Große Gefühle

Beinah hätte ich mich dieses Mal nicht für den European Song Contest interessiert. Den kann man nicht jedes Jahr verfolgen, zumal es immer so spät oder besser gesagt früh am Morgen wird, eh die Entscheidung über den Sieger fällt. Ausgerechnet die deutsche Verwandtschaft brachte mich doch wieder in die Spur. An einem Samstagabend Ende April piepte plötzlich das Handy. Meine Schwester schickte mir ein Foto ihres Fernsehgerätes. Natürlich ging es ihr nicht um den Fernseher an sich. Es ging um den Sänger, der im Moment der Aufnahme den Bildschirm zierte. „Der singt im ZDF gerade von Musica, kennst du ihn?“, dazu ein Smiley. Und ob ich den kannte. Mir wurde warm ums Herz und ich fand es ein bisschen aufregend, dass da im fernen Dresden meine Musik spielte, ein Stück unseres Lebens bei ihnen im Wohnzimmer klang. Meine Schwester sah „Die Giovanni Zarrella Show“, und es trat dort tatsächlich unser Marco Mengoni auf. Mit dem Titel, mit dem er das diesjährige Festival von Sanremo gewonnen hatte und mit dem er im Mai in Liverpool antreten würde. Ich klärte sie umgehend auf und versprach, mir seinen Auftritt im deutschen Fernsehen in der Mediathek anzusehen.

Zwei Wochen später saß ich selbst vor dem besagten Fernseher in der Dresdner Wohnstube. Da an jenem Abend auf allen Kanälen nur König Charles aus der Flimmerkiste grüßte, zückte ich das Smartphone und suchte nach … genau: meiner Musica Italiana. Lacht nicht, aber die fehlte mir an diesen Tagen, so schön es in den frühlingshaften sächsischen Gefilden und mit meinen Lieben auch war. Dabei stolperte ich über ein Interview mit Marco Mengoni, das von einem ESC-Reporter auf Englisch geführt worden war. Die Italiener sind bekanntlich nicht gerade berühmt für ihr interviewsicheres Englisch, aber alle Achtung, Mister Mengoni schlägt sich locker und lässig. Und vor allem: absolut sympathisch! (Hier könnt ihr euch die Unterhaltung anschauen.) In jenen Minuten wurde mir bewusst, dass ich dem Künstler bislang Unrecht getan hatte. Ich kannte seine Songs. Ich hörte im letzten Jahr besonders gerne „No Stress“, bereits in einem Blogbeitrag zitiert, oder im Sommer zuvor „Ma stasera“. Aber ich hatte den Sänger noch nie im Gespräch oder abseits der Bühne erlebt, hatte keine Ahnung, wie er sich gibt. Die in Dresden auf dem Sofa war eine angenehme Bekanntschaft, die längst fällig gewesen war.

Und so kam es, dass ich wieder Feuer fing und dem ESC-Finalabend mit Vorfreude entgegenfieberte. In einem Kommentar, ich glaube es war unter dem Video der Zarrella Show, formulierte ein deutscher ESC-Fan sinngemäß: „Ihr müsst euch den ESC ansehen, sonst verpasst ihr Gefühle, die ihr sonst nie empfinden würdet.“ Stimmt! Wer den ESC schaut, der kann herzhaft lachen, gemein lästern, sich lautstark aufregen, die Ohren zuhalten oder verständnislos mit dem Kopf schütteln. Der kann aber auch mit allen Sinnen in die musikalische Vielfalt eintauchen, die fantasievollen Kostüme bestaunen, die fantastische Show genießen. Und ‒ zu denen gehöre ich ‒ heimlich mitsingen und mitfiebern. Für den eigenen Beitrag. Ihr werdet sagen: Die hat gut reden, die Italiener schneiden immer glänzend ab. Stimmt, und dabei ist es noch dazu egal, ob es sich um drei in die Unterhaltungsmusik verirrte Opernsänger, aufstrebende Skandal-Rocker oder gestandene Popsänger*innen handelt. Liegt es nun daran, dass sie einfach gut singen? Ist es die Sprache, die keiner versteht, aber alle so schön finden? Oder punkten sie am Ende nur, weil ihnen als Italiener sowieso die Herzen zufliegen? Ich meine, bei Marco Mengoni kommt alles zusammen. Der Mann kann singen, er braucht keine apokalyptische Bühnenshow, kein Konfetti und keine hämmernden Drums. Selbst wenn man den Text nicht versteht, kommt die Message an und trifft mitten ins Herz. Er steht einfach da und singt in dieser wohlklingenden Sprache und mit seiner starken Stimme von sich und von dem, was uns alle betrifft: vom Leben. Diesmal von den zwei Leben („Due Vite“), dem alltäglichen und dem in der Nacht, in unseren Träumen.

Hier noch einmal für euch: Marco Mengoni – DUE VITE, Platz Vier beim ESC 2023 in Liverpool:

Titelbild: Symbolbild von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

15 Kommentare zu „Große Gefühle

  1. Ich bin weder für noch gegen den Songcontest. Mittlerweile schmunzel ich über die Leute, die sich noch über den Songcontest echauffieren. Für mich ist er einfach da, ich nehme ihn halt hin.
    Den gestrigen hatte ich so gut wie gar nicht auf dem Schirm gehabt.

