„1. Mai, wir sind dabei.“ So hieß es in meiner Kindheit und Jugend in der DDR. Natürlich war ich dabei, marschierte aber nicht mit der Schulklasse in Reih und Glied an der Ehrentribüne vorbei, sondern durfte mit dem Tanzensemble privilegiert aus der Reihe tanzen. So entging ich dem Winken mit zugeteilten Wink-Elementen ebenso wie der Gefahr, ein Pappschild mit kämpferischer Losung an den Kopf zu kriegen. Einer Freundin schlug bei einem solchen Aufmarsch dereinst ein „Alles zum Wohle des Volkes“ vor die Stirn, woraufhin sich ihr Wohlsein für diesen Tag erledigt hatte. Von solchen Missgeschicken abgesehen, war die jährliche Maidemonstration ein Spaziergang. Wir mussten nicht kämpfen. Der Arbeitsplatz war sicher, wenn auch vielleicht nicht der, den wir uns erträumten. Aber zum Träumen eignen sich romantische Orte (notfalls das heimische Sofa) ohnehin besser als die Straße.
Heute ist nichts mehr sicher, dafür jeder seines eigenen Glückes Schmied. Unser Kampf- und Feiertag der Werktätigen findet auf dem Sofa vor dem Fernseher statt. Wir schauen wie rund zwei Millionen anderer Italiener das seit 1990 jährlich stattfindende, von den führenden Gewerkschaften initiierte Konzert zum 1. Mai in Rom, das sich auf seiner Webseite Primo Maggio Roma rühmt, „Il piu grande evento gratuito di musica dal vivo in Europa“, das größte kostenlose Live-Konzert in Europa zu sein. Und, sie haben es gut erkannt (oder mich gesehen), denn sie schreiben weiter: Es ist „ … ein Format, dem das Kunststück gelingt, sowohl den Teenager, der vor der Bühne tanzt, als auch den erwachsenen Zuschauer, der bequem zu Hause vor dem Fernseher sitzt, einzubeziehen.“
Ich freue mich auf einen Konzertmarathon vom frühen Nachmittag bis zum späten Abend mit der aktuellen Musica „Made in Italy“. Gespielt für Europa, wohlgemerkt. Das Motto der Veranstaltung lautet dieses Jahr: „Costruiamo insieme un’Europa di pace, lavoro e giustizia sociale“ (Bauen wir gemeinsam ein Europa des Friedens, der Arbeit und der sozialen Gerechtigkeit). Da baue ich gerne mit, zumal ich es daheim im Trocknen gemütlich habe, während es in Rom den ganzen Tag regnen soll.
Umberto Tozzi, der 72-jährig in diesem Mai seine große Abschiedstournee antritt, wird heute nicht auf der Bühne stehen. Dabei hat er mit dem Welthit „Ti amo“ nicht nur das im Ausland am meisten missverstandene Liebeslied aller Zeiten geschrieben, sondern auch den ultimativen Song zum 1. Mai. Der untreue Mann kehrt zur betrogenen (Ehe-)Frau nach Hause zurück, die, so meint er, sogar am Bügeln seiner Hemden Freude hat, schließlich singt sie dabei. Ob mit „guerriero di carta igienica“, dem Klopapierkrieger, nur „Scheiβkerl“ gemeint ist, wie Tozzi vor einigen Jahren der Augsburger Allgemeinen erklärte? Es bleibt unserer Fantasie überlassen. Die Textzeile „Primo Maggio, su coraggio!“ („1. Mai, nur Mut“ oder „1.Mai, Kopf hoch!“) wird jedenfalls in verschiedenen Interpretationen immer wieder gern zitiert. Im Lied ist es der Feiertag, an dem der Mann seiner Frau gegenüber keine Ausrede hat, nicht daheim zu sein. Also geht er zu ihr und bittet um Vergebung, statt noch länger bei der Geliebten zu bleiben. Gerade mit dieser Zeile wird Tozzis Hymne auch außerhalb des ursprünglichen Kontexts lange aktuell bleiben, denn von einem „Kopf, hoch!“ fühlen sich Arbeitende und nach Arbeit Suchende gleichermaßen angesprochen. Irgendwas läuft immer falsch, da helfen keine Wink-Elemente und keine Popkonzerte.
