe ich die 11. Auflage der deutschsprachigen Taschenbuchversion gekauft. Muss ich da noch Werbung machen? Nein, das muss ich nicht. Ich will. Selbst wer sich bisher nicht für das besondere Schicksal dieser Region und seiner Bewohner interessiert hat ‒ geprägt von unglaublichem politischem Hickhack seit der Zuschreibung an Italien nach dem ersten Weltkrieg, mit dramatischer Zuspitzung in den sechziger Jahren ‒ wird durch die fantastische Erzählung unweigerlich hineingezogen und dankbar sein, an diesen spannenden Entwicklungen lesend teilhaben zu dürfen. Melandri erzählt dabei immer aus neutraler Perspektive, die Motive der einen wie der anderen Seite vorurteilsfrei ausleuchtend, Verständnis und Respekt fördernd. Natürlich werden die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen als Hintergrund einer fiktiven Lebens- und Liebesgeschichte erzählt. Und auch diese fasziniert auf ganz besonders unterhaltsame und spannende Weise. Pures Lesevergnügen, in jeder Hinsicht.

Aufmerksam auf Francesca Melandri wurde ich durch Barbara von der Kulturbowle. Vorher habe ich bereits den von ihr in der deutschen Fassung „Über Meereshöhe“ rezensierten Roman „Più alto del mare“ in Originalsprache gelesen. Mille grazie, Barbara! Schade, dass es offensichtlich (noch) nicht mit einer Verfilmung von „Eva schläft“ geklappt hat, denn ich würde auch meinem nicht lesenden italienischen Gatten diesen Stoff gerne „unterjubeln“. Zu meinem Erstaunen wusste selbst meine Tochter, die ich während der Lektüre auf die historischen Geschehnisse in Alto Adige/Südtirol ansprach, von all dem leider gar nichts. Sie geht in die „Seconda Superiore“ (entspricht der zehnten Klasse Gymnasium). Vielleicht behandeln sie die verschiedenen Aspekte der italienischen Gegenwartsgeschichte erst später? In jedem Fall werde ich ihr den Roman irgendwann in die Hand drücken. Vielleicht als Lektüre auf einer unserer nächsten Reisen in die „Provinz ohne Vaterland“, wie es auf dem Buchrücken so treffend heißt.

Ob der Kalterer See nun besonders kalt ist, wie es der deutsche Name vermuten lässt, oder aber ausgesprochen warm, caldo, wie es seine italienische Bezeichnung Lago di Caldaro nahelegt? Er ist warm, caldo, so heißt es. Wir selbst haben noch nie in ihm gebadet. Aber das sollten wir irgendwann einmal tun. Am besten versteht man doch die Welt, wenn man selbst in sie eintaucht und dazu jedwede Vorurteile über Bord wirft.

*Werbung, wie immer aus freien Stücken, unverlangt und unbezahlt. **Südtirolerisch für „Ach du meine Güte“

Titelbild: Marktplatz in Kaltern. Bild unten: Blick auf den Kalterer See.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

12 Kommentare zu „Provinz ohne Vaterland

  1. Cara Anke! Mille grazie bzw. tausend Dank fürs Verlinken, das mich riesig freut. Und um so mehr freut es mich, dass Du die Bücher der Autorin auch so großartig findest wie ich. „Eva schläft“ war das erste, das ich von ihr gelesen habe – lange vor meiner Bloggerinnenzeit – und ich fand es einfach grandios und wie Du schreibst lernt man bei der Lektüre wirklich viel über die Geschichte Südtirols. Aber auch „Über Meereshöhe“ und „Alle außer mir“ sind auf ihre Art besonders und sehr lesenswert.
    Herzliche Grüße und einen guten Wochenausklang bzw. morgen einen entspannten Start ins Wochenende! Buona serata! Barbara

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    1. Liebe Barbara, gern geschehen. Es warst schließlich du, die mich auf die Spur gebracht hat. „Alle außer mir“ ist bereits bestellt und auf dem Weg zu mir. Danke, dir auch einen guten Start ins Wochenende!

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  2. Liebe Anke, danke für den Buchtipp. Ich werde das Buch gelegentlich kaufen, Du hast mich neugierig gemacht. Ich finde gerade die Verschmelzung der beiden Kulturen reizvoll, auch wenn das Italienische dabei wirklich zu kurz kommt. Natürlich kenne ich das Südtirol bei weitem nicht so gut wie Du, es kann also durchaus eine touristische Fehleinschätzung meinerseits sein. Dann bitte ich um Entschuldigung… Liebe Grüße, Elisa

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    1. Liebe Elisa, es freut mich, dass ich dein Interesse wecken konnte. Es wird dir sicher gefallen! Ich selbst habe es ruckzuck verschlungen, weil es so interessant und gut geschrieben war. Das Österreichische ist in Südtirol tatsächlich sehr verwurzelt und prägend, das empfinden wir auch so. Aber angesichts der Geschichte nur zurecht. Danke und herzliche Grüße an dich!

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  3. Danke für den interessanten Bericht! Ich als interessierter Onomastiker habe gleich recherchiert, woher der Name Kaltern wohl stammt. Er geht wohl auf ein romanisches caldara mit der Bedeutung „Kessel, Heizkessel“ zurück. Also „warme Geländesenke“ – das würde auch zur recht hohen Temperatur passen.
    Viele Grüße nach Italien!

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    1. Ja, die alten Römer, die stecken ja am Ende immer dahinter. 😂 Ausgesprochen warm ist diese Senke tatsächlich. Wir haben schon mehrmals den Rundwanderweg um den See begonnen, um nach kurzer Zeit, unter der Sonne stöhnend, aufzugeben, und das war nicht im Hochsommer. Auch Bozen gehört in den Sommermonaten zu den wärmsten Städten Italiens. Danke für den Kommentar und schöne Grüße nach Berlin!

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