    Die vergangenen Jahre bin ich manchmal länger vorm Fernseher gesessen und habe die gefühlt ewige Punktevergabe mitverfolgt, vorher musste ich mir einen Hauptabendfilm auf einem anderen Sender ansehen.

    Ich glaube, nur einen einzigen Songcontest hatte ich mir von Anfang bis zum Schluss angesehen. Das war 1998, als Guildo Horn mit seinem „Piep, piep, piep“ für Furore sorgte und wir alle diese berühmten Worte kalauerten.

    Wenn ich mir die Einschaltquoten und das große Interesse ansehe, dann ist der Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie der Songcontest ursprünglich hieß, eine Erfolgsgeschichte und begeistert die Menschen. Es steht ihnen zu, für ein paar Stunden vom Alltag abschalten zu können und die Möglichkeit zu haben, viele verschiedene Künstler aus Europa (zuzüglich Israel und Australien) an einem langen Abend kennenzulernen.

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    1. Ich habe früher in Deutschland auch keinen Bezug zu dem Event gehabt, eigentlich erst seit Italien wieder dabei ist, das war 2011. Meinem Mann und mir gefiel es, das Spektakel zu verfolgen und ich glaube, zunächst drückte ich für Deutschland die Daumen und er für Italien. Mittlerweile bin ich italienisiert, was die Musik angeht. Das wird jedem klar, der hier mitliest. 😀 Die Punktvergabe ist übrigens nicht mehr so lang, da nur noch die 12 Punkte angesagt werden, nicht mehr die fünf besten Platzierungen pro Land.

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  2. Liebe Anke, der italienische Beitrag hört sich sehr musikalisch und schön an. Ich habe den ESC nicht gesehen, mir aber deinen Link angehört. 🙂
    Congrats für Platz4
    Der deutsche Beitrag war abscheulich und ist zu Recht auf dem letzten Platz gelandet. Auch wenn ich die anderen Beiträge nicht gehört habe, kann es sicher keinen gegeben haben, der noch gruseliger war. :-/
    Schönen Sonntag und liebe Grüße Bea

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    1. Liebe Bea, ich muss sagen, dass ich diesmal fest daran glaubte, dass Deutschland besser abschneiden würde, so im Mittelfeld. Da lag ich falsch, das war zu sehr Nische. Aber Marco war fantastico, wie wir es von ihm gewohnt sind. 😍 Liebe Grüße und gute Reise in die Jupiter Berge!😉

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    1. Nicht wahr. Und er strahlt so viel Sympathie aus, ist kein bisschen exaltiert, wozu Superstars (und das ist er in Italien) oft tendieren. Liebe Grüße an dich!

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  3. Dieses Jahr habe ich ihn verpasst, den Songcontest und dank deines Artikels, liebe Anke, ärgere ich mich ein bisschen über mich selbst. 😄
    Marco Mengoni ist ein ganz toller Sänger; die Texte, die Stimme, das Aussehen (das bleibt unter uns 😉) – ein Rundum-Sorglos-Paket. Kein Wunder, dass Italien sich seltenst mit den niederen Plätzen im Ranking begnügen muss. Vielleicht sollte Giovanni Zarella einmal auf Italienisch für Deutschland trällern? Ob wir dann eine Chance hätten? 😃 Viele Grüße in den Süden, Eva

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    1. Das solltest du mal vorschlagen. Einen Versuch ist es wert, schlimmer wird’s nimmer 😉.
      Marco kommt übrigens auch nach Frankfurt Ende Oktober …
      Danke und liebe Grüße in den eisheiligen Norden, liebe Eva!

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      1. Das mache ich! 😄
        Und dass Marco nach Frankfurt kommt, sind ganz wunderbare Nachrichten. 😍 Liebe Grüße in den Süden und einen guten Wochenstart, liebe Anke!

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    1. Meinst du? Also da kann ich nicht mitreden, ich bin erst seit 2011 mit Italien „dabei“. Die DDR trat ja auch nicht an, was schade ist, denn wie im Sport wäre Deutschland so womöglich besser vertreten gewesen? 😉
      Als Nicole 1982 gewann, mussten wir in der Schule in der Politdiskussion den Songtext analysieren. „Ein bisschen Frieden“, so ein Schwachsinn, hieß es. Entweder Frieden, für den der Sozialismus steht, oder Krieg, wie er im Kapitalismus üblich ist. Noch größeren Schwachsinn fand ich, dass wir über eine Veranstaltung diskutieren mussten, die wir ja gar nicht hätten sehen dürfen. Bei uns zuhause lief tatsächlich kein Westfernsehen und ich wusste nicht, wovon die da überhaupt reden.

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      1. Oh, das ist ja eine interessante Interpretation des damaligen Songs! Wirklich interessant, auf der Grundlage einer im Land nicht ausgestrahlten Fernsehsendung zu diskutieren.

        Und mit gedopten Sängern hätte es sicher zu mehr als den deutschlandtypischen null Punkten gereicht. 😉

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