Neugierig auf die Interpretation des Songtexts von „Ti amo“? Hier fand ich eine lesenswerte Textanalyse. Naturalmente in italiano, aber man kann es sich leicht mit einem der gängigen Programme übersetzen lassen.
Titelfoto: Symbolbild von Pexels.
Hab ganz viel Spaß 🎵😉👍🎶
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Vielen Dank, liebe Bea.
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Was für eine super Veranstaltung! Am schönsten finde ich es in Italien, dass die (Musik-)Veranstaltungen es noch immer schaffen, alt und jung zu versammeln. Eben so wie “Wetten, dass…?!” damals. 😃 Hab einen feinen Feiertag und liebe Grüße, Eva
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Danke, liebe Eva. Es wird spät heute, aber zum Glück ist bald Wochenende! 😉
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Nach dem Lesen dieses Beitrages fiel mir ein, dass auf 3sat „Pop Around The Clock“ laufen könnte, aber anscheinend hat der Fernsehsender diesen Konzertreigen nur mehr auf den 31. Dezember reduziert.
Mit Umberto Tozzi verbinde ich nur sein anderes, auch berühmtes Lied „Gloria“ und nach der Lektüre Deines interessanten Beitrages frage ich mich, ob das Lied auch missverstanden wird? Ich werde mich mal auf die Suche machen.
Übrigens, ich musste am 1. Mai immer mit meiner Mama mitmarschieren. Ich erinnere mich, dass ich einmal aus diesem Anlass eine Friedenstaube basteln musste. Inspiriert von Frau Elster (also die eine Hälfte von Herr Fuchs) malte ich noch eine Halskette und Wimpern an meiner Friedenstaube. Zum Glück wurde niemand zur Rechenschaft gezogen…
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Das war bestimmt eine besonders schöne Friedenstaube, ich glaube nicht, dass da jemand etwas gegen dich kleine Künstlerin gesagt hätte. 😍
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Man musste einen guten Draht zu dem Lehrer haben, der für die Ausgabe der Winkelemente verantwortlich war. Kam man ungeschoren davon, d.h. hatte man keines zu tragen, hatte man mit ein wenig Mut die Gelegenheit, vor dem Vorbeidifilieren an der Tribüne, besetzt mit wichtigen Persönlichkeiten der Stadt, auszuscheren und die Maidemonstration für sich vorzeitig zu beenden. Erster Mai, ich bin dabei. War ich in der POS immer, aber nicht immer bis zum Schluss 😉. Schöne Erinnerung, liebe Anke. Danke schön sagt Bettina 🌺
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Gern geschehen. Ja klar, das eher Ausbüchsen kenne ich auch. Jede Ausrede war gut. 😉
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Jetzt hast du mir aber einen ganz schönen Ohrwurm verpasst! Das ist dir hoffentlich klar. 😉
Und das Video plus Outfit sind natürlich der Hammer!
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Siehst du, diesen Ohrwurm habe ich jedes Jahr zum 1. Mai. Jetzt kannst du mitfühlen bzw. summen.
Ja, das Video ist ein echtes Highlight. Er hatte da auch eine recht eigenwillige Art, Luftgitarre zu spielen, ich musste zweimal hingucken. 😅 🙈
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Ja, das mit der Luftgitarre ist mir auch aufgefallen!!! Ich hätte jetzt fast „leider“ geschrieben. 😉
Alles in allem ein großartiges Zeitzeugnis!
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Da war die Video-Crew sicher arg gefordert.
Danke für den Ohr-Kriecher
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Na, und die Spezialeffekteabteilung erst. 😉 Bitte, gern geschehen.
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